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Beginn der Entscheidung

Gericht: Hessisches Landesarbeitsgericht
Urteil verkündet am 16.08.2005
Aktenzeichen: 13 SaGa 929/05
Rechtsgebiete: GG, BetrVG, BPersVG


Vorschriften:

GG Art. 1
GG Art. 2
BetrVG § 102 V
BPersVG § 79 II
Zum Verhältnis von Beschäftigungsanspruch und Freistellungs- (Suspendierungs-)recht während der Kündigungsfrist.
Tenor:

Die Berufung des Verfügungsbeklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Marburg vom 4. Mai 2005 - 1 Ga 2/05 - wird auf Kosten des Verfügungsbeklagten zurückgewiesen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Verpflichtung des Verfügungsbeklagten (im Folgenden: Beklagten), den Verfügungskläger (im Folgenden: Kläger) bis zum Ablauf der Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen.

Der Beklagte betreibt ein Ingenieurbüro. Der Kläger ist dort seit 19. September 1977 als technischer Angestellter gegen eine monatliche Bruttovergütung in Höhe von € 3.000,00 beschäftigt. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag existiert nicht. Der Kläger ist in der Elektroabteilung eingesetzt.

Mit Schreiben vom 29. März 2005 erklärte der Beklagte dem Kläger die ordentliche betriebsbedingte Kündigung des Arbeitsverhältnisses zum 31. Oktober 2005. Mit Schreiben vom 11. April 2005 erklärte der Beklagte nochmals eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung des Arbeitsverhältnisses vorsorglich zum 30. November 2005. Gegen diese Kündigungen wandte sich der Kläger im Verfahren 1 Ca 153/05 vor dem Arbeitsgericht Marburg, wo er mittlerweile durch Urteil vom 27. Juli 2005 in vollem Umfang obsiegte.

Mit Anwaltsschreiben vom 26. April 2005 ließ der Beklagte den Kläger "bis zum Kammertermin" freistellen.

Mit der am 29. April 2005 beim Arbeitsgericht eingegangenen Antragsschrift hat der Kläger seine Weiterbeschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist der ersten ausgesprochenen Kündigung begehrt mit der Ansicht, weder fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten noch die persönlichen Schwierigkeiten der Parteien miteinander rechtfertigten seine Freistellung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, ihn zu unveränderten Arbeitsbedingungen als technischen Angestellten bis zum 31. Oktober 2005 zu beschäftigen.

Der Beklagte hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Der Beklagte hat behauptet, eine tatsächliche Beschäftigung des Klägers sei nicht möglich, da er keine Aufträge bzw. nicht genügend Aufträge habe, um den Kläger tatsächlich zu beschäftigen.

Das Arbeitsgericht hat dem Antrag durch Urteil vom 04. Mai 2005 stattgegeben, im Wesentlichen mit der Begründung, ein Anspruch auf Beschäftigung im zweifelsfrei bestehenden Arbeitsverhältnis bestehe grundsätzlich. Der Beklagte habe kein schützenswertes Interesse an der Nichtbeschäftigung des Klägers dargelegt. Wegen der Einzelheiten wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Bl. 29 - 34 d.A.) verwiesen.

Gegen dieses dem Beklagten am 10. Mai 2005 zugestellte Urteil hat dieser mit einem beim erkennenden Gericht am 02. Juni 2005 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese zugleich begründet.

Der Beklagte wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er hält den Antrag des Klägers für zu unbestimmt und verweist im Übrigen auf die emotionalen Zerwürfnisse der Parteien und die tatsächlich fehlenden Möglichkeiten zur Weiterarbeit wegen Auftragsrückgangs.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Marburg vom 04. Mai 2005 - 1 Ga 2/05 - abzuändern und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt das erstinstanzliche Urteil im Wesentlichen unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens.

