Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 30.04.2007
Aktenzeichen: 4 Ws 39/07
Rechtsgebiete: MRK, StPO


Vorschriften:

MRK Art. 6 Abs. 3 lit. b
StPO § 417
StPO § 418
Hat ein Beschuldigter sich in einer polizeilichen Vernehmung zu einem einfach gelagerten Tatvorwurf geständig eingelassen, verstößt ein kurz darauf durchgeführtes beschleunigtes Verfahren regelmäßig nicht gegen Art. 6 Abs. 3 lit. b MRK. Gleiches gilt für einen im Anschluss an die Urteilsverkündung erklärten Rechtsmittelverzicht.
Geschäftsnummer: 4 Ws 39/07

1 AR 341/07

In der Strafsache gegen F. und andere,

hier nur gegen H.

wegen Diebstahls

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 30. April 2007 beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 2. Februar 2007 wird verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten im beschleunigten Verfahren am 5. September 2006 wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. In die Sitzungsniederschrift ist am Schluss als Erklärung des Beschwerdeführers aufgenommen, dass er nach erfolgter Rechtsmittelbelehrung das Urteil annehme und auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichte. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht die von dem Angeklagten am 8. September 2006 eingelegte Berufung als unzulässig verworfen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde (§§ 322 Abs. 2, 311 Abs. 2 StPO) ist zulässig, aber nicht begründet.

1. Das Landgericht hat die Berufung zu Recht nach § 322 Abs. 1 Satz 1 StPO als unzulässig verworfen. Denn der Angeklagte konnte das Urteil des Amtsgerichts nicht mehr anfechten, da er wirksam auf die Einlegung von Rechtsmitteln verzichtet hat (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO).

a) Der von ihm im Anschluss an die Verkündung des Urteils unter anderem erklärte Verzicht auf die Einlegung von Rechtsmitteln ist - ebenso wie der Rechtsmittelverzicht der Staatsanwaltschaft - in der Sitzungsniederschrift der Hauptverhandlung nach § 273 Abs. 3 Satz 3 StPO beurkundet worden. Die Niederschrift weist ferner aus, dass die protokollierte Erklärung durch den Vorsitzenden vorgelesen und von dem Angeklagten genehmigt worden ist. Die vorgenommene Beurkundung erbringt gemäß § 274 Satz 1 StPO den vollen Beweis dafür, dass der Beschwerdeführer den Rechtsmittelverzicht tatsächlich erklärt hat. Dass das Protokoll gefälscht sei, hat er nicht behauptet.

b) Ein Rechtsmittelverzicht ist als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Mai 2004 - (4) 1 Ss 174/04 (52/04) -; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl., § 302 Rdnr. 21; jeweils m.w.Nachw.). Nur in besonderen Fällen kann die Verzichtserklärung unwirksam sein. Das gilt insbesondere bei schwerwiegenden Willensmängeln, unzulässigen Absprachen oder sonstigen besonderen Umständen der Art und Weise des Zustandekommens des Rechtsmittelverzichts (vgl. Meyer-Goßner aaO § 302 Rdnrn. 21 ff m.w.Nachw.). Keiner dieser Fälle liegt hier vor.

aa) Der Angeklagte dringt mit seinem Vortrag, ein besonderer Umstand liege darin, dass er sich wegen der Kürze der Zeit zwischen seiner Festnahme und der Durchführung der Hauptverhandlung nicht im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchst. b MRK ausreichend auf seine Verteidigung habe vorbereiten können, nicht durch. Denn die Zeitspanne war vorliegend lang genug, um dem Angeklagten die erforderliche Vorbereitung zu ermöglichen.

