Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 06.10.2008
Aktenzeichen: 4 Ws 89/08
Rechtsgebiete: MRK


Vorschriften:

MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1
Stellt die Verteidigung sukzessiv immer neue Beweisanträge, nachdem das Gericht sein Beweisprogramm schon abgeschlossen hat, führen die durch die sachgerechte Bearbeitung der Anträge auftretenden, der Justiz grundsätzlich nicht zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen auch bei einer längeren Zeitdauer nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft i.S.V. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK.
KAMMERGERICHT Beschluss

Geschäftsnummer: 1 AR 1185/08 - 4 Ws 89/08

In der Strafsache

wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz u. a.

hat der 4. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 6. Oktober 2008 beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts Berlin vom 15. August 2008 in Verbindung mit dem Nichtabhilfebeschluss vom 10. September 2008 wird mit der Maßgabe, dass der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr entfällt, verworfen.

Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:

Gegen den Beschwerdeführer ist zurzeit das Hauptverfahren vor dem Landgericht Berlin anhängig. Dem Verfahren liegen betreffend den Beschwerdeführer zwei (verbundene) Anklagen der Staatsanwaltschaft Berlin zugrunde. Der mit dem Anklagesatz vom 20. Oktober 2006 (69 Js 250/05) hinsichtlich der Tatvorwürfe übereinstimmende Haftbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 2. August 2005 (351 Gs 3183/05) legt dem Angeklagten zur Last, von März bis Mai 2004 durch zwei selbstständige Handlungen mit Betäubungsmitteln jeweils in nicht geringer Menge (erster Fall = Fallakte 47: 100 Kilogramm Haschisch und drei Kilogramm Kokain; zweiter Fall : 100 Gramm Kokain) unerlaubt Handel getrieben zu haben und im ersten Fall zugleich vorsätzlich einen anderen zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge bestimmt zu haben. Aufgrund dieses Haftbefehls befindet sich der Beschwerdeführer seit dem 8. September 2006 in Untersuchungshaft. Mit der Anklageschrift vom 18. September 2006 (52 Js 389/04) wird dem Beschwerdeführer vorgeworfen, am 2. November 2003 zur Täuschung im Rechtsverkehr eine unechte Urkunde (gefälschter griechischer Reisepass) gebraucht und hierbei zugleich sich ohne Pass und Ausweisersatz im Bundesgebiet aufgehalten zu haben. Den insoweit erlassenen Haftbefehl vom 1. Juli 2004 (351 Gs 2596/04) hat der Senat durch Beschluss vom 29. April 2008 aufgehoben. Für beide Verfahren ist der Beschwerdeführer am 8. September 2006 aus Portugal ausgeliefert worden; er hat sich dort seit dem 16. August 2006 in Auslieferungshaft befunden. Die Hauptverhandlung vor dem Landgericht hat am 20. Februar 2007 begonnen, ein Urteil ist bisher nicht ergangen. Mit Beschluss vom 19. November 2007 hat das Landgericht den Antrag des Beschwerdeführers auf Aufhebung der beiden Haftbefehle zurückgewiesen. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat der Senat mit Beschluss vom 17. Dezember 2007 verworfen. Auf erneuten Antrag des Angeklagten auf Aufhebung der genannten Haftbefehle hat das Landgericht mit Entscheidung vom 7. März 2008 beschlossen, dass die Haftverhältnisse fortdauern. Auf die hiergegen gerichtete Beschwerde des Angeklagten hat der Senat durch Beschluss vom 29. April 2008 den Haftbefehl vom 1. Juli 2004 aufgehoben und im Übrigen die Beschwerde verworfen. Den Antrag des Angeklagten vom 4. August 2008, den Haftbefehl vom 2. August 2005 aufzuheben, hat das Landgericht durch seinen Beschluss vom 15. August 2008 zurückgewiesen. Die Beschwerde des Angeklagten hat keinen Erfolg.

1. Dringender Tatverdacht und Fluchtgefahr liegen weiterhin vor, auch sind keine milderen Maßnahmen nach § 116 StPO geeignet, den Zweck der Untersuchungshaft zu sichern. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die Gründe seiner Beschlüsse vom 17. Dezember 2007 und 29. April 2008, die insoweit fortgelten.

