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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 11.09.2006
Aktenzeichen: 28 AR 34/06
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 3
1. Die in der EuGVVO (hier: Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO) geregelten örtlichen Zuständigkeiten müssen im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zwingend beachtet werden.

2. Ein Gericht, bei dem keiner der zu verklagenden Streitgenossen seinen allgemeinen Gerichtsstand hat, kann entgegen dem Wortlaut von § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO ausnahmsweise als zuständig bestimmt werden, wenn es dem Antragsteller ansonsten verwehrt wäre, die Streitgenossen gemeinschaftlich zu verklagen und nicht überwiegende Interessen der Antragsgegner entgegenstehen.


Kammergericht Beschluss

Geschäftsnummer: 28 AR 34/06

11.09.2006

In dem Zuständigkeitsbestimmungsverfahren

hat der 28. Zivilsenat des Kammergerichts durch die Vizepräsidenten des Kammergerichts Claßen-Beblo, den Richter am Kammergericht Dr. Vossler und den Richter am Landgericht Dr. Kapps beschlossen:

Tenor:

Das Landgericht Berlin wird für den dort anhängigen Rechtsstreit - 7 O 570/05 - insoweit als das örtlich zuständige Gericht bestimmt, als sich die Klage auch gegen die Antragsgegnerin zu 2) richtet.

Gründe:

I.

Der in Berlin wohnhafte Antragsteller schloss bei der in London ansässigen Antragsgegnerin zu1) mehrere Lebensversicherungsverträge ab. Die Verträge wurden jeweils von der Antragsgegnerin zu 2 vermittelt, die als offizielle Vertriebspartnerin britischer Versicherungsunternehmen für den gesamten deutschen Markt auftritt und ihren Sitz in Rheine (Westfalen) hat. Mit der beim LG Berlin anhängigen Klage nimmt der Antragsteller die Antragsgegnerinnen gesamtschuldnerisch wegen Nichterfüllung des Versicherungsvertrags bzw. Falschberatung auf Schadensersatz in Anspruch. Nach einem Hinweis des angerufenen Gerichts auf seine örtliche Unzuständigkeit bezüglich der Antragsgegnerin zu 2) beantragt der Antragsteller, das LG Berlin gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO als zuständiges Gericht zu bestimmen.

II.

1. Das Kammergericht ist für den Antrag auf Bestimmung des zuständigen Gerichtes gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zuständig, da die für eine Zuständigkeitsbestimmung in Betracht kommenden Gerichtsstände in den Bezirken verschiedener Oberlandesgerichte liegen und das zum hiesigen Bezirk gehörende Landgericht zuerst mit der Sache befasst war (§ 36 Abs. 2 ZPO).

2. Die für eine Gerichtsstandsbestimmung bei Sachverhalten mit Auslandsbezug notwendige internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte (vgl. Vossler, NJW 2006, 117 [119]) ist bezüglich beider Antragsgegnerinnen gegeben. Für die Antragsgegnerin zu 2), die Ihren Sitz in Deutschland hat, ergibt sich diese bereits aus Art. 2 Abs. 1 EuGVVO. Für die in Großbritannien ansässige Antragsgegnerin zu 1) folgt die internationale Zuständigkeit aus Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO. Nach der genannten Vorschrift kann ein Versicherer, der seinen Sitz in einem Mitgliedstaat hat, in einem anderen Mitgliedstaat vor den Gerichten am Wohnort des Versicherungsnehmers verklagt werden.

3. Die sachlichen Voraussetzungen für eine Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO liegen ebenfalls vor. Die Beklagten sind Streitgenossen im Sinne von §§ 59, 60 ZPO, da sie aus dem gleichen tatsächlichen und rechtlichen Grund als Gesamtschuldner in Anspruch genommen werden. Entsprechend ihren unterschiedlichen Wohn- bzw. Geschäftssitzen haben die Antragsgegner ihren allgemeinen Gerichtsstand bei verschiedenen Gerichten (§§ 12, 13, 17 ZPO).

Ein gemeinsamer besonderer Gerichtsstand ist ebenfalls nicht ersichtlich. Insbesondere ergibt sich dieser nicht aus Art. 6 Nr. 1 EuGVVO. Zwar kann auch die Möglichkeit einer Klage an dem dort geregelten Gerichtsstand der Streitgenossenschaft einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO entgegenstehen (vgl. BayObLG, InVo 1999, 396). Allerdings ist die Vorschrift im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil die Zuständigkeit für Versicherungs- Verbraucher- und Arbeitssachen im 3. bis 5. Abschnitt der EuGVVO abschließend geregelt ist (Kropholler, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 8. Aufl., Art. 6 EuGVVO Rdnr. 3). Darüber hinaus scheidet auch Art. 9 Abs. 1 lit. c EuGVVO als gemeinschaftlicher besonderer Gerichtstand aus, da die Antragsgegnerin zu 2) nicht als Mitversicherer, sondern als Versicherungsvermittler in Anspruch genommen wird. Ob die Antragsgegner gemeinsam vor einem ausländischen Gericht verklagt werden könnten, kann offen bleiben, da dies einer Gerichtsstandsbestimmung nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO nicht entgegenstünde (BayObLG, NJW-RR 1990, 893 [894]).

4. Aus prozessökonomischen Gründen, welche für die Auswahl des zuständigen Gerichts maßgebend sind, erscheint vorliegend die Bestimmung des Landgerichts Berlin zweckmäßig und geboten. Dem steht nicht entgegen, dass keine der Antragsgegnerinnen dort ihren allgemeinen Gerichtsstand hat. Zwar ergibt sich aus dem Wortlaut von § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO, der von einer Klageerhebung an dem allgemeinen Gerichtsstand ausgeht, dass grundsätzlich ein Gericht zu bestimmen ist, bei dem mindestens ein Antragsgegner seinen Wohn- oder Geschäftssitz (§§ 12, 13, 17 ZPO) hat (BGH, NJW 1987, 439; OLG Hamm, NJW 2000, 1347; Musielak, ZPO, 4. Aufl., § 36 Rdnr. 22; Stein/Jonas/Roth, ZPO, 22. Aufl., § 36 Rdnr. 31).

