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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 30.01.2009
Aktenzeichen: (4) Ausl.A. 522/03 (139-140/07)
Rechtsgebiete: IRG


Vorschriften:

IRG § 6 Abs. 2
Bestehen aufgrund der Auslieferungsunterlagen Anhaltspunkte dafür, dass die behaupteten kriminellen Handlungen des Verfolgten vorgeschoben sind - wofür z.B. Übertreibungen, Widersprüche oder manipulierte Zeugenaussagen sprechen können - um des Verfolgten aus politischen Gründen habhaft zu werden, so ist die Auslieferung unzulässig (§ 6 Abs. 2 IRG). Die Gewährung politischen Asyls entbindet zwar nicht von der selbständigen Prüfung des Gerichts, ist aber ein gewichtiges Indiz, insbesondere, wenn sie aufgrund desselben Sachverhalts erfolgte wie die ersuchte Auslieferung. Hier Russische Föderation.
KAMMERGERICHT Beschluss

Geschäftsnummer: (4) Ausl.A. 522/03 (139-140/07)

In der Auslieferungssache betreffend

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 30. Januar 2009 beschlossen:

Tenor:

1. Die Auslieferung der Verfolgten an die Russische Föderation zum Zweck der Strafverfolgung wegen der Sachverhalte, die Gegenstand des Haftbefehls des Bezirksgerichts C. der Stadt Moskau vom 30. Dezember 2002 sind sowie bezüglich des Verfolgten X wegen des Sachverhalts, dem das ergänzende Auslieferungsersuchens des Generalstaatsanwalts der Russischen Föderation vom 9. März 2006 zugrunde liegt, werden für unzulässig erklärt.

2. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die im Aus-lieferungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen der Verfolgten trägt die Landeskasse.

3. Den Verfolgten steht für die erlittene vorläufige Auslieferungshaft keine Entschädigung zu.

Gründe:

Die russischen Behörden haben um Auslieferung der russischen Staatsangehörigen X, geboren am in M., und Y, geboren am in L. (oder M.), zum Zwecke der Strafverfolgung entsprechend dem Haftbefehl des Bezirksgerichts C. der Stadt Moskau vom 30. Dezember 2002 und zusätzlich bezüglich X entsprechend dem Ersuchen des Generalstaatsanwalts der Russischen Föderation vom 9. März 2006 ersucht. Beiden Verfolgten wird vorgeworfen, am 2. August 2002 in den Geschäftsräumen der L.-Bank in Moskau gemeinschaftlich den Gerichtsvollzieher Z an der Vollstreckung eines Gerichtsbeschlusses im Vollstreckungsverfahren gewaltsam gehindert, ihm dabei Faustschläge gegen Kopf und Körper versetzt, ihn mit einem harten stumpfen Gegenstand geschlagen sowie am Hals gepackt und aus den Bankräumen gedrängt zu haben, so dass dieser eine Gehirnerschütterung erlitten haben soll. Weiterhin sollen sie drei Vertreter der L. durch zahlreiche Tritte und Schläge verletzt haben. Der Verfolgte X soll daneben einem Vertreter der L. eine Videokamera entwendet und zerstört sowie außerhalb der Räumlichkeiten mit einer Metallstange gegen die Scheiben eines PKW geschlagen haben. Der Verfolgte Y soll zeitgleich mit einer Metallstange ein anderes Fahrzeug beschädigt haben. Der Verfolgte X wird darüber hinaus beschuldigt, am 6. April 2001 in der Stadt T. gewaltsam die Arbeit der Wahlkommission behindert zu haben. Die Verfolgten sind aufgrund eines Fahndungsersuchens von Interpol Moskau vom 23. April 2003 am 30. Juni 2003 festgenommen worden und nach Aufhebung der vorläufigen Auslieferungshaft am 11. August 2003 wieder freigelassen worden, weil die erforderlichen Auslieferungsunterlagen nicht in der nach Art.16 Abs. 4 EAÜbk festgelegten Zeit eingegangen waren. Mit Bescheid vom 24. Mai 2005 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Antrag des Verfolgten Y auf Gewährung von Asyl wegen politischer Verfolgung gemäß Art. 16 a GG entsprochen. Dem lagen eine Verhaftung im Rahmen der Wahlen in T. im Jahr 2001 sowie der Vorfall in der L.-Bank in Moskau am 2. August 2002 zugrunde. Das Asylverfahren des Verfolgten X ist noch nicht abgeschlossen. Die Generalstaatsanwaltschaft und die Beistände der Verfolgten beantragen die Auslieferung wegen der Gefahr politischer Verfolgung nach § 6 Abs. 2 IRG für unzulässig zu erklären; die Beistände berufen sich dabei vor allem auf Manipulationen der Tatvorwürfe, eine Vorschiebung nicht erfolgter krimineller Handlungen seitens der russischen Behörden und auf eine Verfälschung von Beweismitteln.

