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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 18.07.2001
Aktenzeichen: 2 Sa 20/01
Rechtsgebiete: MTV, ArbGG, ZPO


Vorschriften:

MTV § 10 Ziff. 4
MTV § 10 Ziff. 4 lit. b
MTV § 10 Ziff. 4 lit. c
MTV § 10 Nr. 4
ArbGG § 64 Abs. 1
ArbGG § 64 Abs. 2
ArbGG § 64 Abs. 6
ArbGG § 72 Abs. 2 Nr. 1
ZPO § 97 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
2 Sa 20/01

verkündet am 18. Juli 2001

In dem Rechtsstreit

pp.

hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg - 2. Kammer - durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Hensinger, den ehrenamtlichen Richter Ebert und den ehrenamtlichen Richter Wollnik auf die mündliche Verhandlung vom 18.07.2001 für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 21.02.2001 (Az.: 24 Ca 8964/00) wird auf deren Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Zahlung von Hinterbliebenenbezügen für die Monate April, Mai und Juni 2000 in Höhe von 9.168,-- DM.

Die am 20.10.1995 geborene Klägerin ist ein nichteheliches Kind des ehemaligen Arbeitnehmers der Beklagten, Siegmund M., der seit dem 01.07.1973 bei der Beklagten beschäftigt gewesen und am 07.04.2000 verstorben ist. Der Verstorbene hatte in den letzten 12 Monaten bei der Beklagten ein durchschnittliches ruhegeldfähiges Einkommen in Höhe von 6.112,-- DM. Die Klägerin lebte im Haushalt ihrer Mutter und besuchte ihren Vater regelmäßig, der jedoch kein Sorgerecht für die Klägerin hatte. Neben der Klägerin hinterließ der Verstorbene einen behinderten Sohn (Marcel) aus einer am 21.01.1993 geschiedenen Ehe, der bei Pflegeeltern wohnt. Im Scheidungsurteil wurde das Sorgerecht für Marcel beiden Elternteilen gemeinsam zugesprochen.

Auf das Arbeitsverhältnis des Verstorbenen mit der Beklagten fand der Manteltarifvertrag für das Private Versicherungsgewerbe (im Folgenden: MTV) Anwendung. § 10 Ziff. 4 MTV, der die Hinterbliebenenbezüge regelt, hat für den maßgeblichen Zeitraum folgenden Wortlaut:

Die Hinterbliebenen einer/eines Angestellten erhalten die bisherigen Bezüge für den Rest des Sterbemonats und für weitere drei Monate, im ersten Jahr der Unternehmenszugehörigkeit für einen weiteren Monat über den Sterbemonat hinaus.

Als Hinterbliebene im Sinne dieser Bestimmungen gelten:

a) der Ehegatte;

b) unterhaltsberechtigte Kinder, die mit der/dem Verstorbenen in einem Haushalt lebten oder für die diese/dieser das Sorgerecht hatte; dies gilt nur, sofern ein Bezugsberechtigter nach a) nicht vorhanden ist;

c) Kinder, Eltern und Geschwister, wenn sie nachweislich von der/dem Verstorbenen unterhalten wurden und Bezugsberechtigte nach Buchstabe a) und b) nicht vorhanden sind. Der Nachweis zur Erfüllung der Unterhaltspflicht durch die/den Verstorbenen ist durch Vorlage der steuerlichen Anerkennung oder in anderer Form zu führen.

Die Beklagte bezahlte die vollen Hinterbliebenenbezüge an den Sohn des Verstorbenen unter Hinweis auf § 10 Ziff. 4 lit. b und das bestehende Sorgerecht des Verstorbenen.

Das Arbeitsgericht hat mit dem am 21.02.2001 verkündeten Urteil die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, dass selbst wenn die Bestimmung des § 10 Ziff. 4 lit. b MTV verfassungswidrig wäre, vorliegend kein Anspruch gegeben sei. Die tarifliche Regelung wäre dann nichtig, was zu einer Regelungslücke führe. Die Rechtsprechung könne diese Tariflücke nicht schließen, da die Tarifvertragsparteien verschiedene Regelungsmöglichkeiten hätten. Wegen der Begründung des Arbeitsgerichts wird auf Seite 5 - 6 des angefochtenen Urteils (Bl. 64 und 65 der erstinstanzlichen Akte) verwiesen.

Gegen dieses der Klägerin am 16.03.2001 zugestellte Urteil richtet sich die am 27.03.2001 von der Klägerin eingelegte und am 09.04.2001 ausgeführte Berufung.

