Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 14.03.2003
Aktenzeichen: 9 TG 2894/02
Rechtsgebiete: HBO 2002, HBO 1993, HSOG


Vorschriften:

HBO 2002 § 54 Abs. 1
HBO 2002 § 72 Abs. 2
HBO 1993 § 62 Abs. 1 S. 1
HBO 1993 § 78 Abs. 2
HSOG § 3 Abs. 1
HSOG § 6
HSOG § 7
Der Bauaufsichtsbehörde obliegt es, nach pflichtgemäßer Abwägung der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden, ob sie von ihrer Befugnis, gegen eine ungenehmigte Nutzung oder ungenehmigte Veränderungen einzuschreiten, Gebrauch macht, wie sie davon Gebrauch macht und gegen wen sie vorgeht, wenn mehrere Personen für die ungenehmigte Nutzung oder Veränderung verantwortlich sind.

Das kann gemäß §§ 3 Abs. 1, 6 HSOG derjenige sein, der die Anlage formell rechtswidrig nutzt bzw. die Veränderungen formell rechtswidrig vorgenommen hat (Verhaltensstörer), oder der Eigentümer, der für den Zustand des Grundstücks und des Gebäudes verantwortlich ist (Zustandsstörer gemäß §§ 3 Abs. 1, 7 HSOG).

Gegen wen die Bauaufsichtsbehörde im Einzelfall vorgeht, liegt in ihrem Auswahlermessen.

Dies gilt auch für den Fall, dass als Gefahrenabwehrmaßnahme die Verpflichtung ausgesprochen wird, Bauvorlagen einzureichen (so auch Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2002, Art. 83 Rdnr. 314).


Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss

9 TG 2894/02

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Baurechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 9. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Teufel, Richter am Hess. VGH Dr. Fischer, Richter am VG Kassel Seggelke (abgeordneter Richter)

am 14. März 2003 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 24. September 2002 (Az.: 9 G 712/02[2]) abgeändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widersprüche der Antragsteller gegen die in den Verfügungen des Antragsgegners vom 15. Januar 2002 angeordnete Einreichung von Bauvorlagen wird wiederhergestellt. Ferner wird die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragsteller gegen die in den Verfügungen der Antragsgegnerin vom 15. Januar 2002 enthaltenen Zwangsgeldandrohungen angeordnet.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.000,-- € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den im Tenor dieser Entscheidung näher bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts Darmstadt ist gemäß § 146 Abs. 1 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie hat auch in der Sache Erfolg und führt zur Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen die bauaufsichtlichen Verfügungen des Antragsgegners vom 15. Januar 2002 eingelegten Widersprüche.

Widerspruch und Anfechtungsklage haben, soweit sie sich nicht gegen Verwaltungsakte in der Vollstreckung richten, regelmäßig aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 VwGO). Die Behörde kann jedoch ausnahmsweise die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bzw. der Klage dadurch beseitigen, dass sie nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung dieser Verfügung anordnet. Sie ist zu einer solchen Anordnung aber nur berechtigt, wenn die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten geboten erscheint. Die Behörde muss vor Erlass einer derartigen Anordnung einerseits die Interessen der Öffentlichkeit und eines etwaigen Beteiligten an einer sofortigen Vollziehung der Maßnahme sowie andererseits die entgegenstehenden Interessen des Betroffenen an dem Bestand der aufschiebenden Wirkung eines eingelegten Widerspruchs gegeneinander abwägen. Eine ähnliche Prüfung hat das Gericht anzustellen, wenn gemäß § 80 Abs. 5 VwGO um vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Verwaltungsaktes nachgesucht wird. Dem sogenannten "Stoppantrag" ist stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt, gegen den Widerspruch erhoben worden ist, offensichtlich rechtswidrig ist; in diesem Fall kann kein öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehung bestehen. Umgekehrt ist der Rechtsschutzantrag abzulehnen, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig und seine Vollziehung eilbedürftig ist. In allen anderen Fällen entscheidet bei summarischer Beurteilung des Sachverhalts eine reine Abwägung der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen, die für oder gegen die Dringlichkeit der Vollziehung sprechen, über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Auf die Eilbedürftigkeit der Vollziehung wegen der besonderen Wichtigkeit und Dringlichkeit, die auch falltypisch gegeben sein kann, kann nicht allein wegen der Belange des Betroffenen, sondern schon wegen der Wahrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses der Absätze 1 und 2 des § 80 VwGO nicht verzichtet werden. Die Regel bleibt, dass sich die Vollstreckung eines Verwaltungsakts, gegen den Widerspruch und Klage erhoben wird, an ein abgeschlossenes Hauptsacheverfahren anschließt.

Im Rahmen der in diesem Eilverfahren gebotenen summarischen Überprüfung erweisen sich die angegriffenen Verfügungen, in welchen den Antragstellern aufgegeben wird, betreffend das Grundstück A-Straße in J. Bauvorlagen für die Nutzungsänderung von Räumlichkeiten in eine Praxis für Neurologie und Psychiatrie, den Einbau einer Tür in die westliche Fassade des an die Straße "Alte Bergstraße" angrenzenden Schuppens, die Errichtung einer Überdachung im nordöstlichen Grundstücksbereich sowie die Errichtung einer Überdachung an der Ostseite des Wohngebäudes einzureichen, als offensichtlich rechtswidrig.

