Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 27.05.2008
Aktenzeichen: 4 Ws 49/08
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 112 a Abs. 1
StPO § 112a Abs. 1 Nr. 2
StPO § 112a Abs. 1 Nr. 2 letzter Halbsatz
StPO § 310 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
KAMMERGERICHT Beschluss

Geschäftsnummer: 4 Ws 49/08 1 AR 734/08

In der Strafsache

wegen räuberischer Erpressung u.a.

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 27. Mai 2008 beschlossen:

Tenor:

Die weitere Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 5. März 2008 wird verworfen.

Es wird davon abgesehen, dem Beschwerdeführer die Kosten seines Rechtsmittels aufzuerlegen.

Gründe:

Das Jugendschöffengericht Tiergarten in Berlin hat den Angeklagten am 20. Februar 2008 wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, räuberischer Erpressung in zwei Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit gefährlicher Körperverletzung, wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung sowie wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit Nötigung, unter Einbeziehung der Urteile des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin vom 10. Oktober 2007 und 11. Mai 2007 zu einer einheitlichen Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Zugleich hat es die Fortdauer der seit dem 16. August 2007 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Tiergarten vom 10. August 2007 - 353 Gs 4021/07 - vollzogenen Untersuchungshaft angeordnet. Der Angeklagte hat gegen das Urteil rechtzeitig Berufung eingelegt und das Rechtsmittel, über das noch nicht entschieden ist, auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht die gegen den Haftfortdauerbeschluss gerichtete Beschwerde des Angeklagten verworfen.

Die mit Schriftsatz vom 26. März 2008 erhobene weitere Beschwerde ist nach § 310 Abs. 1 StPO zulässig und trotz der zwischenzeitlich begründeten Zuständigkeit der Berufungskammer nicht in einen Antrag auf Haftprüfung umzudeuten, weil bereits dieselbe Strafkammer erst vor kurzem durch den angefochtenen, ausführlich begründeten Beschluss über die Haftverhältnisse entschieden hat und eine erneute Haftentscheidung der Strafkammer lediglich die Anrufung des Beschwerdegerichts ohne sachlichen Grund verzögern würde (vgl. Senat NStZ 2000, 444; KG, Beschluss vom 24. Juni 1999 -5 Ws 385-386/99- m.w.N.). In der Sache hat das Rechtsmittel keinen Erfolg.

1. Der dringende Tatverdacht bedarf keiner Erörterung, da der Angeklagte den Schuldspruch des Jugendschöffengerichts nicht angefochten hat.

2. Entgegen den ergänzenden Ausführungen in dem angefochtenen Beschluss kommt der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) nicht in Betracht. Der zu erwartende Strafrest nach Anrechnung der knapp über neunmonatigen Untersuchungshaft erreicht keine fluchtanreizbietende Höhe, zumal der Angeklagte als gerade 18-Jähriger noch bei seiner Mutter und seinem Stiefvater wohnt und über keine erkennbaren persönlichen Verbindungen verfügt, die ihm die Flucht ermöglichen könnten.

3. Zu Recht hat das Landgericht den Haftgrund der Wiederholungsgefahr (§ 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO) angenommen.

Der Senat verkennt nicht, dass der Haftgrund der Wiederholungsgefahr nicht der Verfahrenssicherung dient, sondern die Rechtsgemeinschaft vorbeugend vor weiteren Straftaten schützen soll, so dass an ihn aus verfassungsrechtlichen Gründen strenge Anforderungen zu stellen sind (vgl. BVerfGE 19, 342, 249 ff und 35, 195, 191; Hilger in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 112a Rdn. 10, 30).

a. Danach muss der Angeklagte zunächst dringend verdächtig sein, wiederholt, d.h. in mindestens zwei Fällen, Straftaten nach dem enumerativen Katalog des § 112 a Abs. 1 StPO begangen und dadurch die Rechtsordnung unter besonderer Berücksichtigung der Opferperspektive schwerwiegend beeinträchtigt zu haben, wofür erforderlich ist, dass die in Frage kommenden, bereits abstrakt erheblichen Strafvorschriften auch konkret in überdurchschnittlicher Weise verletzt worden sind (vgl. Senat, Beschluss vom 10. April 2007 -4 Ws 47/07-; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2006, 210, 211; OLG Dresden StV 2006, 534, 535; OLG Frankfurt/M. NStZ 2001, 75, 76). So verhält es sich hier.