Wegen des weiteren Vortrags der Parteien im zweiten Rechtszug wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Niederschrift der Berufungsverhandlung vom 16. August 2005 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gem. den §§ 8 Abs. 2 ArbGG; 511 ZPO an sich statthafte Berufung begegnet hinsichtlich des Wertes des Beschwerdegegenstandes (§ 64 Abs. 2 ArbGG) keinen Bedenken. Sie ist nach Maßgabe der im Tatbestand mitgeteilten Daten form- und fristgerecht eingelegt sowie rechtzeitig und ordnungsgemäß begründet worden (§§ 66 Abs. 1 ArbGG, 517, 519, 520 ZPO) und damit insgesamt zulässig.

In der Sache ist die Berufung erfolglos. Das Arbeitsgericht hat dem Antrag zu Recht stattgegeben.

Entgegen der Ansicht des Beklagten ist der Antrag zulässig, insbesondere stehen ihm hinsichtlich der Bestimmtheit im Sinn des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO keine Bedenken entgegen. Erforderlich ist, dass sich das, was der Gläubiger vom Schuldner, hier also der Kläger vom Beklagten, aufgrund eines Titels verlangen kann, mit hinreichender Deutlichkeit aus dem Titel selbst, ggf. unter Heranziehung des Tatbestands und der Entscheidungsgründe des Urteils, ergibt, mit anderen Worten, die Leistung ausreichend bestimmt bezeichnet ist. Dieser vollstreckungsrechtliche Grundsatz der Bestimmtheit des Vollstreckungstitels beruht auf dem Gebot der Gesetz- und Rechtmäßigkeit aller staatlichen Zwangsmaßnahmen. Er resultiert aus dem öffentlichen Interesse an eindeutig bestimmten Grundlagen der Zwangsvollstreckung. Durch die Zwangsvollstreckung wird der Schuldner mithilfe staatlicher Machtmittel zu bestimmten Handlungen gezwungen. Grundlage solcher staatlicher Zwangsmittel kann nur ein eindeutiger, unmissverständlicher Titel sein (Hess. LAG vom 16. Mai 2003 - 16 Ta 158/03 - zitiert nach Juris).

Diesen Anforderungen genügt das arbeitsgerichtliche Urteil im Hinblick auf die Weiterbeschäftigung des Klägers durchaus. Der Beklagte wurde verurteilt zur Weiterbeschäftigung des Klägers "zu unveränderten Arbeitsbedingungen als technischer Angestellter". Nach dem Tatbestand war der Kläger in der Elektroabteilung des Beklagten tätig. Damit sind der Ort und die Art der Arbeitsleistung hinreichend deutlich und auch abgrenzbar zu Tätigkeiten, die diesem Tätigkeitsbild nicht mehr entsprechen. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als die bisherige Tätigkeit des Klägers zwischen den Parteien nicht im Streit ist (vgl. hierzu allgemein: LAG Köln vom 16. Dezember 2004 - 3 (7) Ta 358/04 - zitiert nach Juris; Hess. LAG vom 16. Mai 2003, a.a.O.; LAG München vom 07. Mai 2003, LAGE Nr. 1 zu § 611 BGB 2002, Beschäftigungspflicht; LAG Baden-Württemberg vom 08. Mai 2000, NZA-RR 2000, 663; BAG vom 15. März 2001, AP Nr. 46 zu § 4 KSchG 1969).

Der Kläger hat einen Verfügungsanspruch auf Beschäftigung bis zum Ablauf der Kündigungsfrist aus der ersten ihm erklärten Kündigung (§ 935 ZPO). Bis zu diesem Datum, dem 31. Oktober 2005, besteht das Arbeitsverhältnis der Parteien zweifelsfrei.

Rechtsgrundlage für diesen Verfügungsanspruch des Klägers ist § 611 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag, der mündlich geschlossen wurde. Ein Recht zur Suspendierung des Klägers ist nicht vereinbart worden.

