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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 13.03.2008
Aktenzeichen: 2 AR 10/08
Rechtsgebiete: ZPO, GVG


Vorschriften:

ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
ZPO § 281 Abs. 2 Satz 3
GVG § 95 Abs. 1 Nr. 1
GVG § 102 Satz 2
1) § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist entsprechend auf Streitigkeiten über die funktionelle Zuständigkeit zwischen einer Kammer für Handelssachen und einer Zivilkammer anzuwenden.

2) Die zu § 281 Abs. 2 Satz 3 ZPO entwickelten Grundsätze betreffend die ausnahmsweise Nichtbindung von Verweisungsbeschlüssen wegen Willkür der Verweisung sind auch auf § 102 Satz 2 GVG anzuwenden.

3) § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG ist auf Vollkaufleute, die nicht in das Handelsregister eingetragen sind, nicht entsprechend anzuwenden.


Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 2 AR 10/08

In Sachen

hat der 2. Zivilsenat des Kammergerichts am 13. März 2008 durch die Richter am Kammergericht Franck, Dittrich und Dr. Glaßer beschlossen:

Tenor:

Die Zivilkammer 36 des Landgerichts Berlin wird als der funktionell zuständige Spruchkörper bestimmt.

Gründe:

I.

Die Zivilkammer 36 und die Kammer für Handelssachen 94 des Landgerichts Berlin streiten über die funktionelle Zuständigkeit für ein Verfahren, in welchem beide Parteien Kaufleute sind. Die Sache war zunächst bei der Zivilkammer 83 des Landgerichts Berlin anhängig und wurde von dieser - ohne Zuständigkeitsstreit - an die Zivilkammer 36 abgegeben, nachdem jene mit Vermerk vom 16. Juli 2007 (Bl. 14 d.A.) aktenkundig gemacht hatte, dass die Beklagte nicht im Handelsregister als Kaufmann eingetragen sei. Auf Antrag der Beklagten und nach Anhörung der Klägerin verwies die Zivilkammer 36 den Rechtsstreit sodann mit Beschluss vom 20. Oktober 2007 (Bl. 55 d.A.) unter Bezugnahme auf § 95 Abs. 1 Nr. 1 HGB an die zuständige Kammer für Handelssachen, ohne sich allerdings näher mit der fehlenden Handelsregistereingetragenheit der Beklagten auseinanderzusetzen. Die Kammer für Handelssachen 94 erklärte sich mit Beschluss vom 13. Februar 2008 (Bl. 64 d.A.) für funktionell unzuständig und legte die Sache zur Zuständigkeitsbestimmung dem Kammgericht vor. Die Kammer für Handelssachen ist der Auffassung, der Beschluss der Zivilkammer 36 sei wegen klarer Gesetzeswidrigkeit ausnahmsweise nicht nach § 102 GVG bindend. Denn das Vorliegen der Voraussetzungen des § 95 Abs. 1 Nr. 1 HGB scheitere an der fehlenden Handelsregistereingetragenheit der Beklagten.

II.

1.

Das Kammergericht ist nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO, der auf Streitigkeiten über die funktionelle Zuständigkeit zwischen einer Kammer für Handelssachen und einer Zivilkammer entsprechend anzuwenden ist (ebenso OLG Frankfurt, OLGR 2005, 257 [257]; OLG Celle OLGR 2004, 370 [370]; OLG Stuttgart, OLGR 2002, 455 [455]; OLG Braunschweig, OLGR 1995, 154 [154]; Gummer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 102 GVG Rdnr. 3), zur Bestimmung des zuständigen Spruchkörpers innerhalb des Landgerichts Berlin berufen. Denn sowohl die Zivilkammer 36 als auch die Kammer für Handelssachen 94 haben sich mit nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen für funktional unzuständig erklärt.

2.

Die Zivilkammer 36 ist gemäß § 94 GVG funktionell zuständig.

Denn die vorliegende Sache ist gemäß § 95 GVG keine Handelssache. Insbesondere sind die Voraussetzungen des hier allein in Betracht kommenden § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG nicht gegeben, nachdem die Beklagte nicht als Kaufmann in das Handelsregister eingetragen ist. Die Vorschrift ist auf nichteingetragene Kaufleute nicht entsprechend anzuwenden. Denn die Feststellung der Kaufmannseigenschaft erfordert - im Gegensatz zur Feststellung der Handelsregistereingetragenheit - nicht selten die Klärung von schwierigen Tatsachenfragen und von Fragen der rechtlichen Bewertung. Der damit verbundene Aufwand steht in keinem angemessen Verhältnis zu der im Einzelfall möglicherweise passenderen Bestimmung der funktionellen Zuständigkeit innerhalb des Gerichts (ähnlich Gummer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 95 GVG Rdnr. 3), zumal das Vorhandensein von Kammern für Handelssachen für den Gesetzgeber kein dringliches Anliegen ist, wie die bloßen Ermächtigungsvorschrift des § 93 GVG zeigt. Eine Analogie verbietet sich im Übrigen auch deshalb, weil der Gesetzgeber die bis zum 30. Juni 1998 gültige Fassung des § 95 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, nach der es ausdrücklich auf die Kaufmannseigenschaft, nicht auf die Handelsregistereingetragenheit ankam ("[Klagen ...] gegen einen Kaufmann im Sinne des Handelsgesetzbuches aus Geschäften, die für beide Teile Handelsgeschäfte sind"), durch die seitdem gültige, auf die Handelsregistereingetragenheit abstellende Fassung offenbar bewusst abgeändert hat; eine Analogie würde diese gesetzgeberische Entscheidung unterlaufen.