Es liegen schwerwiegende, wiederholt und fortgesetzt begangene Anlasstaten im Übermaß vor, wobei der Schwerpunkt auf den Körperverletzungsdelikten beruht, weil die durch Raub oder Erpressung erzielten bzw. erstrebten Vermögensvorteile vergleichsweise niedrig ausfielen (vgl. OLG Frankfurt/M. NStZ 2001, 75, 76; Meyer-Goßner, StPO 50. Aufl., § 112a Rdn. 9; Hilger in Löwe/Rosenberg a.a.O., § 112a Rdn. 32, 34).

Dabei sind auch die früheren Taten des Angeklagten zu berücksichtigen (vgl. OLG Karlsruhe a.a.O.; OLG Köln, Beschluss vom 7. September 2004 -2 Ws 410/04-; Meyer-Goßner a.a.O., § 112a Rdn. 8 m.w.N.).

Der Verurteilung durch das Amtsgericht Tiergarten liegen sechs Taten zwischen dem 18. Februar und 18. Juni 2007 zugrunde, die in vier Fällen einen Raub bzw. eine (versuchte) räuberische Erpressung, bis auf einen Fall jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung begangen, darstellen sowie in zwei weiteren Fällen als gefährliche Körperverletzung ebenfalls unter § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO fallen. Der Angeklagte ist nach den amtsgerichtlichen Feststellungen leicht erregbar und besonders aggressiv, indem er die Geschädigten mittels kräftiger Faustschläge, teilweise mit einem die Schlagwirkung verstärkenden Feuerzeug in der Faust, teilweise gemeinschaftlich handelnd kräftig ins Gesicht schlug oder in einem Fall den Kopf des Geschädigten beim Betreten der Straßenbahn mit beiden Händen ergriff und den Geschädigten aus der Straßenbahn stieß. Hierdurch wurden in mehreren Fällen gravierende Verletzungen, darunter ein Nasenbeinbruch, Platzwunden und zwei Jochbeinfrakturen, verursacht bzw. drohte im letztgenannten Fall eine derartige Folge. Es handelt sich deshalb um eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftatenserie, was auch daran ersichtlich ist, dass einige Geschädigte noch im Gerichtssaal Angst vor dem Angeklagten hatten und nur zögerlich zu belastenden Aussagen bereit waren. Hintergrund für die Tatserie ist der Umstand, dass der Angeklagte seit mehreren Jahren als führendes, mit dem Namen " " bzw. " versehenes Mitglied der in Berlin-Marzahn weiter tätigen, zahlreiche Mitglieder umfassenden Sprayer-Gruppierung "AMS"("Atzen machen Stress" bzw. "Ausländer machen Stress") ist und er mittels der Straftaten insbesondere Schutzgelderpressungen zu seinen Gunsten bzw. Bestrafungen anderer aus nichtigem Anlass beging. Die Handlungen der Gruppierung und insbesondere die führende Rolle des Angeklagten bewirkt in den betroffenen Kreisen ein Klima der Angst. Die in diesem Verfahren erstinstanzlich festgestellten Taten sind auch Ausdruck eines seit 2004 verfestigten kriminellen Handlungsmusters des Angeklagten. Dem Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 11. Mai 2007 - 392 Ds 11/06 -, mit dem gegen den Angeklagten eine Auflage in Form von 25 Stunden Freizeitarbeiten verhängt wurde, lagen ein am 31. Oktober 2004 verübter versuchter Raub und eine am 1. August 2005 mittäterschaftlich begangene versuchte räuberische Erpressung in Tateinheit mit einer mittels Faustschlägen ins Gesicht begangenen gefährlichen Körperverletzung zugrunde. Das gegen den Angeklagten am 10. Oktober 2007 ergangene Urteil durch das Jugendschöffengericht Tiergarten - 392 - 40/07 - hatte zwei am 5. und 16. November 2006, jeweils mit mehreren Mittätern begangene Raubtaten in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Gegenstand. Wiederum wurden die Geschädigten durch Faustschläge gegen das Gesicht gefügig gemacht.

b. Die nach § 112a Abs. 1 Nr. 2 letzter Halbsatz StPO weiter erforderliche Straferwartung von mindestens einem Jahr ist durch das amtsgerichtliche Urteil auch bei notwendiger Berücksichtigung der darin einbezogenen beiden Urteilen gegeben.

c. Schließlich ist entgegen dem Verteidigungsvorbringen auch die Besorgnis, der Angeklagte werde nach einer Haftentlassung gleichartige Taten fortsetzen, begründet. Hierfür sind vor dem Hintergrund der einengenden Auslegung dieses Haftgrundes tatsächliche Umstände und eine hohe Wahrscheinlichkeit erforderlich. Anknüpfungspunkte sind neben den Tatumständen vor allem auch die Vortaten und die konkreten Lebensverhältnisse des Angeklagten (vgl. OLG Dresden a.a.O.; OLG Bremen NStZ-RR 2001, 220; Meyer-Goßner a.a.O., § 112a Rdn. 14).

