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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 17.02.2004
Aktenzeichen: 9 TG 60/04
Rechtsgebiete: AufenthG/EWG, AuslG, VwGO


Vorschriften:

AufenthG/EWG § 1 Abs. 1
AufenthG/EWG § 1 Abs. 2
AufenthG/EWG § 12 Abs. 9
AuslG § 72 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 1
Widerspruch und Klage des Ehegatten einer unter den Personenkreis des § 1 Abs. 1 Nrn. 1 bis 4 AufenthG/EWG fallenden EU-Angehörigen entfalten gemäß § 12 Abs. 9 AufenthG/EWG, der § 72 Abs. 1 AuslG für unanwendbar erklärt, aufschiebende Wirkung, auch wenn der Verdacht besteht, dass die Ehe nur zum Schein zwecks Erlangung eines Aufenthaltsrechts geschlossen wurde.
Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss

9 TG 60/04

In dem Verwaltungsstreitverfahren

wegen Ausländerrechts

hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 9. Senat - durch

Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Dr. Teufel, Richter am Hess. VGH Dr. Fischer, Richter am Hess. VGH Schönstädt

am 17. Februar 2004 beschlossen:

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen vom 5. Dezember 2003 (Az.: 7 G 1336/03) aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass der unter dem Aktenzeichen VG Gießen 7 E 4928/02 geführten Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 7. März 2003 aufschiebende Wirkung insoweit zukommt, als in diesem Bescheid die vom Antragsteller beantragte Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis-EG abgelehnt wurde.

Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für Verfahren erster Instanz wie für das Beschwerdeverfahren auf jeweils 2000,-- € festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den im Tenor der vorliegenden Entscheidung näher bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts Gießen ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht den Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt.

Der Klage des Antragstellers gegen den vorliegend umstrittenen Bescheid des Antragsgegners kommt in dem Umfang, wie er aus dem Tenor des vorliegenden Beschlusses ersichtlich ist, die aufschiebende Wirkung des § 80 Abs. 1 VwGO zu. Da der Antragsgegner - und ihm folgend das Gericht erster Instanz - dies anders sieht und daher erkennbar nicht bereit ist, diese aufschiebende Wirkung zu beachten, hat der vorliegend zur Entscheidung berufene Senat diese Rechtsfolge durch Beschluss festzustellen.

Der Antragsteller, der die Staatsangehörigkeit von Bosnien-Herzegowina besitzt, ist mit einer portugiesischen Staatsangehörigen verheiratet, die zu dem Personenkreis nach § 1 Abs. 1 AufenthG/EWG zählt. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob es sich bei dieser Ehe - wie auch das Verwaltungsgericht annimmt - um eine bloße Scheinehe zur Erschleichung eines Aufenthaltsrechts des Antragstellers in Deutschland handelt. Im September 2001 beantragte der Antragsteller die Verlängerung der ihm im Jahre 1997 erteilten Aufenthaltserlaubnis-EG. Am 9. Dezember 2002 erhob er gegen den Antragsgegner Untätigkeitsklage nach § 75 VwGO, die beim Verwaltungsgericht Gießen unter dem Aktenzeichen 7 E 4928/02 anhängig ist. Mit Bescheid vom 7. März 2003 lehnte der Antragsgegner die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG ab, da das Aufenthaltsgesetz/EWG auf den Antragsteller wegen Vorliegens einer Scheinehe keine Anwendung finde. Gleichzeitig nahm er die im Jahre 1997 erteilte Aufenthaltserlaubnis rückwirkend zum Erteilungszeitpunkt zurück. Nach Erlass dieses Bescheids beantragte der Antragsteller im Klageverfahren mit Schriftsatz vom 11. März 2003, unter Aufhebung des Bescheids den Antragsgegner zu verpflichten, die ihm erteilte Aufenthaltserlaubnis-EG zu verlängern. Am 14. April 2003 begehrte er beim Verwaltungsgericht die Feststellung, dass seiner Klage gegen die vorgenannte Verfügung aufschiebende Wirkung zukomme, hilfsweise die Anordnung der aufschiebenden Wirkung.