Es kann dahin gestellt bleiben, inwieweit die vorgenannten Maßnahmen zum Zeitpunkt des Ergehens der angefochtenen Verfügung bzw. zum heutigen Zeitpunkt, auf den es für diese Entscheidung maßgeblich ankommt, weil noch kein Widerspruchsbescheid ergangen ist, genehmigungspflichtig waren bzw. sind. Allerdings weist der Senat darauf hin, dass in Übereinstimmung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung davon auszugehen sein dürfte, dass die Voraussetzungen der §§ 61 Abs. 1 und 2, 78 Abs. 2 der Hessischen Bauordnung in der Fassung vom 20. Dezember 1993 (GVBl. I S. 655) insoweit vorliegen, als die Nutzung der entsprechenden Räume gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 HBO genehmigungspflichtig ist. Der Nachweis, dass die Nutzung als Arztpraxis auf der Grundlage einer früher erteilten Baugenehmigung ausgeübt wird, ist nicht erbracht. Soweit eine Büronutzung in den entsprechenden Räumlichkeiten genehmigt worden sein sollte - dies kann hier dahingestellt bleiben - wird dadurch eine Nutzung als Arztpraxis nicht gedeckt. An dieser Sachlage dürfte sich auch durch das In-Kraft-Treten der Hessischen Bauordnung vom 18. Juni 2002 (GVBl. I S. 274) - HBO 2002 - am 1. Oktober 2002 (§ 82 HBO 2002) nichts geändert haben. Gemäß § 54 Abs. 1 HBO 2002 bedürfen auch Nutzungsänderungen einer Baugenehmigung. Eine Ausnahme nach § 55 HBO 2002 in Verbindung mit der Nr. III 1. der Anlage 2 HBO 2002 dürfte nicht einschlägig sein.

Die Verfügung, Bauvorlagen für die vorumschriebenen Maßnahmen einzureichen, ist jedoch ermessensfehlerhaft ergangen. Wie sich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung des §§ 78 Abs. 2 HBO/72 Abs. 2 HBO 2002 ergibt, steht der Erlass einer derartigen Verfügung bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen im Ermessen der Bauaufsichtsbehörde. Ihr obliegt es, nach pflichtgemäßer Abwägung der Umstände des Einzelfalls zu entscheiden, ob sie von ihrer Befugnis, gegen eine ungenehmigte Nutzung oder ungenehmigte Veränderungen einzuschreiten, Gebrauch macht, wie sie davon Gebrauch macht und gegen wen sie vorgeht, wenn mehrere Personen für die ungenehmigte Nutzung oder Veränderung verantwortlich sind. Das kann gemäß §§ 3 Abs. 1, 6 HSOG derjenige sein, der die Anlage formell rechtswidrig nutzt bzw. die Veränderungen formell rechtswidrig vorgenommen hat (Verhaltensstörer), oder der Eigentümer, der für den Zustand des Grundstücks und des Gebäudes verantwortlich ist (Zustandsstörer gemäß §§ 3 Abs. 1, 7 HSOG). Gegen wen die Bauaufsichtsbehörde im Einzelfall vorgeht, liegt in ihrem Auswahlermessen ( vgl. dazu BayVGH, Urteil vom 23. Februar 1989 - Nr. 2 B 87.01834 -, BauR 1990, 202 m.w.N.; Weiss u. a., Das Baurecht in Hessen, Stand: August 2002, § 61 HBO Anm. 2.2.6). Dies gilt auch für den Fall, dass als Gefahrenabwehrmaßnahme die Verpflichtung ausgesprochen wird, Bauvorlagen einzureichen (vgl. Simon/Busse, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2002, Art. 83 Rdnr. 314).

Dem angegriffenen Bescheid vom 15. Januar 2002 lassen sich jedoch keinerlei Anhaltspunkte für eine nach dem oben Gesagten gebotene Ausübung des Störerauswahlermessens entnehmen. Entsprechender Überlegung hätte es aber bedurft, weil hier auf der einen Seite die Antragsteller als Eigentümer des Grundstücks A-Straße in J. als Zustandsstörer und auf der anderen Seite der Psychotherapeut B. als Mieter der Praxisräume bzw. Herr W. K. als Nutzer des übrigen Gebäudes und derjenige der die baulichen Veränderungen ausweislich der vorliegenden eidesstattlichen Versicherung vorgenommen hat, als Verhaltensverantwortliche in Betracht kommen. Vor dem Hintergrund des insofern gegebenen Zusammentreffens von Verhaltens- und Zustandsverantwortlichkeit hätte sich der Bauaufsichtsbehörde bei Beachtung der allgemein anerkannten Grundsätze zur sogenannten Störerwahl in der Begründung des Bescheides vom 15. Januar 2002 unter Darlegung der angestellten Erwägungen mit der Frage befassen müssen, was aus Behördensicht für die ausschließliche Inanspruchnahme der Antragsteller spricht. Dies ist nicht geschehen. Damit liegt bezogen auf die vorzunehmende Störerauswahl ein Fall des Nichtgebrauchs des Ermessens vor, wie er auch in der in der Beschwerdeerwiderung geäußerten Auffassung Ausdruck findet, dass es allein darauf ankomme, wer Eigentümer der baulichen Anlage sei.

Da die Anordnung des Sofortvollzuges keinen Bestand hat, ist auch die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die in den angegriffenen Bescheiden enthaltenen Zwangsmittelandrohungen anzuordnen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren folgt aus §§ 14 Abs. 1, 13 Abs. 1 Satz 2 VwGO und folgt der Streitwertfestsetzung erster Instanz.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).

Ende der Entscheidung

Zurück