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Gericht: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg
Urteil verkündet am 08.03.2006
Aktenzeichen: 2 Sa 90/04
Rechtsgebiete: MTV, BGB, BetrVG, ASiG, KSchG, ArbGG


Vorschriften:

MTV § 4.4
MTV § 4.5.2
BGB § 613a
BGB § 626 Abs. 1
BetrVG § 1 Abs. 1 Satz 2
BetrVG § 1 Abs. 2
BetrVG § 102
BetrVG § 102 Abs. 1
BetrVG § 103
BetrVG § 103 Abs. 1
ASiG § 9 Abs. 3
KSchG § 15 Abs. 4
KSchG § 15 Abs. 5
ArbGG § 64 Abs. 1
ArbGG § 64 Abs. 2
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart - Kammern Aalen - vom 02.07.2004 (Az.: 13 Ca 738/02) abgeändert:

1.1 Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 06.12.2002 und 10.12.2002 nicht zum 30.06.2003 beendet worden ist.

1.2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens als Betriebsärztin weiterzubeschäftigen.

2. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit zweier außerordentlicher betriebsbedingter Kündigungen mit sozialer Auslauffrist vom 06.12.2002 und 10.12.2002 zum 30.06.2003.

Die Beklagte, eines von mehreren V.-Unternehmen am Standort H., beschäftigte im Kündigungszeitpunkt ca. 330 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Gegenstand der geschäftlichen Tätigkeit der Beklagten war in der Vergangenheit die Erbringung verschiedener zentraler Dienstleistungen für die V.-Unternehmen am Standort H.. Dazu gehörten u.a. die Leistungen eines betriebsärztlichen Dienstes für andere V.-Unternehmen und externe Unternehmen und Verwaltungen. Die Beklagte, die Firma V. AG (Konzernobergesellschaft) und drei weitere kleinere Konzernfirmen bildeten und bilden am Standort H. einen einheitlichen Betrieb mit ca. 450 Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen im Kündigungszeitpunkt. Bei der Beklagten bestehen ein Betriebsrat und eine Schwerbehindertenvertretung.

Die am 02.07.1942 geborene und verheiratete Klägerin ist bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerinnen seit dem 01.09.1982 als Betriebsärztin beschäftigt, zuletzt bei einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 20 Stunden zu einem monatlichen Bruttoentgelt von 3.700,00 EUR. Die Klägerin ist mit einem GdB von 30 % einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Sie war im Zeitpunkt der Kündigungen Betriebsratsmitglied und Vertrauensfrau der Schwerbehinderten.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Metallindustrie Nordwürttemberg/Nordbaden (im Folgenden: MTV) Anwendung. Gemäß § 4.4 MTV kann einem Beschäftigten, der das 53., aber noch nicht das 65. Lebensjahr vollendet hat und dem Betrieb mindestens 3 Jahre angehört, nur noch aus wichtigem Grund gekündigt werden. Gemäß § 4.5.2 MTV beträgt die Kündigungsfrist bei einer ordentlichen Kündigung nach einer Betriebszugehörigkeit von 12 Jahren mindestens 6 Monate zum Schluss eines Kalendervierteljahres.

Am 13.12.1985 kündigte eine Rechtsvorgängerin der Beklagten das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin außerordentlich und hilfsweise ordentlich. Mit Urteil vom 24.03.1988 - 2 AZR 369/87 - (AP Nr. 1 zu § 9 ASiG) stellte das Bundesarbeitsgericht die Rechtsunwirksamkeit dieser Kündigung fest.

Im Herbst 2002 erfolgten bei der Beklagten und im gemeinsamen Betrieb der Beklagten Umstrukturierungen. Mit diesen Umstrukturierungen wurde das Ziel verfolgt, unternehmens- und standortübergreifende zentrale Funktionen bei der Konzernobergesellschaft (V. AG) zu konzentrieren, die Beklagte in eine Gesellschaft für Standort-Dienstleistungen weiterzuentwickeln und sie von dazu nicht gehörenden administrativen Aufgaben im Personalmanagement zu befreien. Im Rahmen dieser Umstrukturierungen wurden von der Beklagten auf die V. AG Geschäftsbereiche mit insgesamt 130 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen übergeleitet. Dazu gehörte u.a. der arbeitsmedizinische Dienst mit insgesamt 15 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Insoweit wird auf den Kauf- und Übertragungsvertrag vom 01.10.2002 (Bl. 51 - 65 der erstinstanzlichen Akte) Bezug genommen.