Die Anlasstaten sowie die früheren Taten belegen, dass der Angeklagte zumindest seit November 2006 serienmäßig vergleichbare schwere Straftaten aus der Gruppe heraus beging und sich dabei auch nicht von der zwischenzeitlich erfolgten Verurteilung des Amtsgerichts Tiergarten vom 11. Mai 2007 abbringen ließ, denn die letzten drei Taten stammen vom 16. bis zum 18. Juni 2007. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich der Angeklagte bei einer Haftentlassung in geordneten Bahnen bewegen wird. Denn er ist seit Ende 2006 beschäftigungslos und hatte zuvor seine wenigen Ausbildungsversuche nach jeweils kurzer Zeit abgebrochen. Auch hat er während der Untersuchungshaft keinerlei Anstrengungen unternommen, sich um einen Ausbildungsplatz zu kümmern oder für sich selbst konkrete berufliche Vorstellungen zu entwickeln; eine positive Entwicklung ist somit derzeit nicht feststellbar. Berücksichtigt werden muss, dass sich der Angeklagte in der Vergangenheit dem Einfluss seiner Mutter entzogen und nach eigenem Bekunden keine Freunde hat, sondern allein in der Gruppierung "AMS" Halt und offenbar durch seine Straftaten auch Anerkennung findet. Es ist sicher zu erwarten, dass er sich nach einer Haftentlassung alsbald wieder dieser Gruppe anschließen, möglicherweise auch wieder an führender Stelle, und weitere entsprechende Straftaten begehen wird. Das Verteidigungsvorbringen gibt keinen Anlass, von dieser Erwartung abzurücken. Auch wenn der Angeklagte bereits während seiner polizeilichen Vernehmungen und in der amtsgerichtlichen Hauptverhandlung einige seiner Gruppenmitglieder namentlich preisgegeben hat und andere Führungsmitglieder ebenfalls inhaftiert sein sollten, hat er sich erkennbar noch nicht von der Gruppe gelöst. Dies kommt bereits dadurch zum Ausdruck, dass er sich bei den polizeilichen Vernehmungen nur teilgeständig zeigte und trotz ausdrücklicher Nachfragen bereits damals mehrfach Namen von Beteiligten aus der Gruppe nicht preisgab. Zwar zeigte er sich in der Hauptverhandlung nunmehr weitgehend geständig, widerrief dabei aber teilweise seine früheren Angaben zu Tatbeteiligten und verweigerte erneut mehrfach die Nennung von Mittätern. Im ersten Fall musste er sogar erst vom Mitangeklagten und Gruppenmitglied P. dazu aufgefordert werden, dessen Namen - wie schon in der polizeilichen Vernehmung - erneut preiszugeben. Schließlich ist die Fortsetzung der früheren Straftaten auch wegen des Alkohol- und Marihuanakonsums des Angeklagten zu befürchten, denn andere Finanzierungsquellen stehen ihm nicht zur Verfügung. 4. Mildere Maßnahmen als der Vollzug der Untersuchungshaft vermögen deren Zweck zurzeit nicht zu erfüllen.

5. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet auch nicht die Aufhebung des Haftbefehls oder dessen Außervollzugsetzung. Das Ermittlungsverfahren ist nach der Verhaftung des Angeklagten angesichts der während der Ermittlungen gestiegenen Anzahl an Tatvorwürfen und Beschuldigten mit der gebotenen Beschleunigung geführt worden. Das Amtsgericht hat nach Eingang der Anklageschrift am 23. November 2007 alsbald am 11. und 20. Februar 2008 verhandelt. Allein der Umstand, dass die Akten bei einer offenkundig unzuständigen Berufungskammer knapp über drei Wochen unbearbeitet lagen, führt nicht zur Annahme einer durchgreifenden Verfahrensverzögerung. Denn der Vorsitzende der zuständigen Berufungskammer hat bereits einen Tag nach Eingang der Akten am 7. Mai 2008 die Berufungshauptverhandlung für den 17. Juli 2008 terminiert und damit etwaige Verzögerungen durch eine besonders zügige Sachbehandlung ausgeglichen.

Anhaltspunkte, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Jugendstrafe außer Verhältnis steht, sind nicht ersichtlich (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 74 JGG.

Ende der Entscheidung

Zurück