Das Verwaltungsgericht lehnte im Verfahren zur Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes die vorgenannten Anträge ab. Der Antragsteller sei - so das Gericht - die Ehe mit einer portugiesischen Staatsangehörigen nur zum Schein eingegangen, um einen Aufenthaltstitel zu erlangen. Er habe nie eine eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau geführt. Er unterfalle daher auch nicht dem Personenkreis nach § 1 Abs. 1 und 2 AufenthG/EWG. Seiner Klage komme deshalb gemäß § 72 Abs. 1 AuslG keine aufschiebende Wirkung zu, da § 12 Abs. 9 AufenthG/EWG, der § 72 Abs. 1 AuslG für nicht anwendbar erkläre, nur für den Personenkreis nach § 1 Abs. 1 und 2 AufenthG/EWG gelte. Der auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung gerichtete Hauptantrag des Antragstellers könne daher keinen Erfolg haben. Gleiches gelte für den Hilfsantrag, mit dem der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung durch das Gericht erstrebe. Die Klage auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG werde nämlich voraussichtlich erfolglos bleiben, da der Antragsteller nur eine Scheinehe eingegangen sei und daher nicht zu dem Kreis der nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG Freizügigkeitsberechtigten gehöre.

Die Beschwerde des Antragstellers gegen diesen Beschluss, die er mit den bereits erstinstanzlich gestellten Anträgen verbindet und im Wesentlichen mit dem Hinweis auf die nach seiner Ansicht kraft Gesetzes eingetretene aufschiebende Wirkung begründet, hat Erfolg. Der Senat schließt sich der bereits vom Verwaltungsgericht zitierten und vom Antragsteller aufgegriffenen Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Hamburg an (Beschluss vom 2. Dezember 1999 - 3 Bs 402/98 -, NVwZ 2000, 1446 = InfAuslR 2000, 168 = EZAR 622 Nr. 35 = AuAS 2000, 62), wonach es für das Eingreifen des § 12 Abs. 9 AufenthG/EWG und damit für den Ausschluss des § 72 Abs. 1 AuslG ausreicht, dass es sich bei dem betreffenden Ausländer um den Ehegatten eines freizügigkeitsberechtigten EU-Angehörigen handelt, ohne dass es auf die Frage ankäme, ob die bestehende Ehe möglicherweise nur zum Schein geschlossen wurde, um ein Aufenthaltsrecht zu erschleichen (ebenso Kloesel/Christ, Ausländerrecht, Stand: Juli 2003, AufenthG/EWG, § 12 Rdn. 42).

Dabei bedarf es aus Anlass des vorliegenden Eilverfahrens keiner abschließenden Entscheidung, ob und unter welchen Voraussetzungen die materiell-rechtlichen Vergünstigungen nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG trotz einer ordnungsgemäß geschlossenen Ehe zwischen einem/einer EU-Angehörigen und einem/einer nicht unter diesen Personenkreis fallenden Ausländer/in dann nicht zur Entfaltung kommen, wenn die Ehe nie in Form einer ehetypischen Lebensgemeinschaft gelebt und allein zum Zwecke der Erlangung eines ausländerrechtlichen Aufenthaltstitels eingegangen wurde (vgl. dazu etwa Kloesel/Christ, a.a.O.; OVG Hamburg, a.a.O., VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 2. Januar 1995 - 11 S 3379/94 -, InfAuslR 1995, 97 = EZAR 028 Nr. 3, jeweils mit weiteren Nachweisen). Einem Ausschluss der materiell-rechtlichen Gewährleistungen des Aufenthaltsgesetzes/EWG in Fällen dieser Art könnte möglicherweise entgegen stehen, dass § 1 Abs. 2 Satz 2 AufenthG/EWG - anders als dies für Vorschriften anerkannt ist, in denen das Ausländergesetz bestimmte Rechtsfolgen an das Bestehen einer Ehe knüpft, - allein auf das Vorliegen der Ehegatteneigenschaft abstellt und der Bestand einer ordnungsgemäß geschlossenen Ehe auch in Fällen einer bloßen Scheinehe nicht in Frage gestellt ist, sondern nur in Form einer Auflösung durch die hierfür zuständige staatliche Stelle beendet werden kann (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O.).