1. Die Auslieferung der Verfolgten ist unzulässig, weil das Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung vorliegt. Nach § 6 Abs. 2 IRG i.V.m. Art. 3 Abs. II EuAÜbk ist eine Auslieferung dann nicht zulässig, wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung wegen seiner Rasse, seiner Religion, seiner Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauung verfolgt oder bestraft oder dass seine Lage aus diesem Grunde erschwert werden würde (vgl. Saarländisches OLG Saarbrücken, Beschluss vom 13. Dezember 2006 - OLG Ausl 35/06 -; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 4. November 2005 - III-4 Ausl (A) 43/07- 210/05 III -, jeweils m.w.Nachw.; [bei juris]). Das Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung ist insbesondere dann zu prüfen, wenn dem Auslieferungsersuchen staatsfeindliche Handlungen zugrunde liegen und aufgrund bestimmter Tatsachen (dazu zählen z.B. eine besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahme, das Vorschieben krimineller Handlungen, Manipulationen des Tatvorwurfs oder eine Fälschung von Beweismaterial) trotz des kriminellen Charakters der zur Rede stehenden Taten zu befürchten ist, dass dem Verfolgten eine Behandlung droht, die aus politischen Gründen härter ausfällt, als sie sonst zur Verfolgung ähnlich gefährlicher Straftaten im ersuchenden Staat üblich ist (vgl. BVerfGE 80, 315; Saarländisches OLG Saarbrücken a.a.O. m.w.Nachw.). So liegt es hier. Es bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass in den von den russischen Behörden übersandten Unterlagen kriminelle Handlungen der Verfolgten vorgeschoben werden oder die Tatvorwürfe manipuliert worden sind, um der Verfolgten aus politischen Gründen habhaft zu werden.

a. Nachdem der Senat mit Schreiben vom 31. Juli 2007 in die Verdachtsprüfung nach § 10 Abs. 2 IRG eingetreten ist, haben die von den russischen Behörden überreichten, zum Teil widersprüchlichen Unterlagen zum Schuldvorwurf Zweifel an der Täterschaft der Verfolgten aufkommen lassen und legen damit das Vorschieben krimineller Handlungen nahe. Weder sind auf dem überreichten Video über die Vorfälle in der L.-Bank am 2. August 2002 die behaupteten Gewalthandlungen der Verfolgten gegen den Gerichtsvollzieher Z oder die L.-Vertreter zu erkennen, noch sind Verletzungen des Gerichtsvollziehers oder das von ihm behauptete Hinausdrängen - bevor er die Formulare hätte ausfüllen können - aus der Bank, nachdem die Unterlagen aus seiner Aktentasche herausgerissen worden seien, zu sehen. Vielmehr ist erkennbar, dass der Gerichtsvollzieher unverletzt und unbedrängt alleine aus der Bank geht, nachdem er die Unterlagen abgezeichnet und in seine Aktentasche geräumt hatte. Auch die Zeugenaussagen der L.-Vertreter über die Handlungen der Verfolgten und ihre Verletzungen sind widersprüchlich und ebenfalls nicht mit den Videoaufzeichnungen in Einklang zu bringen. Mit Schreiben vom 16. Mai 2003 teilt das Justizministerium der Russischen Föderation mit, dass der Gerichtsvollzieher bei der Diensthandlung am 2. August 2002 grob gegen die Bestimmungen verstoßen habe, weil er am 2. August 2002 Urlaub gehabt hatte und der Standort der L.-Bank nicht zu seinem administrativen Bereich gehörte. Die Einleitung des Strafverfahrens gegen den Gerichtsvollzieher sei verweigert worden, der Gerichtsvollzieher habe aber selbst einen Entlassungsantrag gestellt. Auf Nachfrage der Generalstaatsanwaltschaft wurde seitens der russischen Behörden mit Aktenvermerk vom 6. Dezember 2007 ohne Begründung mitgeteilt, der Gerichtsvollzieher habe rechtmäßig gehandelt.