Allerdings sind in der Rechtsprechung seit langem Ausnahmen von diesem Grundsatz anerkannt. Besteht beispielsweise für einen der Streitgenossen eine ausschließliche Zuständigkeit nach § 29a ZPO oder einer anderen zwingenden Zuständigkeitsnorm kann auch das betreffende Gericht als zuständig bestimmt werden, selbst sofern keiner der zu verklagenden Streitgenossen dort seinen allgemeinen Gerichtsstand hat (BGH, NJW 1987, 439; BayObLG, NJW-RR 2000, 1592; KG, KG-Report 218). Entsprechendes gilt im Falle einer Gerichtsstandsvereinbarung mit ausschließlichem Charakter, sofern der an der Prorogation nicht beteiligten Streitgenossen hierdurch nicht unzumutbar belastet wird (BGH, NJW 1988, 646 [647]; Zöller/Vollkommer, ZPO, 25. Aufl., § 36 Rdnr. 15). Aus einer Gesamtschau dieser Rechtsprechung lässt sich der Grundsatz herleiten, dass eine vom allgemeinen Gerichtsstand sämtlicher Streitgenossen abweichende Bestimmung ausnahmsweise dann möglich ist, wenn es dem Antragsteller ansonsten verwehrt wäre, die Streitgenossen gemeinschaftlich zu verklagen und nicht überwiegende Interessen der Antragsgegner entgegenstehen (vgl. auch Vossler, NJW 2006, 117 [120]).

5. a) Ein derartiger Ausnahmefall ist vorliegend aufgrund des Vorrangs der gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeitsbestimmung in Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO, die für die Antragsgegnerin zu 1) einschlägig ist, gegeben. Nach allgemeiner Auffassung eröffnet die Vorschrift nicht nur die internationale Zuständigkeit der Gerichte des Wohnsitzstaates des Versicherungsnehmers, sondern regelt nach seinem eindeutigen Wortlaut darüber hinaus auch die örtliche Zuständigkeit. Aus Gründen des Verbraucherschutzes räumt Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit ein, an dem Ort gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, an dem er zum Zeitpunkt der Klageerhebung seinen Wohnsitz hat (vgl. Kropholler, a. a. O., Art. 9 EuGVVO Rdnr 1; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl., Rdnr. 283).

Diese gemeinschaftsrechtliche Regelung der örtlichen Zuständigkeit führt im Ergebnis zu einer Einschränkung des Auswahlermessens im Bestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO. Die EuGVVO gilt nach Art. 249 Abs. 2 S. 2 EGV unmittelbar in den Mitgliedstaaten. Dies stellt Art. 76 Abs. 2 EuGVVO ausdrücklich klar. Als gemeinschaftsrechtlicher Sekundärrechtsakt genießt die Verordnung Anwendungsvorrang vor dem gesamten nationalen Recht einschließlich des Verfassungsrechts. Damit bleibt der Rückgriff auf die Regelungen der ZPO sowohl im Hinblick auf die internationale Zuständigkeit, als auch bezüglich der örtlichen Zuständigkeit versperrt, wenn diese - wie bei Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO - unmittelbar in der Verordnung festgelegt wird (Rauscher/Staudinger, Europäisches Zivilprozessrecht, Einl. Brüssel I VO, Rdnr. 27 ff.; Wagner, WM 2003, 116 [117, 120]). Aus dem Anwendungsvorrang der EuGVVO ist zu schließen, dass die dort geregelten Zuständigkeiten - anders als etwa die ausschließlichen Gerichtsstände der ZPO (vgl. Stein/Jonas/Roth, a. a. O., § 36 Rdnr. 30 m. w. N.) - auch im Bestimmungsverfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 ZPO zwingend beachtet werden müssen (vgl. BayObLG, RIW 1997, 596 [597]; Schlosser, EU-Zivilprozessrecht, 2 Aufl., Vorb. Art. 2 EuGVVO Rdnr. 2; Zöller/Geimer, a. a. O., Art. 2 EuGVVO Rdnr. 30).

b) Im vorliegenden Fall hat dies zur Folge, dass als zu bestimmendes Gericht von vornherein nur das LG Berlin in Betracht kommt, bei dem der Antragsteller zum Zeitpunkt der Klageerhebung seinen Wohnsitz hatte. Eine Bestimmung dieses Gerichts ist auch im Ergebnis geboten, da überwiegende Interessen der Antragsgegnerin zu 2) nicht entgegenstehen. Im Hinblick auf den Umstand, dass die Antragsgegnerin zu 2) als offizielle Vertriebspartnerin britischer Versicherungsunternehmen für den gesamten deutschen Markt auftritt, erscheint ihr Interesse ausschließlich an ihrem allgemeinen Gerichtsstand verklagt zu werden, nur bedingt schutzwürdig. Andererseits ist bei der notwendigen Interessenabwägung zu Gunsten des Antragstellers der Schutzzweck der Regelung in Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO zu berücksichtigen, auf den bereits hingewiesen wurde. Im Ergebnis ist daher dem legitimen Interesse des Antragstellers, beide Antragsgegnerinnen gemeinschaftlich zu verklagen, dem nur durch eine Bestimmung des Landgerichts Berlin Rechnung getragen werden kann, Vorrang vor den gegenläufigen Interessen der Antragsgegnerin zu 2) einzuräumen.

Ende der Entscheidung

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