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Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 16.03.2004
Aktenzeichen: 18 Sa 41/03
Rechtsgebiete: BGB, SchwBG, SGB IX, VwGO, ArbGG, ZPO


Vorschriften:

BGB § 626 Abs. 1
BGB § 626 Abs. 2
SchwBG § 21
SGB IX § 91
SGB IX § 91 Abs. 5
SGB IX § 118
VwGO §§ 68 ff
VwGO §§ 69 ff
VwGO § 73 Abs. 3
ArbGG § 64 Abs. 6
ArbGG § 66 Abs. 1
ZPO § 519
ZPO § 520
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg Im Namen des Volkes Urteil

Aktenzeichen: 18 Sa 41/03

verkündet am 16.03.2004

In dem Rechtsstreit

hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 18. Kammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Jaeniche, den ehrenamtlichen Richter Groeger, und den ehrenamtlichen Richter Kilb auf die mündliche Verhandlung vom 16.03.2004

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 16.12.2003 - 11 Ca 3529/02 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer von der Beklagten am 27.03.2002 ausgesprochenen fristlosen Kündigung.

Der 35-jährige, verheiratete und einem Kind unterhaltspflichtige Kläger ist seit Juni 1991 bei der ca. 1000 Arbeitnehmer beschäftigenden Beklagten als Einsteller zu einem Monatsverdienst von zuletzt ca. 3.000,- € tätig. Ihm ist ein Grad der Behinderung von 50 zuerkannt. Auslöser der Kündigung vom 27.03.2002 war, dass der Kläger am 21.09.2001 gegen 20.00 Uhr den Arbeitsplatz verlassen und einen Arbeitskollegen dazu veranlasst hat, seine Anwesenheit erst für 23.00 Uhr mit der Zeiterfassungskarte abzustempeln. Nach zustimmendem Bescheid des Widerspruchsausschusses des Integrationsamts vom 26.03.2002 kündigte die Beklagte am 27.03.2002 nach gleichzeitiger Zustellung des Bescheids fristlos.

Die am 03.04.2002 beim Arbeitsgericht eingegangene Klage wurde mit Urteil des Arbeitsgerichts vom 16.12.2003 abgewiesen. Das Verhalten des Klägers mit Hilfe eines Dritten die unberechtigte Bezahlung von drei Arbeitsstunden durch unkorrektes Abstempeln der Zeiterfassungskarte erreichen zu wollen, sei gravierende Vertragsverletzung und rechtfertige unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessen die fristlose Kündigung. Ungeachtet der mündlichen Bekanntgabe der zustimmenden Entscheidung des Widerspruchsausschusses vom 19.02.2002 sei die Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB mit Zugang der Kündigung beim Kläger am 27.03.2002 gewahrt, da im Widerspruchsverfahren nach den Vorschriften der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) die Zustellung des schriftlichen Bescheids maßgeblich sei.

Gegen das am 19.12.2003 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24.12.2003 Berufung eingelegt und diese am 05.01.2004 begründet. Nach der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sei nach der Regelung über die Zustimmung des Integrationsamts die Kündigung noch nach Ablauf der Zweiwochenfrist möglich, wenn sie unverzüglich erklärt werde. Nach der § 21 SchwBG entsprechenden Vorschrift des § 91 SGB IX sei für den Lauf der Zweiwochenfrist im Gegensatz zur ordentlichen Kündigung ausdrücklich keine Zustellung, sondern nur die Kenntnis der Entscheidung maßgeblich. Eine Erteilung der Zustimmung im Sinne von § 91 Abs. 5 SGB IX erfolge daher mit der (fern-)mündlichen Bekanntmachung und nicht erst durch Zustellung der Widerspruchsentscheidung.

Die Beurteilung der fristlosen Kündigung sei nicht an einer strafrechtlichen Würdigung zu orientieren. Der einmalige Verstoß gegen arbeitsrechtliche Pflichten bei mehr als zehnjähriger Betriebszugehörigkeit, der Schwerbehinderung des Klägers und unter Berücksichtigung seiner Unterhaltspflichten gebiete, dass die Interessenabwägung zu Gunsten des Klägers ausfallen müsse.

Demgemäß beantragt der Kläger:

Unter Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 16.12.2003, 11 Ca 3529/02, wird festgestellt, dass die Kündigung der Beklagten vom 27.03.2002 unwirksam ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung wird zurückgewiesen.