In diesem Zusammenhang wurde ein Interessenausgleich am 23.09.2002 abgeschlossen (vgl. Bl. 68 - 70 der erstinstanzlichen Akte). Die Beklagte unterrichtete alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit Schreiben vom 30.09.2002 über den Betriebsübergang gemäß § 613a BGB, u.a. die Klägerin (vgl. Schreiben Bl. 71 u. 72 der erstinstanzlichen Akte).

Mit Schreiben vom 07.11.2002 widersprach die Klägerin dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses von der Beklagten auf die V. AG (Bl. 73 der erstinstanzlichen Akte).

Mit Schreiben vom 21.11.2002 beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Klägerin. Mit Bescheid vom 05.12.2002, dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten mündlich vorab am 05.12.2002 bekannt gegeben und am 09.12.2002 zugestellt, stimmte das Integrationsamt der außerordentlichen Kündigung der Klägerin mit sozialer Auslauffrist zu. Der dagegen von der Klägerin erhobene Widerspruch wurde zurückgewiesen und die Klage vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart mit Urteil vom 03.03.2005 abgewiesen.

Mit Schreiben vom 22.11.2002 informierte die Beklagte den Betriebsrat darüber, dass sie beabsichtige, die Klägerin außerordentlich mit einer sozialen Auslauffrist von 6 Monaten nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt zu kündigen. Mit Schreiben vom 25.11.2002 teilte der Betriebsrat der Beklagten mit, dass der Betriebsrat die Zustimmung zur Kündigung der Klägerin nicht erteile. Ersatzweise würden Bedenken gemäß § 102 BetrVG zur außerordentlichen Kündigung erhoben.

Mit Schreiben vom 22.11.2002 wurde die Klägerin als Schwerbehindertenvertrauensfrau zu ihrer eigenen Kündigung angehört. Mit Schreiben vom gleichen Datum wurde auch ihr Stellvertreter zu dieser Kündigung angehört.

Mit Schreiben vom 10.12.2002 bat die Beklagte den Betriebsrat vorsorglich um Zustimmung zu der mit der Kündigung der Klägerin verbundenen Abberufung als Betriebsärztin. Mit Schreiben vom 16.01.2003 teilte der Betriebsrat der Beklagten mit, dass er die beantragte Zustimmung verweigere. Im März 2003 wurde ein Einigungsstellenverfahren zu dieser Frage eingeleitet. In der Sitzung am 23.06.2003 gelangte die Einigungsstelle zu der Auffassung, dass das Einigungsstellenverfahren bis zur Entscheidung des Arbeitsgerichtes ausgesetzt wird.

Die Klägerin ist im vorliegenden Verfahren der Auffassung, dass die Kündigungen vom 06.12. und 10.12.2002 aus mehreren Gründen unwirksam sind.

Die Betriebsratsanhörung sei nicht gemäß § 102 BetrVG ordnungsgemäß, da die Beklagte dem Betriebsrat eine im Kündigungszeitpunkt bestehende Unterhaltsverpflichtung nicht mitgeteilt habe. Außerdem habe die Kündigung der Zustimmung des Betriebsrats gemäß § 103 BetrVG bedurft.

Der Betriebsrat sei vor Ausspruch der Kündigungen auch nicht gemäß § 9 Abs. 3 ASiG beteiligt worden.

Die Kündigung verstoße auch gegen die am 20.12.2001 abgeschlossene "Betriebsvereinbarung über die Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Sicherung der Beschäftigten am Standort H.". Nach dieser Betriebsvereinbarung seien vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung mehrere Maßnahmen zur Vermeidung einer solchen Kündigung zu ergreifen. Dies sei bei der Beklagten in keinem Zeitpunkt der Fall gewesen.

Die Klägerin ist weiter der Auffassung, dass es in einem gemeinsamen Betrieb keinen Betriebsübergang im Sinne des § 613a BGB geben könne. Ein dringendes betriebliches Erfordernis zur Kündigung der Klägerin sei deshalb von vornherein nicht ersichtlich. Im Übrigen habe die Klägerin auf im Zeitpunkt der Kündigung freien Arbeitsplätzen der Beklagten (Pförtnerin, Bildungsreferentin) weiterbeschäftigt werden können.

