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Beginn der Entscheidung

Gericht: Kammergericht Berlin
Beschluss verkündet am 18.05.2004
Aktenzeichen: 5 Ws 172/04
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 329 Abs. 1
StPO § 44 Abs. 1
StPO § 45 Abs. 2
Sind vom Angeklagten vorgetragene Entschuldigungsgründe zur Nichtteilnahme an der Hauptverhandlung dem Richter nicht vor oder in der Hauptverhandlung bekannt geworden, handelt es sich um neue Gründe, für die die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorgesehen ist. Die Zulässigkeit eines solchen Antrags setzt voraus, dass der Antragsteller einen Sachverhalt vorträgt, der ein Verschulden, das dem Wiedereinsetzungsantrag entgegensteht, ausschließt. Zur Frage, ob ein Attest über die Arbeitsunfähigkeit ausreicht, wenn die Diagnose auf Schlüsselzahlen des ICD 10 Bezug nimmt.
5 Ws 172/04

In der Strafsache

wegen versuchter Nötigung u. a.

hat der 5. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin am 18. Mai 2004 beschlossen:

Tenor:

Auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluß des Landgerichts Berlin vom 19. März 2004 aufgehoben.

Der Angeklagte wird gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung am 3. März 2004 in den vorigen Stand eingesetzt.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu tragen. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer in diesem Rechtszug erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Landeskasse Berlin auferlegt.

Gründe:

Das Amtsgericht Tiergarten in Berlin hat den Angeklagten am 5. November 2003 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt. Für die Verhandlung über seine Berufung hat das Landgericht Termin auf den 3. März 2004 bestimmt und den Angeklagten am 12. Februar dazu geladen. Mittels Fax übersandte der Angeklagte ein Entschuldigungsschreiben nebst einer am 1. März 2004 ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für die Zeit vom 2. bis 5. März 2004, die eine kodierte Diagnose (R 10.1 G und K 52.9 G) enthielt. Das Fax ist bei dem Landgericht am 2. März 2004 um 15.11 Uhr eingegangen, dem Richter aber vor der Hauptverhandlung nicht vorgelegt worden. Zu ihr ist der Angeklagte nicht erschienen. Das Gericht hat deshalb seine Berufung nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen. Das Berufungsurteil ist dem Beschwerdeführer am 24. März 2004 zugestellt worden. Den unter Hinweis auf die durch Fax übermittelten Mitteilungen gestellten, am 30. März 2004 bei Gericht eingegangenen und mit der Revisionseinlegung verbundenen Wiedereinsetzungsantrag verwarf das Landgericht als unzulässig. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde (§§ 329 Abs. 3, 46 Abs. 3 StPO) des Angeklagten hat Erfolg.

1. Die Wiedereinsetzungsvorschriften finden Anwendung. Für Angriffe gegen die Nichtanerkennung vorgetragenen Entschuldigungsgründe ist zwar grundsätzlich die Revision das allein geeignete Rechtsmittel (vgl. KG, Beschluß vom 27. Februar 2002 - 5 Ws 116/02 - m.weit.Nachw.). Das gilt aber nur, wenn die Gründe dem erkennenden Richter in der Hauptverhandlung bekannt waren und von ihm im Urteil behandelt oder rechtsfehlerhaft nicht erörtert worden sind. Sind hingegen die Gründe rechtzeitig bei dem Landgericht eingegangen, dem erkennenden Richter aber nicht vor oder in der Hauptverhandlung bekannt geworden, handelt es sich um neue Gründe, für die auch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorgesehen ist (vgl. KG aaO). So liegt es hier.

Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Der Angeklagte hat Tatsachen vorgetragen und glaubhaft gemacht (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO, die, wenn auch nicht seine Verhandlungsfähigkeit aufgrund schwerer körperlicher oder seelischer Beeinträchtigung (vgl. KG, Beschluß vom 29. Januar 1999 - 5 Ws 35-36/99 -m.weit.Nachw. auch zum Rechtsbegriff der Verhandlungsunfähigkeit) begründen, so doch die Unzumutbarkeit belegen, zur Verhandlung zu erscheinen (vgl. OLG Karlsruhe NJW 1995, 2571; KG, Beschluß vom 27. Februar 2002 - 5 Ws 116/02 -).

Zur Zulässigkeit eines Wiedereinsetzungsantrages gehört es, daß der Antragsteller einen Sachverhalt vorträgt (§ 45 Abs. 2 StPO) der ein Verschulden, das der Wiedereinsetzungsantrag entgegensteht (§ 44 Abs. 1 StPO), ausschließt (vgl. KG, Beschluß vom 18. September 2002 - 5 Ws 492/02 -; Meyer-Goßner, StPO 47. Aufl., § 45 Rdn. 5). Erforderlich hierzu ist eine genaue Darstellung der Tatsachen, die für die Frage bedeutsam sind, wie und gegebenenfalls durch welche Umstände es zu der Versäumung der Hauptverhandlung gekommen ist (vgl. KG, Beschluß vom 18. September 2002 - 5 Ws 492/02 -).

Eine zeitnahes ärztliches Attest, das Art und Schwere der Erkrankung mitteilt, reicht in der Regel aus, um die Verhandlungsfähigkeit zu prüfen oder den Schluß zu rechtfertigen, dem Angeklagten sei die Teilnahme an der Hauptverhandlung nicht zuzumuten gewesen (vgl. OLG Karlsruhe aaO; KG, Beschluß vom 27. Januar 2002 - 5 Ws 116/02 -).

2. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist anläßlich eines Arztbesuches zwei Tage vor der Berufungsverhandlung ausgestellt worden. Sie enthält die nach der Klassifikation ICD 10 verschlüsselte, unter Verwendung dieses Verzeichnisses aber unschwer im Klartext festzustellende Diagnose. Der Beschwerdeführer litt danach an Schmerzen im Bereich des Oberbauches (R 10.1 und nichtinfektiöser Gastroenteritis und Kolitis, u. a. Diarrhöe (K 52.9). Daß insbesondere letztgenannte Erkrankung oft Angeklagte "befällt", die einen Gerichtstermin nicht wahrnehmen wollen, rechtfertigt nicht den Schluß, daß es auch hier so gewesen ist. Die Bescheinigung enthält zwar - worauf das Landgericht zum Nachteil des Beschwerdeführers abstellt - keine Verordnung von Bettruhe, der mindestens für die Unzumutbarkeit der Terminswahrnehmung hohe Beweiskraft zukäme (vgl. OLG Hamm StV 1993, 7) und gegen die Zumutbarkeit des Erscheinens spräche (vgl. KG aaO). Nicht gerechtfertigt ist aber der Umkehrschluß, daß das Fehlen einer solchen Anordnung die Zumutbarkeit belegt. Es kommt deshalb nicht mehr darauf an, daß der Beschwerdeführer zwar krankheitsbedingte Bettlägerigkeit behauptet, sie aber nicht glaubhaft gemacht hat. Entsprechendes gilt für sein Vorbringen, es habe sich um eine infektiöse Erkrankung, verbunden mit Fieber gehandelt und - in der Beschwerdeschrift ergänzend - auch mit Schwäche- und Schwindelanfällen, wofür sich aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ebenfalls nichts ergibt.

Das Landgericht hat eine "infektiöse Erkrankung mit Fieber" offenbar unterstellt, aber nicht dargelegt, woraus es seine Beurteilung ableitet, diese habe nicht den Schweregrad gehabt, der den Beschwerdeführer ein Erscheinen vor dem Berufungsgericht unzumutbar gemacht habe. Aus dem zur Begründung angeführten Vortrag des Antragstellers ergibt sich derartiges nicht. Soweit das Landgericht dies daraus herleitet, der Angeklagte habe sein Schreiben vom 2. März 2004 abfassen, maschinenschriftlich niederlegen, mit mehreren Anlagen versehen und zu einem Kopierladen und sodann zu einem von diesem ca. 100 m entfernten Briefkasten tragen können, trägt diese Begründung nicht. Denn damit bejaht das Landgericht die Zumutbarkeit des Erscheinens vor Gericht zum Nachteil des Beschwerdeführers deshalb, weil er sich rechtzeitig um eine ärztliche Bescheinigung und deren rasche Weiterleitung an das Gericht bemüht hat und wendet so dessen ordnungsgemäßes Verhalten gegen ihn. Diese Überlegungen sind auch aus medizinischer Sicht nicht haltbar. Denn die diagnostizierte Krankheit mag zwar kurzfristiges Verlassen der Wohnung gestatten, aber keine längere Abwesenheit zur Wahrnehmung einer Gerichtsverhandlung, zumal dann, wenn dazu - wie hier - eine lange Anreise (von Aachen nach Berlin) erforderlich ist.

Auf die von dem Landgericht angestellten und von der Beschwerde kritisierten Erwägungen, der Beschwerdeführer sei ferngeblieben, weil er aus Geldmangel die verordneten Medikamente nicht gekauft habe und die Kosten für die Bahnfahrt nicht habe tragen können, kommt es danach nicht mehr an. Das gilt auch für den vom Landgericht erhobenen unberechtigten Vorwurf, der Beschwerdeführer habe das Attest nicht rechtzeitig übersandt und seine ebenfalls aus Aachen angereiste Verteidigerin nicht informiert. Diese hat in ihrer Beschwerdeschrift mitgeteilt, sie habe sich bereits seit dem Morgen des 2. März 2004 telefonisch unerreichbar in Berlin aufgehalten.

Für den Senat erschließt sich schließlich die Berechtigung der Schlußfolgerung des Landgerichts nicht, der Beschwerdeführer sei so ernstlich krank nicht gewesen, weil er als auch in Berlin Gerichtskundiger hätte abschätzen können, daß sein kurz vor Dienstschluß übermitteltes Fax - ohne optischen Hinweis auf dessen Dringlichkeit - am nächsten Morgen dem Gericht eher nicht vorliegen werde. Mit einem derartig grundlegenden organisatorischen Mangel im Geschäftsablauf muß auch ein gerichtserfahrender Angeklagter nicht rechnen.

Für die - von dem Landgericht nicht angestellte - wertende Betrachtung, die die Entscheidung über die Zumutbarkeit verlangt, ist hingegen der Verfahrensverlauf wesentlich (vgl. KG aaO und Beschluß vom 29. Januar 1999 - 5 Ws 35-36/99 -). Er bietet hier keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Angeklagte verzögere bewußt den Ablauf des Verfahrens. Zu dem Hauptverhandlungstermin vor dem Amtsgericht - wenn auch am 12. August 2003 erheblich (ca. drei Stuunden) verspätet - ist der Beschwerdeführer stets erschienen. Seinem Wiedereinsetzungsantrag ist nach alledem stattzugeben.

Die Kosten der Wiedereinsetzung fallen nach § 473 Abs. 7 StPO dem Beschwerdeführer zur Last. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers in diesem Rechtszug folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.

Ende der Entscheidung

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