Die fristlose Kündigung sei unter Beachtung der Zweiwochenfrist ausgesprochen. Der Kläger unterscheide nicht genügend zwischen der dem Zustimmungsverfahren vor den Integrationsämtern zugeordneten Vorschrift des § 91 SGB IX und dem an den Vorschriften der §§ 69 ff VwGO orientierten Widerspruchsverfahren, das eine förmliche Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids fordere. Dies werde mittelbar durch § 118 SGB IX bestätigt, der die Zuständigkeit für den Erlass von Widerspruchsbescheiden gegen die Verwaltungsakte der Integrationsämter regele. Die vom Kläger zitierte Rechtssprechung sei daher nicht einschlägig. Das Arbeitsgericht habe auch das Verhalten des Klägers zutreffend unter umfassender Einzelfallbetrachtung als Grundlage für eine fristlose Kündigung gewertet.

Entscheidungsgründe:

I.

Die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des Arbeitsgerichts ist statthaft (§§ 8 Abs. 2 Lit. c ArbGG), denn die Parteien streiten über die Wirksamkeit der von der Beklagten mit Schreiben vom 27.03.2002 ausgesprochenen fristlosen Kündigung. Das Rechtsmittel ist form- und fristgerecht eingelegt und vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist ordnungsgemäß ausgeführt worden, sodass es nach §§ 64 Abs. 6, 66 Abs. 1 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO zulässig ist. Die Berufung des Klägers kann in der Sache jedoch keinen Erfolg haben. Die von der Beklagten ausgesprochene Kündigung ist rechtzeitig ausgesprochen und in der Sache begründet.

II.

1. Die mit Schreiben der Beklagten vom 27.03.2002 erklärte Kündigung hat, wie das Arbeitsgericht zutreffend angenommen hat, das seit 01.06.1991 mit der Beklagten bestehende Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung aufgelöst.

2. Die Beklagte hat mit dem Ausspruch der fristlosen Kündigung am 27.03.2002 die maßgebliche Zweiwochenfrist nach § 626 Abs. 2 BGB gewahrt. Nach ablehnender Entscheidung des Integrationsamts über den Antrag der Beklagten auf Zustimmung zur fristlosen Kündigung des Klägers richtet sich das anschließende Widerspruchsverfahren gemäß § 118 SGB IX nach §§ 68 ff VwGO. § 73 Abs. 3 VwGO fordert zwingend den schriftlichen Erlass des Widerspruchsbescheids; die Verletzung dieser Vorschrift hat die Nichtigkeit des Widerspruchsbescheids zur Folge. Notwendige Voraussetzung für die Wirksamkeit des Widerspruchsbescheids ist die mit Wissen und Wollen der Behörde erfolgte Bekanntgabe. Vor diesem Zeitpunkt handelt es sich lediglich um ein Verwaltungsinternum (Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 73 Rn. 6). Die nach § 73 Abs. 3 VwGO maßgeblichen Formerfordernisse der ordnungsgemäßen Bekanntgabe setzen daher unter anderem die Zustellung des schriftlichen Widerspruchsbescheids voraus. Erst mit diesem Zeitpunkt treten für die von dem Widerspruchsbescheid Betroffenen die maßgeblichen Rechtswirkungen ein (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 73 Rn. 22, Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, Teilhabe und Rehabilitation behinderter Menschen, 10. Aufl., § 118, Rn. 39). Daraus folgt, dass die am 27.03.2002 ausgesprochene fristlose Kündigung rechtzeitig im Sinne von § 626 Abs. 2 BGB erfolgt ist, da diese Frist anders als nach § 91 SGB IX im Falle zustimmender Entscheidung des Integrationsamts ab der Existenz eines rechtswirksamen Widerspruchsbescheids zu laufen begonnen hat. Dies ist erst mit Zustellung des Widerspruchsbescheids an die Beklagte am 27.03.2002 der Fall gewesen.

3. a) Das Arbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass das unstreitige Verhalten des Klägers am 21.09.2001 einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung darstellt. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann ein Arbeitsverhältnis von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Hier ist zunächst festzustellen, ob ein bestimmter Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalles an sich geeignet ist, einen wichtigen Grund zu bilden (vgl. KR-Fischermeier, 6. Auflage § 626 BGB Rz. 87). Dabei ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, der die Kammer folgt, bei verhaltensbedingten, außerordentlichen Kündigungen grundsätzlich eine vorherige Abmahnung des Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber erforderlich (vgl. KR-Fischermeier, § 626 BGB Rz. 253 m. w. N.). Auch bei Störungen im Vertrauensbereich ist nach neuerer Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Abmahnung dann erforderlich, wenn es um ein steuerbares Verhalten des Arbeitnehmers geht und eine Wiederherstellung des Vertrauens erwartet werden kann (BAG, Urteil v. 04.06. 1997 - 2 AZR 526/96 - AP-Nr. 137 zu § 626 BGB). Bei einer Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen ist eine Abmahnung jedenfalls dann entbehrlich, wenn es um schwere Pflichtverletzungen geht, deren Rechtswidrigkeit für den Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar ist und bei denen eine Hinnähme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist. Dies gilt auch bei Störungen im sogenannten Vertrauensbereich (BAG, Beschluss v. 10.02.1999 - 2 ABR 31/98 - AP-Nr. 42 zu § 15 KschG 1969).

