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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 05.07.2007
Aktenzeichen: 1 AR 498/07 - 4 Ws 54/07
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 153a Abs. 2
Eine vorläufige Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO ist ausnahmsweise anfechtbar, wenn der Beschluss prozessordnungswidrig ergangen ist (hier ergangen nach Abschluss des Verfahrens durch Eintritt der Rechtskraft nach Rechtsmittelverzicht).
Geschäftsnummer: 1 AR 498/07 - 4 Ws 54/07

In der Strafsache gegen

wegen fahrlässigen Vollrausches

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 5. Juli 2007 beschlossen:

Tenor:

1. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 9. März 2007, soweit in ihm die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 3. Januar 2006 verworfen worden ist, wird als unbegründet verworfen.

2. Die Beschwerde des Angeklagten gegen denselben Beschluss, soweit in ihm die Beschlüsse des Landgerichts vom 9. und 28. März 2006 aufgehoben worden sind, wird als unzulässig verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seiner Rechtsmittel zu tragen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten am 3. Januar 2006 wegen fahrlässigen Vollrausches zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je 250,00 € verurteilt. In die Sitzungsniederschrift ist am Schluss die Erklärung des Beschwerdeführers aufgenommen, dass er nach erfolgter Rechtsmittelbelehrung das Urteil annehme und auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichte. Unter dem 6. Januar 2006 hat der Verteidiger des Angeklagten für diesen Rechtsmittel gegen das Urteil eingelegt. Das Landgericht hat daraufhin den Termin zur Berufungshauptverhandlung auf den 9. März 2006 bestimmt. Zu dieser Verhandlung ist der Angeklagte nicht erschienen. "Auf Vorschlag des Vorsitzenden" der Strafkammer haben sich der Verteidiger und der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft mit der Einstellung des Verfahrens nach § 153 a Abs. 2 StPO einverstanden erklärt. Das Landgericht hat dem Angeklagten mit dem in der Berufungshauptverhandlung verkündeten Beschluss über die vorläufige Einstellung des Verfahrens auferlegt, 1.500,00 € an den Zeugen A. und 2.500,00 € an die Staatskasse zu zahlen. Nachdem die Zahlungen nachgewiesen worden waren, hat das Landgericht durch Beschluss vom 28. März 2006 das Verfahren nach § 153 a Abs. 2 StPO endgültig eingestellt. Auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das Landgericht mit dem angefochtenen Beschluss die nach § 153 a Abs. 2 StPO ergangenen Entscheidungen aufgehoben und die Berufung des Angeklagten als unzulässig verworfen. Die dagegen gerichteten Rechtsmittel des Angeklagten haben keinen Erfolg.

1. Die gegen die Verwerfung der Berufung eingelegte sofortige Beschwerde ist zulässig (§§ 322 Abs. 2, 311 Abs. 2 StPO), aber nicht begründet. Das Landgericht hat die Berufung zu Recht nach § 322 Abs. 1 Satz 1 StPO als unzulässig verworfen. Denn der Angeklagte konnte das Urteil des Amtsgerichts nicht mehr anfechten, da er wirksam auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichtet hat (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO).

a) Der von ihm im Anschluss an die Verkündung des Urteils erklärte Verzicht auf die Einlegung von Rechtsmitteln ist, ebenso wie der Rechtsmittelverzicht der Amtsanwaltschaft, in der Sitzungsniederschrift der Hauptverhandlung nach § 273 Abs. 3 Satz 3 StPO beurkundet worden. Die Niederschrift weist ferner aus, dass die protokollierte Erklärung vorgelesen und von dem Angeklagten genehmigt worden ist. Die vorgenommene Beurkundung erbringt gemäß § 274 Satz 1 StPO den vollen Beweis dafür, dass der Beschwerdeführer den Rechtsmittelverzicht tatsächlich erklärt hat. Dass das Protokoll gefälscht sei, hat der Angeklagte nicht behauptet.

b) Ein Rechtsmittelverzicht ist als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Mai 2004 - (4) 1 Ss 174/04 (52/04) -; Meyer-Goßner, StPO 50. Aufl., § 302 Rdnr. 21; jeweils m.w.Nachw.). Nur in besonderen Fällen kann die Verzichtserklärung unwirksam sein. Das gilt insbesondere bei schwerwiegenden Willensmängeln, unzulässigen Absprachen oder sonstigen besonderen Umständen der Art und Weise des Zustandekommens des Rechtsmittelverzichts (vgl. Meyer-Goßner aaO § 302 Rdnrn. 21 ff m.w.Nachw.). Keiner dieser Fälle liegt hier vor.