Die Beklagte habe auch gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen, indem sie andere Betriebsräte, die ebenfalls dem Betriebsübergang widersprochen haben, keine Kündigungen ausgesprochen habe.

Schließlich führt die Klägerin an, dass sie bei der Ausübung ihres Widerspruchsrechts aufgrund des Verhaltens der Beklagten einem Irrtum unterlegen sei.

Die Klägerin hat im ersten Rechtszug beantragt,

1. es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigungen der Beklagten unter Einhaltung einer ordentlichen Kündigungsfrist zum 30.06.2003 weder mit Schreiben vom 06.12.2002 noch mit Schreiben vom 10.12.2002, zugegangen am 11.12.2002 zum 30.06.2003 beendet wird.

2. Im Falle des Obsiegens mit dem Antrag zu 1 wird die Beklagte verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Betriebsärztin weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat im ersten Rechtszug beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass beide Kündigungen wirksam sind.

Die Betriebsratsanhörung gemäß § 102 BetrVG sei ordnungsgemäß erfolgt. Die Beklagte habe von einer evtl. Unterhaltsverpflichtung der Klägerin keine Kenntnis gehabt.

Vor Ausspruch der Kündigungen habe auch keine Zustimmung des Betriebsrats gemäß § 103 Abs. 1 BetrVG eingeholt werden müssen. Die vorliegende außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses beruhe auf einem Sachverhalt, der von § 15 Abs. 4 und 5 KSchG umfasst werde.

Die fehlende Zustimmung des Betriebsrats zur Abberufung der Klägerin als Betriebsärztin führe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Eine Zustimmung sei dann nicht erforderlich, wenn es sich - wie vorliegend - um eine betriebsbedingte Kündigung handele.

Es sei auch ein wichtiger Grund für eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung der Klägerin gegeben. Der Arbeitsplatz der Klägerin sei bei der Beklagten weggefallen, nachdem u.a. die Arbeitsplätze im arbeitsmedizinischen Dienst am 01.10.2002 auf die V. AG übergegangen seien. Die Klägerin habe dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses auf die V. AG wirksam widersprochen.

Bei der Beklagten habe es im Zeitpunkt der Kündigungen auch keinen freien Arbeitsplatz für die Klägerin gegeben.

Zwar hätten auch andere Betriebsratsmitglieder dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses widersprochen. Bei diesen Betriebsratsmitgliedern, die durch den Übergang ihres Arbeitsverhältnisses ihr Betriebsratsamt verloren hätten, liege ein anderer Sachverhalt vor.

Das Arbeitsgericht hat im am 02.07.2004 verkündeten Urteil die Klage abgewiesen. Zur Begründung führt das Urteil insbesondere an, dass eine Zustimmung des Betriebsrats zur außerordentlichen Kündigung gemäß § 103 Abs. 1 BetrVG nicht erforderlich gewesen sei. Auch die fehlende Zustimmung des Betriebsrats nach § 9 Abs. 3 ASiG führe nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung. Der Betriebsrat sei auch gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG ordnungsgemäß angehört worden. Ein wichtiger Grund für eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung habe vorgelegen, da der Arbeitsplatz der Klägerin bei der Beklagten weggefallen sei. Die Weiterbeschäftigung der Klägerin auf einem freien Arbeitsplatz bei der Beklagten sei nicht möglich gewesen. Die Klägerin könne sich auch nicht auf eine Gleichbehandlung mit nicht gekündigten Betriebsratsmitgliedern berufen. Die Klägerin habe sich auch in keinem Rechtsirrtum über die Ausübung ihres Widerspruchsrechts befunden. Wegen der weiteren Begründung des Arbeitsgerichts wird auf Seite 9 - 16 des angefochtenen Urteils verwiesen.