Soweit die Strafkammer in ihrem Nichtabhilfebeschluss vom 10. September 2008 als zusätzlichen Haftgrund Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 3 StPO angenommen hat, liegen die Voraussetzungen nicht vor. Dieser Haftgrund ist nur gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen das Verhalten des Angeklagten den dringenden Verdacht begründet, er werde eine der in § 112 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe a bis c StPO umschriebenen, auf Beweisvereitelung abzielenden Handlungen vornehmen, und deshalb die Gefahr droht, dass die Ermittlung der Wahrheit erschwert werde (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Beschluss vom 31. März 2006 - 4 Ws 58/06 - m.w.N.). Die Umstände, dass der Angeklagte im März 2007 in der Haftanstalt ein Mobiltelefon mit benutzte und zuletzt aus dem Krankenhaus der Berliner Justizvollzugsanstalten über eine Mitpatientin Briefkontakt zu seiner Lebensgefährtin hatte, genügen diesen hohen Anforderungen nicht. Hieraus ergibt sich lediglich, dass der Angeklagte unkontrollierte Kontakte wahrnahm, nicht jedoch liegen damit konkrete Hinweise vor, dass er diese Kontakte auch zu Beweismanipulationen genutzt hat bzw. nutzen will. Im Übrigen macht dies vor dem Hintergrund, dass die Beweisaufnahme bereits weitestgehend abgeschlossen ist, auch wenig Sinn.

2. Die Fortdauer der Untersuchungshaft ist auch weiterhin noch verhältnismäßig (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

Unter Zugrundelegung des bereits im Senatsbeschluss vom 29. April 2008, auf den angesichts des vergleichsweise geringen Zeitablaufs verwiesen wird (vgl. VerfGH, Beschluss vom 25. April 2008 - VerfGH 164/07, 164 A/07 -), im Einzelnen dargelegten Maßstabes und der dortigen Ausführungen, die der verfassungsrechtlichen Überprüfung standgehalten haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 2008 - 2 BvR 1062/08 -) und aufgrund des insoweit ergänzenden, in der Sache aber unwesentlichen Antragsvorbringens nicht abzuändern sind (vgl. auch VerfGH, Beschluss vom 23. Dezember 1992 - 38/92 -), gibt auch der weitere Fortgang des Verfahrens keinen Anlass zu einer Änderung der Haftverhältnisse.

Die nach wie vor geringe Terminierungsdichte hat sachlich nachvollziehbare Gründe und ist der Justiz nicht anzulasten. Seit dem Senatsbeschluss fanden am 30. April, 5., 22., 28. und 30. Mai, 2. Juni, 18. Juli, 7., 15. und 21. August, 10., 16. und 30. September, 2. Oktober 2008 Sitzungen statt, wobei an lediglich zwei Terminen länger als vier Stunden verhandelt wurde. Eine Verfestigung der vom Senat in seinem vorgenannten Beschluss festgestellten Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes und eine damit einhergehende Verletzung des Freiheitsgrundrechts des Angeklagten gemäß Art 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist jedoch aus folgenden zwei Gründen weiterhin nicht gegeben.