Jeder Arbeitnehmer hat grundsätzlich einen arbeitsvertraglichen Anspruch auf vertragsgemäße Beschäftigung (so schon grundlegend BAG vom 10. November 1955, AP Nr. 2 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht). Rechtsgrundlage dieses allgemeinen Beschäftigungsanspruchs ist eine entsprechende Rechtsfortbildung des Dienstvertragsrechts der §§ 611 ff. BGB auf der Grundlage von § 242 BGB i.V.m. Art. 1, 2 GG. Diese Rechtsfortbildung ist notwendig, weil die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 1, 2 GG über den Persönlichkeitsschutz auch den Schutz des ideellen Beschäftigungsinteresses des Arbeitnehmers durch die grundsätzliche Anerkennung eines arbeitsvertraglichen Anspruchs auf vertragsgemäße Beschäftigung gebieten, sofern der Arbeitnehmer diese Beschäftigung verlangt, und weil der Arbeitnehmer gem. § 102 Abs. 5 BetrVG und § 79 Abs. 2 BPersVG auf sein Verlangen sogar nach Ablauf der Kündigungsfrist bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsrechtsstreits bei unveränderten Arbeitsbedingungen weiter beschäftigt werden muss (so grundlegend BAG GS vom 27. Februar 1985, AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht).

Der allgemeine Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers kann demnach, insbesondere mit Rücksicht auf seinen Rechtsgrund und Zweck, gem. Art. 1, 2 GG die Persönlichkeit des Arbeitnehmers vor Diskriminierung durch Nichtbeschäftigung zu schützen, nur ausnahmsweise durch die sog. Freistellung oder Suspendierung des Arbeitnehmers ausgeschlossen werden. Die Freistellung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber ist nur bei einem besonders schutzwürdigen Interesse des Arbeitgebers, an dessen Voraussetzungen strenge Anforderungen zu stellen sind, zulässig (BAG vom 15. Juni 1972, AP Nr. 2 zu § 628 BGB). Der Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers ist Teil des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes und muss deshalb nur dann zurücktreten, wenn überwiegende und schutzwürdige Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen (BAG vom 19. August 1976, AP Nr. 4 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht; BAG vom 15. März 2001, AP Nr. 46 zu § 4 KSchG 1969; LAG München vom 07. Mai 2003, a.a.O.; LAG Hamm vom 18. September 2003, NZA-RR 2004, 244 und vom 08. November 2004 - 8 Sa 1798/04 - zitiert nach Juris; ErfK-Preis, 5. Aufl. 2004, § 611 BGB Rz 709; U. Fischer, NZA 2004, 233).

Diese überwiegenden und schutzwürdigen Interessen muss der Arbeitgeber darlegen und beweisen. Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Die pauschalen Hinweise des Beklagten auf fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten entsprechen den Anforderungen an einen substantiierten Sachvortrag auch nicht ansatzweise (vgl. dazu im Einzelnen LAG München vom 07. Mai 2003, a.a.O.). Auch die Hinweise zu den persönlichen Zerwürfnissen der Parteien sind nicht dergestalt, dass sie im Hinblick auf den verfassungsrechtlich untermauerten Beschäftigungsanspruch des Klägers nach 27-jährigem Bestand des Arbeitsverhältnisses eine Freistellung rechtfertigen könnten. Die weiteren Ausführungen des Beklagten zur Art der Prozessführung des Klägers, den Kündigungsgründen oder dem Weiterbeschäftigungsanspruch nach Ablauf der Kündigungsfrist liegen neben der Sache.

Dem Kläger steht auch ein Verfügungsgrund zur Seite (§ 940 ZPO). Dieser ergibt sich zwanglos aus dem Fixschuldcharakter der Beschäftigungsschuld, denn der Beschäftigungsanspruch erlischt fortgesetzt gem. § 275 Abs. 1 BGB, wenn der Beklagte den Kläger nicht tatsächlich beschäftigt. Deshalb ist dem Kläger auch der Weg über das reguläre Klageverfahren versperrt. Es dauert zu lange (LAG München vom 07. Mai 2003, a.a.O. und vom 19. August 1992, NZA 1993, 1130).

Der Beklagte hat die Kosten seines erfolglosen Rechtsmittels zu tragen (§ 97 Abs. 1 ZPO).

Gegen dieses Urteil ist ein Rechtsmittel nicht gegeben (§ 72 Abs. 4 ArbGG).

Ende der Entscheidung

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