Ausweislich der Akten erfolgte seine Festnahme am 4. September 2006 unmittelbar nach dem verfahrensgegenständlichen Diebstahl um 19.25 Uhr durch einen der Polizeibeamten, die die Tatbegehung beobachtet hatten. Die Beschuldigtenvernehmung fand, nachdem der Angeklagte die Nacht im Polizeigewahrsam verbracht hatte, am darauf folgenden Tag nach Erteilung der vorgeschriebenen Belehrungen in der Zeit von 09.45 bis 10.12 Uhr statt. Dabei legte er ein umfassendes Geständnis ab, in dem er seine Tatbeteiligung sowie die seines Mittäters beschrieb und sich auch zum Tatmotiv und der beabsichtigten Aufteilung des erlangten Diebesgutes äußerte. Die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren, in der er sich wiederum geständig einließ, wurde ebenfalls am 5. September 2006 zwischen 16.42 und 17.12 Uhr durchgeführt. Zur Vorbereitung der Verteidigung bedurfte es hier keiner längeren Zeit. Dem Tatvorwurf lag ein einfacher, überschaubarer Sachverhalt zugrunde, die Beweislage war klar. Das Tatgeschehen hat das Amtsgericht auf der Grundlage der geständigen Einlassung des Beschwerdeführers und des Mitangeklagten festgestellt. Der Vernehmung von Zeugen, auf deren Bekundungen der Angeklagte sich gegebenenfalls hätte vorbereiten müssen, bedurfte es nicht.

Der Vortrag, die Vorbereitungszeit von weniger als 24 Stunden sei zu knapp, weil es nicht im Interesse eines rechtstaatlichen Verfahrens sein könne, den Beschuldigten, der sich "unter dem Eindruck der Verhaftung und Inhaftierung befindet, in einer psychischen Ausnahmesituation zu überrumpeln", liegt neben der Sache. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 418 Abs. 1 StPO wird die Hauptverhandlung "sofort oder in kurzer Frist durchgeführt", nicht aber - wie vom Beschwerdeführer behauptet - "innerhalb einer kurzen Frist sofort". Der Beachtung des Zeitraums von (mindestens) 24 Stunden bedarf es nach § 418 Abs. 2 Satz 3 StPO nur dann, wenn der Beschuldigte gemäß Abs. 2 Satz 2 dieser Vorschrift zur Hauptverhandlung zu laden ist. Das war hier nicht der Fall, denn der Angeklagte wurde gemäß § 418 Abs. 2 Satz 1 StPO vorgeführt. Der Gesetzgeber hat, wie sich aus diesen Regelungen ergibt, eine möglichst schnelle Durchführung der Hauptverhandlung - ausdrücklich auch für vorläufig festgenommene Beschuldigte - angestrebt, sofern die Sache, wie hier, überhaupt für das Verfahren nach den §§ 417 StPO geeignet ist. Es liegen auch keinerlei Anzeichen für eine "Überrumpelung" des Beschwerdeführers in einer "psychischen Ausnahmesituation" vor, zumal er bereits gerichts- und hafterfahren ist. Aus dem Bundeszentralregisterauszug ergibt sich, dass der Angeklagte seit April 2003 mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten ist und in den Jahren 2004 und 2005 vor dem Amtsgericht Tiergarten Hauptverhandlungen gegen ihn geführt worden sind. Der Vortrag, er habe mehr als die ihm gewährte Zeit gebraucht, um sich über seine prozessualen Rechte "klar zu werden" und sich eine Verteidigungsstrategie "zurecht zu legen", ist angesichts seines strafrechtlichen Vorlebens und der dabei gewonnenen Erfahrungen im Umgang mit den Strafverfolgungsbehörden und den Gerichten nicht nachvollziehbar.

bb) Auch das weitere Vorbringen verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg. Nach Aktenlage ist der Angeklagte - entgegen seinem pauschalen Vorbringen - der deutschen Sprache hinreichend mächtig, um den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf erfassen und sich auf die Hauptverhandlung vorbereiten zu können. Er lebt seit mehr als vier Jahren in Deutschland. Nach den Urteilsfeststellungen beherrscht er die deutsche Sprache angesichts der Dauer seines Aufenthaltes hier "erstaunlich gut". Sowohl die erste Befragung nach seiner vorläufigen Festnahme als auch die Beschuldigtenvernehmung und die Hauptverhandlung sind ohne Dolmetscher durchgeführt worden. Anhaltspunkte für Verständigungsschwierigkeiten haben sich dabei offensichtlich nicht ergeben; solche sind von dem Angeklagten im Verfahren auch nicht geltend gemacht worden.

cc) Der Bestellung eines Pflichtverteidigers bedurfte es vorliegend nicht. Entgegen dem Beschwerdevorbringen kam eine (entsprechende) Anwendung des § 418 Abs. 4 StPO nicht in Betracht. Denn die konkret verhängte Freiheitsstrafe erreichte das gesetzliche Mindestmaß von sechs Monaten nicht. Es war auch weder wegen der Schwere der Tat noch wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage gemäß § 140 Abs. 2 StPO die Mitwirkung eines Verteidigers geboten.