Zur Begründung trägt die Klägerin vor, dass § 10 Nr. 4 MTV verfassungswidrig sei. Artikel 6 Abs. 5 Grundgesetz beinhalte das Gebot voller materieller Gleichstellung des nichtehelichen mit dem ehelichen Kind. § 10 Ziff. 4 lit. b MTV verstoße gegen dieses Gleichbehandlungsgebot, da er an ein Sorgerecht des Verstorbenen anknüpfe. Im Gegensatz zum ehelichen Kind, bei dem in der Regel (auch bei Scheidung) das Sorgerecht von beiden Elternteilen wahrgenommen werde, liege das Sorgerecht für das nichteheliche Kind in der Regel bei der Mutter (§ 1626 a Abs. 2 BGB). Beim Tod des Vaters werde deshalb das nichteheliche Kind benachteiligt. Das Bestehen eines Sorgerechts sei deshalb kein sachgemäßer Anknüpfungspunkt. Entscheidende Voraussetzung könne nur die Unterhaltsverpflichtung des Verstorbenen sein, da Sinn und Zweck der Hinterbliebenenbezüge sei, die unterhaltsberechtigten Angehörigen nach dem Tod des Arbeitnehmers für eine befristete Zeit weiter zu versorgen. Die verfassungswidrige Bestimmung des § 10 Ziff. 4 lit. b MTV müsse deshalb verfassungskonform ausgelegt werden. Der sachfremde Anknüpfungspunkt des Sorgerechts dürfe nicht berücksichtigt werden. Danach stehe die Klägerin auf der selben Stufe wie das eheliche Kind des Verstorbenen. Sie habe demgemäß einen Anspruch auf die Hälfte der Hinterbliebenenbezüge. Wegen des weiteren Vorbringens der Klägerin im zweiten Rechtszug wird auf den in der mündlichen Verhandlung in Bezug genommenen Schriftsatz vom 05.04.2001 (Bl. 12 - 17 der zweitinstanzlichen Akte) verwiesen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart vom 21.02.2001 - Az.: 24 Ca 8964/00 - wird aufgehoben und die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin für Hinterbliebenenbezüge in Höhe des hälftigen Lohnes von monatlich je DM 3.056,-- für die Monate April, Mai und Juni 2000 insgesamt somit DM 9.168,-- brutto nebst 4 % Zinsen hieraus seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass § 10 Ziff. 4 lit. b MTV nicht verfassungswidrig sei, da er auch eine mittelbare Diskriminierung nichtehelicher Kinder nicht erkennen lasse. Die Anknüpfung an die Merkmale Unterhaltsberechtigung, Leben in einem gemeinsamen Haushalt und das Sorgerecht seien sachgerecht. Die Tarifvertragsparteien hätten davon ausgehen dürfen, dass mit diesen Merkmalen die Fälle erfasst werden, in denen eine besondere finanzielle Abhängigkeit des Kindes sowie eine persönliche Beziehung zwischen Elternteil und Kind bestehe. Falls § 10 Ziff. 4 MTV unwirksam sei, stünde der Klägerin ein Anspruch auf Hinterbliebenenbezüge gleichwohl nicht zu, da in diesem Fall die Tarifregelung nicht angewendet werden dürfe. In diesem Falle müsse es den Tarifvertragsparteien überlassen bleiben, eine Neuregelung zu formulieren. Dem Gericht sei es verwehrt, die Tariflücke zu schließen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beklagten im zweiten Rechtszug wird auf den in der mündlichen Verhandlung in Bezug genommenen Schriftsatz vom 09.05.2001 (Bl. 24 - 26 der Ber.A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist fristgerecht eingelegt und ausgeführt worden. Im Übrigen sind Bedenken an der Zulässigkeit der Berufung nicht veranlasst.

II.

In der Sache hat die Berufung der Klägerin keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat die zulässige Klage zu Recht abgewiesen. Der Klägerin steht ein Anspruch auf die (hälftigen) Hinterbliebenenbezüge gemäß § 10 Ziff. 4 MTV nicht zu. Die Klägerin fällt unter § 10 Ziff. 4 lit. c MTV, da sie vom Verstorbenen unterhalten worden ist. Das Kind Marcel, für das der Verstorbene das Sorgerecht gehabt hat, fällt jedoch unter § 10 Ziff. 4 lit. b MTV und geht deshalb der Klägerin vor.

1. Zu Unrecht ist die Berufung der Auffassung, § 10 Ziff. 4 lit. b MTV mit der Anknüpfung an ein Sorgerecht verstoße gegen Artikel 6 Abs. 5 GG. Artikel 6 Abs. 5 GG, wonach nichtehelichen Kindern durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen sind wie den ehelichen Kindern, gewährt ein Grundrecht, das als eine besondere Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes anzusehen ist (BVerfG 29.01.1969 AP Nr. 12 zu Artikel 6 Abs. 5 GG uneheliche Kinder).