Gegen dieses der Klägerin am 17.08.2004 zugestellte Urteil richtet sich die am 08.09.2004 eingelegte und am 18.11.2004 innerhalb der verlängerten Berufungsbegründungsfrist ausgeführten Berufung der Klägerin. Zur Begründung der Berufung trägt die Klägerin insbesondere vor, dass die Verlagerung des Bereiches "arbeitsmedizinische Dienstleistungen" von der Beklagten auf die Firma V. AG innerhalb des gemeinsamen Betriebes kein Grund für eine außerordentliche Kündigung darstelle. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass aufgrund des Tarifvertrages eine ordentliche Kündigung nicht möglich sei, die Klägerin Schwerbehindertenvertrauensfrau und Betriebsratsmitglied gewesen sei und eine 20-jährige Betriebszugehörigkeit aufzuweisen habe. Im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs seien auch freie Arbeitsplätze bei der Beklagten vorhanden gewesen. Wegen des weiteren Vorbringens der Klägerin im zweiten Rechtszug wird auf die in der mündlichen Verhandlung in Bezug genommenen Schriftsätze vom 17.11.2004, 18.01.2005, 14.04.2005 und 14.12.2005 verwiesen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 06.12. und 10.12.2002 nicht beendet worden ist.

Im Falle des Obsiegens wird die Beklagte verurteilt, die Klägerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens als Betriebsärztin weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und trägt insbesondere vor, dass die Beklagte nach der Übertragung u.a. des arbeitsmedizinischen Dienstes auf die V. AG über keine Betriebsärzte mehr verfüge und damit auch eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit der Klägerin als Betriebsärztin nicht mehr gegeben sei. Ein freier und geeigneter Arbeitsplatz für die Klägerin sei im Kündigungszeitpunkt nicht vorhanden gewesen. Wenn die Klägerin den Arbeitsplatz einer Betriebsärztin, der sich nach dem Teilbetriebsübergang bei der V. AG befinde, nunmehr reklamiere, setze sie sich zu ihrem eigenen Verhalten in Widerspruch. Dadurch, dass sich die Klägerin durch ihren Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses um ihren Arbeitsplatz gebracht habe, sei die entstandene Situation nicht damit zu vergleichen, dass ein Arbeitgeber aufgrund von Restrukturierungsentscheidungen eine betriebsbedingte Kündigung ausspreche. Zum Weiterbeschäftigungsantrag der Klägerin führt die Beklagte an, dass sie nicht dazu verpflichtet werden könne, weiter einen arbeitsmedizinischen Dienst zu unterhalten und die Klägerin als Betriebsärztin weiterzubeschäftigen. Wegen des weiteren Vorbringens der Beklagten im zweiten Rechtszug wird auf die in der mündlichen Verhandlung in Bezug genommenen Schriftsätze vom 21.01.2005, 12.12.2005 und 03.01.2006 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.

Die gemäß § 64 Abs. 1 und 2 ArbGG statthafte Berufung der Klägerin ist fristgerecht eingelegt und ausgeführt worden. Im Übrigen sind Bedenken an der Zulässigkeit der Berufung nicht veranlasst.

II.

In der Sache hat die Berufung der Klägerin Erfolg. Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ist durch die außerordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 06.12.2002 und 10.12.2002 nicht zum 30.06.2003 beendet worden, weil diese Kündigungen unwirksam sind (1.) Der Klägerin steht auch ein Weiterbeschäftigungsanspruch zu (2.).

1. Die außerordentlichen und betriebsbedingten Kündigungen der Beklagten vom 06.12. und 10.12.2002 mit sozialer Auslauffrist zum 30.06.2003 sind bereits gemäß § 626 Abs. 1 BGB unwirksam, weil die Beschäftigungsmöglichkeit der Klägerin (Arbeitsplatz) im Gemeinschaftsbetrieb nicht weggefallen ist.