aa) Soweit der Angeklagte vorgetragen hat, er sei der deutschen Sprache nicht mächtig und habe die Verzichtserklärung nicht in deutscher Sprache abgegeben, hat dies keine Bedeutung für die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts. Denn ausweislich der Sitzungsniederschrift war während der gesamten Dauer der Sitzung ein vereidigter Dolmetscher tätig. Dass er dessen Übersetzungen etwa nicht verstanden und infolgedessen den Inhalt der ihm erteilten Rechtsmittelbelehrung nicht erfasst habe, hat der Beschwerdeführer nicht behauptet; Hinweise auf Verständigungsschwierigkeiten mit dem Dolmetscher finden sich auch in der Sitzungsniederschrift nicht.

bb) Der weitere Vortrag, der Rechtsmittelverzicht sei unwirksam, weil sich aus der Sitzungsniederschrift die "Form und Genauigkeit" der Rechtsmittelbelehrung nicht ergebe, verhilft der sofortigen Beschwerde nicht zum Erfolg. Der in der Sitzungsniederschrift enthaltene Vermerk "Rechtsmittelbelehrung ist erteilt" beweist nicht nur die mündliche Belehrung selbst, sondern auch ihre Richtigkeit und Vollständigkeit (ständige Rechtsprechung des Kammergerichts, vgl. etwa Senat, Beschluss vom 28. Januar 2005 - (4) 1 Ss 492/04 (190/04) -; Meyer-Goßner aaO § 274 Rdnr. 13; jeweils m.w.Nachw.).

cc) Der Bestellung eines Pflichtverteidigers bedurfte es vorliegend nicht. Entgegen dem Beschwerdevorbringen war weder wegen der Schwere der Tat noch wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.

Maßgeblich für die Beurteilung dieser Voraussetzung ist vor allem die zu erwartende Rechtsfolgenentscheidung, aber auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte in der Folge der Verurteilung zu gewärtigen hat, sind zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Kammergerichts gibt in der Regel die Erwartung von einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe und mehr Anlass zur Pflichtverteidigerbestellung (vgl. etwa Senat, Beschlüsse vom 30. April 2007 - 4 Ws 39/07 - und 21. Juli 2006 - 4 Ws 109/06 -; jeweils m.w.Nachw.), ohne dass es sich hierbei um eine starre Grenze handelt. Die Verhängung einer freiheitsentziehenden Sanktion von einem Jahr oder mehr war hier nach Aktenlage von vornherein nicht zu erwarten. Für sonstige schwerwiegende Nachteile, die sich bei einem Ausländer - wie dem Angeklagten - neben der eigentlichen strafrechtlichen Sanktion auch aus den ausländerrechtlichen Folgen einer Verurteilung ergeben können, insbesondere aus der konkreten Gefahr einer Ausweisung (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Senat, Beschlüsse vom 30. April 2007 aaO und 26. Januar 2000 - 4 Ws 18/00 -; jeweils m.w.Nachw.), lagen keine Anhaltspunkte vor. Es war nicht zu erwarten, dass gegen den strafrechtlich in der Bundesrepublik Deutschland zuvor nicht in Erscheinung getretenen Angeklagten wegen der angeklagten Sachbeschädigung oder des festgestellten fahrlässigen Vollrausches eine Strafe verhängt würde, aufgrund derer seine Ausweisung nach § 54 oder § 55 AufenthG in Betracht gekommen wäre.

Die Sach- oder Rechtslage war nicht schwierig. Der Sachverhalt war einfach gelagert, die Beweislage eindeutig. Ein einzelner Zeuge, der Geschädigte A., hatte die Tat des Angeklagten beobachtet und ihn bis zum Eintreffen der Polizei am Tatort festgehalten. Dass nach den Urteilsfeststellungen zum Zeitpunkt der Tat die Schuldfähigkeit des Angeklagten aufgrund des von ihm vorher konsumierten Alkohols nicht ausschließbar vollständig aufgehoben war (§ 20 StGB), machte die Rechtslage nicht so schwierig, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten gewesen wäre. Auch einer umfassenden Akteneinsicht, zu der nach § 147 Abs. 1 StPO nur der Verteidiger befugt ist, bedurfte es hier zur Vorbereitung und Führung der Verteidigung nicht. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass bei dem Angeklagten nach der Tat eine Blutprobe genommen worden war. Der ärztliche Bericht sowie der Untersuchungsbericht zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration sind durch Verlesung gemäß § 256 Abs. 1 StPO in die Hauptverhandlung eingeführt worden und der Angeklagte hatte Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass er die Bedeutung dieser Beweismittel nicht zutreffend hat bewerten und seine Verteidigung nicht angemessen hat führen können. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass er nach Aktenlage und den Urteilsfeststellungen des Amtsgerichts eine Ausbildung zum Ingenieur für Mechanik und Kybernetik absolviert hat und als Geschäftsführer einer Softwarefirma tätig ist.