Ob und inwieweit Tarifvertragsparteien unmittelbar an die Grundrechte, vor allem an Artikel 3 Abs. 1 GG und den daraus abgeleiteten allgemeinen Gleichheitssatz und arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz gebunden sind oder nur eine mittelbare Schutzwirkung zu Gunsten der Grundrechtsträger besteht, bedarf vorliegend keiner Entscheidung (vgl. BAG 05.10.1999 - 4 AZR 668/98 - AP Nr. 70 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel; dagegen BAG 13.05.1997 - 3 AZR 66/96 - AP Nr. 36 zu § 1 BetrAVG Gleichbehandlung; zuletzt BAG 04.04.2000 - 3 AZR 729/98 - RdA 2001, 110). Denn selbst wenn man eine solche unmittelbare Bindung der Tarifvertragsparteien zu Gunsten der Klägerin als rechtlich gegeben unterstellt, liegt der behauptete Grundrechtsverstoß nicht vor. Er würde voraussetzen, dass eine Gruppe (vorliegend die nichtehelichen Kinder) im Vergleich zu einer anderen Gruppe (hier die ehelichen Kinder) anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine derartigen Unterschiede bestehen, die die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten. Dabei steht den Tarifvertragsparteien wie dem staatlichen Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum bei seiner eigenen Gruppenbildung zu. Die Bindung an den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz darf nicht dazu führen, Tarifverträge auf Zweckmäßigkeit oder Angemessenheit zu überprüfen (vgl. BAG 10.03.1982 - 4 AZR 540/79 - AP Nr. 47 zu § 242 BGB Gleichbehandlung, Bl. 4; Wiedemann, Tarifvertragsgesetz, 6. Aufl. Einleitung Rz. 220 f.; Dieterich, Anm. zum Urteil des BAG vom 04.04.2000 - 3 AZR 729/98 - RdA 2001, 112 ff.).

2. Die Normierung des Sorgerechts in § 10 Ziff. 4 lit. b MTV stellt keine (mittelbare) Diskriminierung des nichtehelichen Kindes dar, jedenfalls ist das Sorgerecht ein sachlicher Grund für eine unterschiedliche Behandlung der Kinder.

Die Behauptung der Klägerin, dass das Sorgerecht für eheliche Kinder (auch bei geschiedenen Ehen) in der Regel bei beiden Elternteilen, bei nichtehelichen Kindern in der Regel bei der Mutter liege, ist von der Klägerin nicht näher empirisch belegt. Seit dem Inkrafttreten der Kinderrechtsreform am 01.07.1998 gilt für beide Gruppen der Grundsatz des gemeinsamen Sorgerechts beider Eltern (bei nichtehelichen Kindern: § 1626 a Abs. 1 BGB mit der Möglichkeit der Sorgerechtserklärung). Die Änderung der gesellschaftlichen Sozialstrukturen hat auch zur Folge, dass immer mehr nichteheliche Kinder in nichtehelichen Lebensgemeinschaften entstehen, in denen beide Elternteile das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder haben wollen.

Selbst wenn man die von der Klägerin nicht näher dargelegte mittelbare Benachteiligung eines nichtehelichen Kindes beim Tod des Vaters unterstellt, so ist die Anknüpfung an das Sorgerecht des Verstorbenen in § 10 Ziff. 4 lit. b MTV dennoch sachgemäß. Die elterliche Sorge (§ 1626 BGB) umfasst die Sorge für die Person und das Vermögen des Kindes. Die elterliche Sorge führt normalerweise zu einer besonders engen persönlichen Beziehung zwischen den Elternteilen und dem Kind. Auch das andere (alternative) Tarifmerkmal (Zusammenleben in einem Haushalt) lässt erkennen, dass die Tarifvertragsparteien nur für die engsten Hinterbliebenen, für die der Verstorbene nicht nur Unterhalt gezahlt hat, einen Anspruch auf Hinterbliebenenbezüge normieren wollten. Dieser Leitgedanke der Tarifvertragsparteien ist nicht sachwidrig. Sinn und Zweck der Hinterbliebenenbezüge ist entgegen der Rechtsansicht der Klägerin nämlich weniger die befristete Weiterversorgung der Unterhaltsberechtigten. Vielmehr sollen die engsten Hinterbliebenen eines verstorbenen Arbeitnehmers, soweit sie von ihm abhängig waren, von den ihnen im Zusammenhang mit dem Todesfall entstehenden Kosten (z.B. Beerdigung, Behördengänge, Umzug) ganz oder teilweise entlastet werden (Seifert, Tarifvertrag für das Private Versicherungsgewerbe, Kommentar 6. Aufl. § 10 Rz. 45; zum vergleichbaren tarifvertraglichen Sterbegeld im Einzelhandel in Bayern: BAG 05.10.1999 AP Nr. 70 zu 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel, III. 2 der Gründe).

Da die Anknüpfung an ein Sorgerecht demgemäß nicht sachwidrig ist, ist ein Grundrechtsverstoß des § 10 Ziff. 4 lit. b. MTV nicht ersichtlich. Deshalb ist ein Anspruch der Klägerin auf die Bezahlung von Hinterbliebenenbezügen nicht gegeben.

III.

1. Da somit die Berufung der Klägerin keinen Erfolg haben konnte, hat sie die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels gemäß § 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.

2. Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

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