Die Beklagte und u.a. die V. AG bildeten im Kündigungszeitpunkt unstreitig einen gemeinsamen Betrieb im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BetrVG. Unter Zugrundelegung des von der Rechtsprechung entwickelten Begriffs des einheitlichen Betriebs (Gemeinschaftsbetriebs) liegt ein gemeinsamer Betrieb mehrerer Unternehmen dann vor, wenn die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für einen einheitlichen arbeitstechnischen Zweck zusammengefasst, geordnet und gezielt eingesetzt werden und der Einsatz der menschlichen Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert wird. Die einheitliche Leitung muss sich auf die wesentlichen Arbeitgeberfunktionen in personellen und sozialen Angelegenheiten erstrecken (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgericht z. B. BAG, 23.03.1984 - 7 AZR 515/82 - AP Nr. 4 zu § 23 KSchG 1969). Hierzu bedarf es einer ausdrücklichen oder stillschweigenden rechtlichen Leitungsvereinbarung, die sich aus den Umständen des Einzelfalles konkludent ergeben kann. Das Bundesarbeitsgericht hat mehrfach entschieden, dass die für das Betriebsverfassungsrecht entwickelten Grundsätze in vollem Umfang auf den Betriebsbegriff des Kündigungsschutzrechtes anzuwenden sind (BAG, 13.06.1985 - 2 AZR 452/84 - AP Nr. 10 zu § 1 KSchG 1969 A II. 2. b der Gründe; vgl. auch KR-Weigand, 7. Aufl., § 23 KSchG, Rnr. 49 m.w.N.). Bei Annahme eines Gemeinschaftsbetriebes ist unabhängig von der vertraglichen Bindung zu einem der Rechtsträger vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung zu prüfen, ob ein freier Arbeitsplatz in dem gemeinsamen Betrieb mit einem dort beschäftigen, von Kündigung bedrohten Arbeitnehmer besetzt werden kann. In diesen Fällen kommt ein arbeitgeberübergreifender Kündigungsschutz in Betracht (BAG, 22.03.2001 - 8 AZR 565/00 - AP Nr. 59 zu Art. 101 GG II 5. der Gründe). In einem gemeinsamen Betrieb zweier Unternehmen hat anlässlich einer betriebsbedingten Kündigung die Sozialauswahl unternehmensübergreifend zu erfolgen (BAG, 13.09.1995 - 2 AZR 954/94 - AP Nr. 72 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung).

Bei Zugrundelegung dieser vorgenannten Rechtsgrundsätze ist die erkennende Kammer der Auffassung, dass beim vorliegenden Sachverhalt eine betriebsbedingte Kündigung schon deshalb unwirksam ist, weil eine Beschäftigungsmöglichkeit für die Klägerin im Gemeinschaftsbetrieb nicht entfallen ist. Zwar ist der Arbeitsplatz der Klägerin zusammen mit der Verlagerung des Bereiches "arbeitsmedizinische Dienstleistungen" von der Beklagten auf die V. AG am 01.10.2002 auf die V. AG übergegangen. Gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses hat die Klägerin jedoch wirksam Widerspruch eingelegt, so dass ihr Arbeitsverhältnis nicht gemäß § 613a BGB auf die V. AG übergegangen ist. Die Beklagte ist nach wie vor Vertragsarbeitgeber geblieben. Gleichwohl ist der Arbeitsplatz der Klägerin im Gemeinschaftsbetrieb jedoch nicht weggefallen. Er besteht unverändert im (Gemeinschafts) Betrieb der Beklagten. Wenn man den Begriff des Gemeinschaftsbetriebs auch im Kündigungsschutzrecht akzeptiert, ist es rechtlich unerheblich, in welches Unternehmen der Arbeitsplatz im Gemeinschaftsbetrieb eingegliedert ist. Eine Verlagerung eines Arbeitsplatzes innerhalb des Betriebs lässt den Arbeitsplatz nicht entfallen. Bei der vorliegenden Konstellation könnte eine betriebsbedingte Kündigung nur dann in Betracht kommen, wenn die Beklagte den Gemeinschaftsbetrieb auflöst.

Die betriebsbedingten Kündigungen sind bereits aus diesen Gründen unwirksam. Auf die vielen anderen Rechtsprobleme des vorliegenden Falles kommt es demgemäß nicht an.

2. Die Klägerin hat auch einen Anspruch auf vorläufige Weiterbeschäftigung als Betriebsärztin bis zum rechtskräftigen Abschluss des vorliegenden Rechtsstreits. Die Kündigungen der Beklagten haben das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Die Beklagte hat überwiegende schützenswerte Interessen, die einer Beschäftigung der Klägerin entgegenstehen, nicht dargetan (vgl. BAG Großer Senat, 27.02.1985 - GS 1/84 - AP Nr. 14 zu § 611 BGB Beschäftigungspflicht).

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit § 91 Abs. 1 ZPO, wonach die unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen hat.

Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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