Maßgeblich für die Beurteilung dieser Voraussetzung ist vor allem die zu erwartende Rechtsfolgentscheidung, aber auch sonstige schwerwiegende Nachteile, die der Angeklagte in der Folge der Verurteilung zu gewärtigen hat, sind zu berücksichtigen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Kammergerichts gibt in der Regel die Erwartung von einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe und mehr Anlass zur Pflichtverteidigerbestellung (vgl. etwa Senat, Beschlüsse vom 21. Juli 2006 - 4 Ws 109/06 - und StV 1998, 325; jeweils m.w.Nachw.), ohne dass es sich hierbei um eine starre Grenze handelt. Die Verhängung einer freiheitsentziehenden Sanktion von einem Jahr oder mehr kam hier, insbesondere unter Berücksichtigung der strafmildernd zu wertenden Umstände des Einzelfalles - Rückgabe des entwendeten Geldes an den Geschädigten, Geständnis bereits im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung - von vornherein nicht in Betracht. Sonstige schwerwiegende Nachteile, die sich bei einem Ausländer - wie dem Angeklagten - neben der eigentlichen strafrechtlichen Sanktion auch aus den ausländerrechtlichen Folgen einer Verurteilung ergeben können, insbesondere aus der konkreten Gefahr einer Ausweisung (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Senat, Beschluss vom 26. Januar 2000 - 4 Ws 18/00 - m.w.Nachw.), waren hier nicht von Bedeutung. Denn das mögliche Vorliegen des Ausweisungsgrundes nach § 54 Nr. 1 AufenthG im Fall der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe ohne Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung konnte sich nicht mehr negativ auf den ausländerrechtlichen Status des Beschwerdeführers auswirken. Denn gegen ihn war schon vor der Tat die Abschiebung angeordnet worden; da deren Vollzug ausgesetzt worden war, verfügt er lediglich über eine Duldung nach § 60 a AufenthG.

Die Sach- oder Rechtslage war nicht schwierig. Es handelte sich, wie dargelegt, um einen einfach gelagerten Sachverhalt mit eindeutiger Beweislage, der keine rechtlichen Probleme aufwarf. Der Umstand, dass der Angeklagte zur Tatzeit Heranwachsender (§ 1 Abs. 3 JGG) war, machte die Sache nicht schwierig. Zwar kann es im Einzelfall geboten sein, einem Heranwachsenden gemäß den §§ 109 Abs. 1 Satz 1, 68 Nr. 1 JGG, § 140 StPO einen Pflichtverteidiger zu bestellen (vgl. etwa OLG Brandenburg NStZ-RR 2002, 184 f; OLG Hamm NJW 2004, 1338 f und StV 2005, 57 f; Meyer-Goßner aaO § 140 Rdnr. 22 a; jeweils m.w.Nachw.). Wegen der Frage, ob auf den Angeklagten gemäß § 105 Abs. 1 JGG noch das Jugendstrafrecht oder aber das allgemeine Strafrecht anzuwenden ist, war die Mitwirkung eines Verteidigers jedoch nicht erforderlich. Denn es ist zu beachten, dass der Beschwerdeführer die Tat nur wenige Monate vor Vollendung seines 21. Lebensjahres begangen hat, bereits über gerichtliche Erfahrungen verfügte, eine Jugendstrafe verbüßt hatte und in der Hauptverhandlung ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe gehört wurde. Insbesondere wegen dieses letztgenannten Umstandes spricht - anders als mit der Beschwerde vorgetragen - nichts dafür, dass das Amtsgericht bei seiner Entscheidung die für die Anwendung des Jugendstrafrechts oder des allgemeinen Strafrechts maßgeblichen Gesichtspunkte außer Acht gelassen haben könnte.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.



Ende der Entscheidung

Zurück