Unter Berücksichtigung vorstehender Voraussetzungen ist ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB gegeben. Das vorzeitige durch keinerlei Grund gerechtfertigte Verlassen des Arbeitsplatzes gegen 20.00 Uhr und das Veranlassen eines Arbeitskollegen an Klägers Stelle zum Arbeitsende 23.00 Uhr abzustempeln, um ein ordnungsgemäßes Arbeitsende vorzutäuschen, stellt eine schwerwiegende Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten durch den Kläger dar. Die Beklagte ist bei der so geregelten Arbeitszeiterfassung auf redliches Verhalten ihrer Mitarbeiter angewiesen und der Kläger hat dies in seine Redlichkeit gesetzte Vertrauen der Beklagten gröblichst missbraucht.

Die Beklagte musste auf das Fehlverhalten des Klägers auch nicht durch eine Abmahnung statt durch eine außerordentliche Kündigung reagieren. Die o. g. Grundsätze der Rechtsprechung haben zur Folge, dass bei einer Kündigung aus verhaltensbedingten Gründen eine Abmahnung jedenfalls dann entbehrlich ist, wenn es sich um schwere Pflichtverletzungen handelt, deren Rechtswidrigkeit für den Arbeitnehmer ohne weiteres erkennbar und bei denen eine Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich ausgeschlossen ist. Dies ist vorliegend anzunehmen. Die schwerwiegende Pflichtverletzung liegt in dem gezielten Vorgehen des Klägers, mit Hilfe eines Arbeitskollegen sich einen Verdienstvorteil von ca. 50,-- € ohne Gegenleistung zu verschaffen. Dies ist ohne weiteres als schwerwiegende Pflichtverletzung im Arbeitsverhältnis zu werten. In diesem Zusammenhang ist das Interesse des Arbeitgebers zu berücksichtigen, der aus der Schwere der Pflichtverletzung vernünftigerweise die Schlussfolgerung ziehen muss, ein Arbeitnehmer, der sich einmal vorsätzlich in einer derartigen Weise einen rechtswidrigen Vorteil verschaffen wollte und seinen Arbeitsplatz leichtfertig aufs Spiel gesetzt hat, biete vernünftigerweise Anlass zu der Befürchtung, dass ähnliche Pflichtverletzungen auch in Zukunft vorkommen. Die Hinnahme des Verhaltens des Klägers durch die Beklagte ist in diesem Falle ausgeschlossen, sodass eine vorherige Abmahnung nicht erforderlich gewesen ist.

b) Das Arbeitsgericht hat auch die zwingend gebotene Interessenabwägung korrekt vorgenommen. Einerseits sind die ca. zehnjährige Betriebszugehörigkeit, die Schwerbehinderung des Klägers mit denkbaren Auswirkungen auf die Chancen am Arbeitsmarkt ebenso zu berücksichtigen wie die Familienverhältnisse des Klägers. Andererseits darf nicht übersehen werden, dass das Verhalten des Klägers ungeachtet eventueller Strafbarkeit die Grundlage jeglicher vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Beklagten beseitigt hat. Das Fehlverhalten des Klägers ist auch unter dem Blickwinkel des Umfangs der zu bezahlenden Arbeitszeit von drei Stunden, die sich der Kläger bezahlt erschleichen wollte, keine zeitliche und finanzielle Bagatelle, sondern von beachtlichem Umfang und lässt jede gebotene Rücksicht auf die berechtigten Interessen der Beklagten vermissen. Das Berufungsgericht ist daher mit dem Arbeitsgericht der Auffassung, dass unter Abwägung aller Umstände und trotz der persönlichen Situation des Klägers der Beklagten die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses auch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zuzumuten ist.

Der Kläger ist mit seinem Rechtsmittel unterlegen und hat daher dessen Kosten zu tragen (§ 97 ZPO).

Ende der Entscheidung

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