b. Unabhängig davon, dass die Gewährung von politischem Asyl nach § 4 Abs. 2 AsylVfG für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nicht bindend ist, wird jedoch die Gefahr der Verfolgung des Y dadurch indiziert, dass er von der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigter wegen politischer Verfolgung anerkannt worden ist. Dem Anerkennungsbescheid liegen Vorkommnisse aus dem Jahr 2001 in T. und vom 2. August 2002 in Moskau zugrunde. Y hatte demnach die "russische demokratische Partei J." unterstützt, die als gemäßigte demokratische Partei in Opposition zur Regierungspolitik stand, und im Jahr 2001 in T. gemeinsam mit einem Freund für die Gouverneurswahl kandidiert. Kurz vor dem Wahltag sei er von Angehörigen einer regierungstreuen Sondereinheit angegriffen und wegen angeblichen Widerstandes gegen die Staatsgewalt von April bis September 2001 unter psychischer und physischer Folter gefangen gehalten worden. Tatsächlich habe es keinerlei Widerstandshandlungen gegeben. Bis heute gab es insoweit - soweit dem Senat bekannt -, kein gegen ihn gerichtetes Verfahren. Der Verfolgte Y hatte nach seiner Freilassung ein Anstellungsangebot von der L.-Bank erhalten, die ihn und die Arbeit der J.-Partei in dem Wahlkampf finanziell unterstützt hatte und bei der er im August 2002 in Moskau als Sicherheitsbeauftragter arbeitete.

c. Der Verfolgte X hat in seiner Einlassung am 4. Mai 2005 ausgeführt, dass er 1999 Sponsor der oppositionellen J.-Partei gewesen sei, im Jahr 2000 habe er die Wahlgesellschaft für den Gouverneur von Sankt Petersburg, im Jahr 2001 für die Wahl des Gouverneurs in T. geleitet und sei erheblichen Übergriffen seitens des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei S. aus politischen Gründen und wegen seiner jüdischen Abstammung ausgesetzt gewesen. Auch der inzwischen verhaftete und verurteilte ehemalige Y.-Chef Ch. sei Sponsor dieser Oppositionspartei gewesen. Auch wenn bei dem Verfolgten X das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist, bestehen auch bei ihm im wesentlichen dieselben Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung wie bei dem Verfolgten Y, so dass auch bei ihm zu befürchten ist, dass ihm im Fall der Auslieferung eine Behandlung droht, die aus politischen Gründen härter ausfällt, als sie sonst zur Verfolgung ähnlich gefährlicher Straftaten im ersuchenden Staat üblich ist. Beide Verfolgte haben die Oppositionspartei J. unterstützt, Y wurde 2001 bei den Wahlen in T. grundlos inhaftiert und musste seine Kandidatur aufgeben, X soll wegen Wahlfälschungen und Nötigungen in T. im Jahr 2001 ausgeliefert werden. Das entsprechende Verfahren ist offensichtlich zunächst von den Behörden in T. eingestellt und erst am 19. Dezember 2005 von der Staatsanwaltschaft in Moskau wieder aufgenommen worden. Beide Verfolgte sollen kriminelle Handlungen am 2. August 2002 in der Bank in Moskau begangen haben, die durch die Unterlagen gerade nicht belegt werden. Zu Recht weist die Generalstaatsanwaltschaft als weiteres Indiz für die politische Verfolgung auch des X darauf hin, dass in den Asylverfahrensakten bezüglich Y der russische Abgeordnete der DUMA für die J.-Partei, M., in einer schriftlichen Stellungnahme vom 21. November 2003 festgestellt habe, dass das Auslieferungsersuchen wegen der politischen Tätigkeit des X nicht der objektiven gerichtlichen Untersuchung, sondern der politischen Verfolgung diene.

Nach alledem vermag der Senat nicht auszuschließen, dass die Auslieferungsersuchen der politischen Verfolgung dienen. Geht es aber um das Bestehen eines Auslieferungshindernisses müssen sich Zweifel zu Gunsten der Verfolgten auswirken (vgl. Saarländisches OLG a.a.O.). Das Auslieferungsersuchen war für unzulässig zu erklären.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 IRG i.V.m. §§ 467, 467 a StPO (vgl. BGHSt 32, 221 f).

3. Eine Haftentschädigung steht den Verfolgten nicht zu (vgl. BGHSt 32, 221; hierzu auch OLG Düsseldorf NJW 1992, 646 [nachfolgend Nichtannahmeschluss des BVerfG vom 5. Juni 1992 - 2 BvR 1403/91 -]; D. Meyer a.a.O. Einl. Rdn. 39; jeweils m.w.Nachw.). Eine ausdrückliche Entschädigungsanordnung ist in dem StrEG nicht enthalten. Eine allgemeine entsprechende Anwendung des StrEG auf vom Wortlaut nicht erfasste Maßnahmen und Sachverhalte ist grundsätzlich nicht zulässig (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2009 - 4 Ws 118/08 - m.w.Nachw.).

Ende der Entscheidung

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