2. Die Beschwerde gegen die Aufhebung der nach § 153 a Abs. 2 Satz 1 und 5 StPO ergangenen Beschlüsse ist unzulässig. Denn es fehlt an der allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzung der Beschwer des Angeklagten (vgl. Meyer-Goßner aaO vor § 296 Rdnr. 8 m.w.Nachw.). Die Beschwer ergibt sich entgegen seinem Vorbringen weder daraus, dass er die vom Amtsgericht gegen ihn verhängte Geldstrafe sowie die Kosten des Verfahrens zu zahlen hat, noch aus dem Umstand, dass die Verurteilung in das Bundeszentralregister eingetragen wird. Denn diese Folgen treffen ihn aufgrund seiner Verurteilung, nicht aber aufgrund der angefochtenen Entscheidung, auf die allein es für die Frage der Beschwer ankommt. Ungeachtet ihrer Unzulässigkeit wäre die Beschwerde aber auch unbegründet. Denn der Verfahrensbeendigung nach § 153 a StPO stand von vornherein das Verfahrenshindernis des Verbots der doppelten Bestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) entgegen.

a) Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Beschlüsse vom 9. und 28. März 2006 war zulässig. Zwar ist nach § 153 a Abs. 2 Satz 4 und 5 StPO eine Anfechtung der vorläufigen Einstellung sowie der Feststellung der Erfüllung der erteilten Auflagen und Weisungen - und auch der endgültigen Einstellung - ausgeschlossen. Eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist aber ausnahmsweise dann zulässig, wenn der Beschluss - wie hier - prozessordnungswidrig ergangen ist (vgl. Meyer-Goßner aaO § 153 a Rdnr. 57 m.w.Nachw.).

b) Gegen den Angeklagten ist in demselben Verfahren wegen derselben Tat bereits durch das Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 3. Januar 2007 eine Geldstrafe verhängt worden. Dieses Urteil hat noch am selben Tag Rechtskraft erlangt, nachdem sowohl der Vertreter der Staatsanwaltschaft als auch der Angeklagte - wie ausgeführt - wirksam Rechtsmittelverzicht erklärt hatten.

c) Die Rechtskraft des Urteils ist nicht nachträglich entfallen. Zwar kann die Rechtskraft eines Urteils ausnahmsweise dadurch beseitigt werden, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den §§ 44 ff StPO gewährt oder das Verfahren nach den §§ 359 ff StPO wieder aufgenommen oder das Urteil aus anderen Gründen, etwa auf eine Verfassungsbeschwerde hin, aufgehoben wird (vgl. Meyer-Goßner aaO Einleitung Rdnr. 165). Keiner dieser Fälle liegt hier jedoch vor. Auch wenn in der Durchführung der Berufungshauptverhandlung im Einzelfall eine stillschweigende Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von Amts wegen gesehen werden kann (vgl. Meyer-Goßner aaO § 46 Rdnr. 4 m.w.Nachw.), setzt das voraus, dass der Angeklagte tatsächlich eine Frist versäumt und das Gericht diese Säumnis erkannt hat (vgl. Senat, Beschluss vom 30. März 2004 - 4 Ws 25/04 -). Beides war hier nicht der Fall. Die Verhandlung des Landgerichts über die Berufung des Angeklagten ließ deshalb die Rechtskraft des erstinstanzlichen Urteils unberührt.

Ein "Vertrauensschutz" des Angeklagten in die Rechtmäßigkeit der Verfahrenserledigung nach § 153 a Abs. 2 StPO konnte nach alldem aufgrund des Verfahrensganges nicht begründet werden. Zwar kann das Gericht das Verfahren nach Satz 1 dieser Vorschrift bis zum Ende der Hauptverhandlung, in der die tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden können, also auch noch in der Berufungshauptverhandlung vorläufig einstellen. Das gilt aber dann nicht, wenn - wie hier - das Verfahren bereits zuvor durch ein insgesamt rechtskräftiges Urteil abgeschlossen worden war (vgl. Senat, Beschluss vom 30. März 2004 aaO zu § 154 Abs. 2 StPO).

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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