Zum einen erklärt sich die weitere Terminierung aus dem Verhalten der Verteidigung, seit August 2007, verstärkt ab dem 8. Oktober 2007 - und wie weiterhin angekündigt - sukzessiv Beweisanträge zu stellen. Die Strafkammer hat ihr eigenes Beweisprogramm schon seit langem abgeschlossen und ist in den weiteren Terminen, wie im Einzelnen in dem Nichtabhilfebeschluss der Kammer vom 10. September 2008 dargestellt und bereits weitgehend im Senatsbeschluss vom 29. April 2008 behandelt, Beweisanträgen der Verteidigung nachgegangen. Dass sich in diesem weit fortgeschrittenen Verfahrensstadium aufgrund der von der Kammer anzustellenden Ermittlungen bzw. Verfügungen Verzögerungen ergeben können und eine straffe Terminierung im Gegensatz zum Beginn eines Verfahrens (vgl. KG, Beschluss vom 15. März 2007 - 2 Ws 166-167/07 -; OLG Hamm, StV 2006, 191 ff; Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl., § 120 Rdn. 3) nicht ohne weiteres mehr möglich ist, liegt auf der Hand und ist der Justiz bei wie hier sachgerechter Bearbeitung der Anträge nicht anzulasten (vgl. BGH NJW 2005, 2466 ff; Senat, Beschluss vom 27. Dezember 2006 - 4 Ws 215/06 -; KG, Beschluss vom 25. Februar 2008 -(3) 1 HEs 9/08 (7/08); KG, Beschluss vom 4. September 2003 - 5 Ws 467/03 -; KG, Beschluss vom 29. Juni 1981 - (2) 1 HEs 40/91 (11/81) -; OLG Düsseldorf MDR 1987, 1048; LR-Hilger, StPO 26. Aufl., § 120 Rdn. 16 b, 34, 38; Meinen in Heghmann/Scheffler, Handbuch zum Strafverfahren, Untersuchungshaft, Rdn. 226; Meyer-Goßner, StPO 51. Aufl., § 121 Rdn. 21; KK-Boujong, StPO 5. Aufl., § 121 Rdn. 16, 21; siehe auch die Hinweise des BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -, zu einem unlauteren, das Verfahren verzögernden Verhalten der Verteidigung, Rdn. 56, sowie zum vorgeschlagenen Procedere einer Fristsetzung BGH a.a.O.). Vorliegend ergaben sich notwendigerweise längere Zeitabläufe bereits dadurch, dass für erkennende Richter nebst der Ergänzungsrichterin aus einem Parallelverfahren, zwei Staatsanwälte und einen Polizeibeamten Aussagegenehmigungen, zum Teil erst auf Gegenvorstellungen der Strafkammer hin eingeholt und damit die Verwaltungsentscheidungen anderer Behörden abgewartet werden mussten. Neben Zeugenvernehmungen wurden vor allem die Vernehmungsprotokolle des Hauptbelastungszeugen weiter verlesen - die zu Beschleunigungszwecken vorzugswürdige Einführung im Selbstleseverfahren schied seinerzeit wegen des Mitangeklagten G. aus - und weitere Urkunden verlesen. Die Zeugin A. wurde nach Eintritt der Rechtskraft ihres Freispruchs notwendigerweise nachvernommen, sie berief sich in der Hauptverhandlung - wie angekündigt - auf ihr Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO. Die zunächst zum 28. Mai beabsichtigte, infolge Erkrankung alsbald am 2. Juni 2008 nachgeholte Vernehmung der Staatsanwältin B. erklärt sich aus ihrer vorherigen urlaubsbedingten Abwesenheit. Schließlich ist auch nichts dagegen zu erinnern, dass der Zeuge und Sachverständige M. erst am 21. August 2008 vernommen wurde. Zum einen ist sein Gutachten bereits am 30. Mai 2008 verlesen worden und zum anderen war auch dieser Zeuge für einen früheren Termin im August urlaubsbedingt entschuldigt. Die längere Unterbrechung der Hauptverhandlung vom 21. August bis zum 10. September 2008 war bis Ende August den Urlauben der beiden Verteidiger des Angeklagten, danach dem einwöchigen Urlaub des Vorsitzenden (vgl. zum Urlaubsanspruch der Richter BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07 -; KG, Beschluss vom 15. März 2007 - 2 Ws 166-167/07 -) geschuldet.

Dass die Kammer den zügigen Fortgang des Verfahrens betreibt, wird auch daran erkennbar, dass das Verfahren gegen den Mitangeklagten G. am 2. Juni 2008 abgetrennt und am 12. Juni 2008 mit seiner Verurteilung beendet werden konnte. Die lediglich noch bis zum 30. Oktober 2008 fortgeschriebene Terminierung ist vor dem Hintergrund, dass die Kammer nahezu ausschließlich noch Beweisanträgen der Verteidigung nachgeht und ihr danach jederzeit eine rasche Verfahrensbeendigung möglich wäre, nachvollziehbar. Die weitere Terminierung - vorgesehen sind der 10., 22. und 30. Oktober 2008 - genügt dem Beschleunigungsgrundsatz angesichts des Verfahrensstandes und dem noch teilweise offenen Beweisprogramm angesichts nur angekündigter Beweisanträge der Verteidigung und lässt keine absehbare Verfahrensverzögerung erkennen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2005 - 2 BvR 1964/05 -; VerfGH, Beschluss vom 25. April 2008 - VerfGH 164/07, 164 A/07 -).