3.

Die Zivilkammer 36 hat ihre funktionelle Zuständigkeit nicht nach § 102 Satz 2 GVG dadurch verloren, dass sie den Rechtsstreit an die Kammer für Handelssachen verwiesen hat.

a)

Nach § 102 Satz 2 GVG bewirkt der Verweisungsbeschluss im Grundsatz bindend die Unzuständigkeit des verweisenden Spruchkörpers und die Zuständigkeit des Spruchkörpers, an den verwiesen wird. Jedoch ist - wie bei § 281 Abs. 2 Satz 3 ZPO - anerkannt, dass die Bindungswirkung wegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ausnahmsweise dann entfällt, wenn die Verweisung auf Willkür beruht (vgl. OLG Celle, OLGR 2004, 370 [371]; OLG Frankfurt, OLGR 2004, 257 [257]; OLG Stuttgart, OLGR 2002, 455 [455]; OLG Köln, NJW-RR 2002, 426 [427]; OLG Karlsruhe, OLGR 1998, 281 [281]; OLG Braunschweig, OLGR 1995, 154 [155]; Gummer in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 102 GVG Rdnr. 6). Es ist kein Grund ersichtlich ist, den für die Frage der funktionellen Zuständigkeit geltenden § 102 Satz 2 GVG anders auszulegen als den für die Frage der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit geltenden § 281 Abs. 2 Satz 3 ZPO; die zu dieser Vorschrift entwickelten Grundsätze können daher auch auf jene Anwendung finden.

Willkür ist nicht allein deshalb anzunehmen, weil die Frage der Zuständigkeit - aus Sicht des nach § 36 Abs. 1 ZPO zur Entscheidung berufenen, höheren Gerichtes oder aus Sicht der herrschenden Meinung in der Rechtsprechung - unzutreffend beantwortet wurde. Die Grenze zwischen der fehlerhaften, gleichwohl aber bindenden, und der willkürlichen Entscheidung ist allerdings u.a. dann überschritten, wenn das verweisende Gericht eine Zuständigkeitsnorm in den Gründen des Verweisungsbeschlusses nicht erörtert und diese Norm eindeutig seine Zuständigkeit begründet (ständige Rspr. des Senats zu § 281 Abs. 2 Satz 3 ZPO, vgl. Beschluss vom 17. September 2007, 2 AR 37/07, Beschluss vom 5. Januar 2006, 2 AR 62/05; ähnlich: KG, 28. Zivilsenat, KGR 2000, 68 [69] "Weicht das [Gericht] ... von der Gesetzeslage bzw. der ganz einhelligen Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum ab, ... muss es dies wenigstens ... begründet haben"; Greger in Zöller, ZPO, 26. Aufl. 2007, § 281 Rdnr. 17 "Bindungswirkung kann ... fehlen, wenn [der] Beschluss ... nicht erkennen lässt, dass sich das Gericht mit einer einhellig gegenteiligen Rechtsansicht auseinander gesetzt hat").

b)

Die genannten Voraussetzungen für die Annahme von Willkür sind vorliegend gegeben.

Denn die Zivilkammer 36 hat die Voraussetzungen des § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG mit keinem Wort erörtert, obgleich sie wegen des Aktenvermerk der Zivilkammer 83 vom 16. Juli 2007 und des klaren Wortlautes der Vorschrift Veranlassung hierzu gehabt hätte. Das Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 95 Abs. 1 Nr. 1 GVG ist zudem - wie ausgeführt - eindeutig.

4.

Der Senat hatte die Sache nicht nach § 36 Abs. 3 ZPO dem BGH zur Entscheidung vorzulegen, obwohl das OLG Karlsruhe - leicht abweichend von der o.g. Ansicht des Senats - meint, es sei unerheblich, ob das verweisende Gericht die maßgeblich Zuständigkeitsnorm in Betracht gezogen habe, weil für die Frage der Bindungswirkung allein entscheidend sei, ob die Verweisung im Ergebnis vertretbar erscheine (OLGR 2005, 139 [140]). Voraussetzung für die Zulässigkeit der Vorlage nach § 36 Abs. 3 ZPO ist nämlich, dass die Rechtsfrage, in der das vorlegende Oberlandesgericht von der Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichtes abweichen will, aus Sicht des vorlegenden Gerichts entscheidungserheblich ist (BGH, NJW 2003, 3201 [3201]). Eine Entscheidungserheblichkeit der o.g. Rechtsfrage ist vorliegend zu verneinen. Denn nach dem oben Dargelegten (Ziff. 2) wäre auch bei Zugrundelegung der Auffassung des OLG Karlsruhe Willkür zu bejahen.

Ende der Entscheidung

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