Jedenfalls hält es der Senat aber für zwingend und sachgerecht, die von dieser materiell-rechtlichen Problematik unabhängige prozessuale Frage, ob dem Rechtsbehelf des Ehegatten eines unter § 1 Abs. 1 AufenthG/EWG fallenden EU-Angehörigen gegen eine ausländerbehördliche Entscheidung aufschiebende Wirkung zukommt, nicht mit einer - evtl. umfangreichen und möglicherweise sogar eine Beweiserhebung erforderlich machenden - Überprüfung der Modalitäten der Eheschließung und der Art und Weise des ehelichen Zusammenlebens zu befrachten, sondern insoweit in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 Satz 2 AufenthG/EWG allein auf das formale Bestehen der Ehegatteneigenschaft abzustellen. Die weitreichenden Konsequenzen, die aus dem Vorhandensein bzw. aus dem Fehlen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gerade im Ausländerrecht resultieren, lassen einen Zustand der Rechtsunsicherheit nicht zu, wie er entstünde, wenn man diese Frage nur nach eingehenden Erörterungen beantworten könnte, wie sie gerade im vorliegend angefochtenen erstinstanzlichen Beschluss deutlich zum Ausdruck kommen.

Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO muss es dem Verwaltungsgericht grundsätzlich auch unbenommen bleiben, die endgültige Ermittlung materiell-rechtlich relevanter Tatbestände, wie etwa des Vorliegens einer ehelichen Lebensgemeinschaft, in das Hauptsachverfahren zu verlagern und die Entscheidung über die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund einer summarischen Prüfung bzw. einer Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen zu treffen. Hiermit wäre unvereinbar, wenn das Gericht gehalten wäre, entsprechende abschließende Ermittlungen schon im prozessualen Vorfeld seiner Entscheidung, nämlich bei Klärung des Problems, ob der Eintritt der aufschiebenden Wirkung kraft Gesetzes ausgeschlossen ist oder nicht, zu treffen.

Da der Antragsteller Ehemann einer dem Personenkreis des § 1 Abs. 1 AufenthG/EWG zugehörigen portugiesischen Staatsangehörigen ist, wirkt sich § 12 Abs. 9 AufenthG/EWG prozessual zu seinen Gunsten mit der Folge aus, dass § 72 Abs. 1 AuslG keine Anwendung findet und seiner Klage daher im tenorierten Umfang die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO zukommt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 14 Abs. 1, 13 Abs. 1, 20 Abs. 3 GKG. Der Antragsteller hat im Klageverfahren VG Gießen 7 E 4928/02 ausweislich seines Antrags vom 11. März 2003 Klage gegen die Verfügung des Antragsgegners vom 7. März 2003 nur insoweit erhoben, als darin eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis-EG abgelehnt wurde, nicht jedoch soweit die ihm im Jahre 1997 erteilte Aufenthaltserlaubnis zurückgenommen wurde. Dies begrenzt - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts in der Begründung seiner den Streitwert auf 4.000 € festsetzenden Entscheidung - auch den Streitgegenstand des vorliegenden, die aufschiebende Wirkung der vorgenannten Klage betreffenden Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO. Zur Abänderung der Streitwertentscheidung des Verwaltungsgerichts ist der Senat nach § 25 Abs. 2 Satz 2 GKG berechtigt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).

Ende der Entscheidung

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