Die zweite wesentliche, der Justiz nicht anzulastende Ursache für die nach wie vor geringe Terminierungsdichte liegt darin, dass sich der Angeklagte am 4. Juni 2008 einer schweren Herzklappenoperation unterziehen musste und das Verfahren durch die anschließende vorübergehende Verhandlungsunfähigkeit gemäß § 229 Abs. 3 StPO vom 4. Juni bis zum zunächst 7. Juli, verlängert bis zum 16. Juli 2008 notwendigerweise unterbrochen war (vgl. BVerfGE 36, 264, 274 f.; Senat, Beschluss vom 27. Dezember 2006 - 4 Ws 215/06 -; KG, Beschluss vom 8. Februar 2005 - (5) 1 HEs 18/05 (8/05) -). Nach ärztlicher Auskunft war der Angeklagte zunächst bis zum 21. Juli 2008 verhandlungsunfähig und erst nach nochmaliger Rücksprache mit dem behandelnden Arzt war eine maximal halb- und später zweistündige, tatsächlich 15-minütige Hauptverhandlung am 18. Juli 2008 und damit noch gerade rechtzeitige Fortsetzung des Verfahrens möglich. Für die weiteren Sitzungen wurde ärztlicherseits eine Verhandlungsfähigkeit von zwei bis drei Stunden bei planmäßigen Genesungsfortschritten attestiert. Die zurückhaltende Terminierung und jeweils kurze Sitzungsdauer der Strafkammer ist im August und bis Mitte September daher auch aus diesem Grunde gerechtfertigt.

Soweit die Verteidigung geltend macht, die weitere Inhaftierung des Angeklagten sei wegen Verurteilungen von Beteiligten (Mitangeklagter G., der gesondert Verfolgte M.) zu niedrigeren Freiheitsstrafen unter Berücksichtigung der Anrechnung der Auslieferungshaft und der Dauer der Untersuchungshaft nicht weiter zulässig, bleibt der Senat unter Hinweis auch auf die unterschiedlichen Tatbeiträge der Beteiligten, soweit es dieselbe Taten betrifft, aus den in seinem Beschluss vom 29. April 2008 dargelegten Gründen, insbesondere aber aufgrund der erheblichen und auch einschlägigen Vorstrafen des bereits hafterfahrenen Angeklagten, bei seiner hohen Straferwartung.

Schließlich gebietet auch nicht die durch die körperliche Beeinträchtigung vorhandene besondere Haftempfindlichkeit des Angeklagten die Beendigung der Untersuchungshaft (vgl. zum restriktiven Maßstab im Krankheitsfalle Senat, Beschluss vom 10. August 1989 - 4 Ws 182/89 -; OLG Nürnberg StV 2006, 314; Meyer-Goßner, a.a.O., § 112 Rdn. 11 a). Der Umstand, dass im Haftkrankenhaus die medizinisch indizierten Rehabilitationsmaßnahmen nicht im vollen Umfang durchgeführt werden konnten, ist nach den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen zutreffend, aber nicht entscheidend. Denn der Angeklagte selbst hatte nach der Operation eine ihm angebotene Rehabilitationsbehandlung in einem externen Krankenhaus wegen der fortdauernden Sicherheitsmaßnahmen abgelehnt. Im Übrigen fanden Rehabilitationsmaßnahmen statt und der Angeklagte, der am 15. September 2008 aus dem Haftkrankenhaus entlassen wurde und sich seitdem wieder in der JVA Moabit befindet, soll nach dem Vorbringen der Verteidigung seitdem wieder uneingeschränkt verhandlungsfähig sein. Angesichts der von der Kammer bereits abgearbeiteten Beweisanträge und lediglich weiterer angekündigter Anträge seitens der Verteidigung waren der Strafkammer jedoch ab diesem Zeitpunkt keine längeren Sitzungen mehr möglich.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

Ende der Entscheidung

Zurück