Judicialis Rechtsprechung

Mit der integrierten Volltextsuche, die vom Suchmaschinenhersteller "Google" zur Verfügung gestellt wird, lassen sich alle Entscheidungen durchsuchen. Dabei können Sie Sonderzeichen und spezielle Wörter verwenden, um genauere Suchergebnisse zu erhalten:

Zurück

Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 10.08.2005
Aktenzeichen: 12 Sa 740/05
Rechtsgebiete: KSchG, SGB IX, BetrVG


Vorschriften:

KSchG § 1
KSchG § 17
KSchG § 17 Abs. 1
KSchG § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6
KSchG § 17 Abs. 2 Satz 2
KSchG § 18
KSchG § 18 Abs. 1
SGB IX § 85
BetrVG § 102
1. Die Massenentlassungsvorschriften (§§ 17 f. KSchG) sind einer "richtlinienkonformen Auslegung" nicht zugaenglich (wie LAG Koeln, Urteil vom 10.05.2005, ZIP 2005, 1524).

2. Hinweis: Parallelverfahren zu 12 Sa 801/05.


LANDESARBEITSGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

12 Sa 740/05

Verkündet am 10. August 2005

In Sachen

hat die 12. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 10.08.2005 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Plüm als Vorsitzenden sowie den ehrenamtlichen Richter Herbst und die ehrenamtliche Richterin Doleys

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 12.05.2005 (Geschäfts-Nr. 5 Ca 505/05) wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

1. Das Berufungsverfahren betrifft die Wirksamkeit einer Kündigung, die der Arbeitgeber nach Konsultation des Betriebsrats und vor Anzeige der Massenentlassung bei der Bundesagentur für Arbeit ausgesprochen hat. Es geht um die Auslegung des § 17 Abs. 1 KSchG unter Berücksichtigung der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (ABl. L 225, S. 16, im Folgenden: Richtlinie) in einem Fall, in dem der Arbeitgeber am Tag nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH Urteil vom 27. Januar 2005, Rs. C-188/03 - Junk) der Klägerin und mit ihr mehr als 10 v. H. der in seinem Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer wegen beabsichtigter Betriebsschließung kündigte.

2. Nach dem EuGH-Urteil sind die Artikel 2 bis 4 der Richtlinie dahin auszulegen, dass die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als Entlassung gilt, und dem Arbeitgeber Kündigungen von Arbeitsverträgen vor dem Ende des Konsultationsverfahrens (Artikel 2) und vor der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassung (Artikel 3 und 4) verwehrt.

3. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 19. September 2003, 2 AZR 79/02) ist bei fehlender Massenentlassungsanzeige nach §§ 17, 18 KSchG nur die Entlassung des betreffenden Arbeitnehmers unzulässig. Hingegen führt ein Verstoß des Arbeitgebers gegen seine Pflichten aus § 17 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung.

4. Die Klägerin ist seit dem 18. Dezember 1979 bei der Beklagten als gewerbliche Arbeitnehmerin im Arbeitsbereich Montage beschäftigt. Die Beklagte, ein Unternehmen der Automobilzuliefererindustrie, beschäftigte in ihrem Betrieb in S. zuletzt etwa 150 Arbeitnehmer.

Nachdem die Beklagte die Entscheidung getroffen hatte, den Betrieb zum 31. Mai 2005 zu schließen, schloss sie Ende Dezember 2004 mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich und einen Sozialplan. Am 20. Januar 2005 hörte sie den Betriebsrat zur beabsichtigten Kündigung an. Mit Schreiben vom 28. Januar 2005, am selben Tag um 13:05 Uhr ausgehändigt, kündigte sie das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin aus betriebsbedingten Gründen fristgerecht zum 31. August 2005. Zu dieser Zeit wurde allen Arbeitnehmern gekündigt, soweit sie sich nicht mit dem angebotenen Wechsel in eine Transfergesellschaft einverstanden erklärt hatten oder wegen Sonderkündigungsschutzes nach § 85 SGB IX die Zustimmung des Integrationsamtes abzuwarten war.

5. Mit Schreiben vom 22. April 2005, am 25. April 2005 bei der Agentur für Arbeit eingegangen, zeigte der Beklagte die Entlassung von 24 Beschäftigten (davon 4 zum 30. April, 3 zum 31. Mai, 2 zum 30. Juni, 5 zum 31. Juli und 10 zum 31. August 2005) an. Mit Bescheid vom 3. Mai 2005 entschied die Bundesagentur für Arbeit, dass die Anzeige wirksam erstattet worden sei und die Entlassungen nicht der Anzeigepflicht unterlägen, weil nicht die Größenordnung des § 17 Abs. Abs. 1 KSchG erreicht werde. Am 28. April 2005 sprach die Beklagte vorsorglich eine weitere ordentliche Kündigung gegenüber der Klägerin aus. Den gegen diese Kündigung geführten Rechtsstreit hat das Arbeitsgericht ausgesetzt (ArbG Wuppertal 2 Ca 2021/05).

6. Mit der beim Arbeitsgericht Wuppertal am 4. Februar 2005 eingegangenen Klage wendet sich die Klägerin gegen die Kündigung vom 28. Januar 2005.

Durch Urteil vom 12. Mai 2005 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass die Kündigung weder nach § 1 KSchG noch nach § 102 BetrVG unwirksam sei. Ebenso wenig könne die Unwirksamkeit der Kündigung aus § 17, § 18 KSchG hergeleitet werden. Danach führe ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung, sondern betreffe lediglich die Wirksamkeit der anzeigepflichtigen Entlassung. Aufgrund des klaren Wortlaut des § 18 Abs. 1 KSchG, der Systematik und Entstehungsgeschichte des Kündigungsschutzgesetzes sowie dem Sinn und Zweck der §§ 17, 18 KSchG sei eine "richtlinienkonforme" Auslegung ausgeschlossen. Wenn - wie vorliegend - das nationale Recht nicht im Sinne der Richtlinie auslegungsfähig sei, bleibe dieses Recht mangels horizontaler Drittwirkung von Richtlinien (Art. 249 Abs. 3 EGV) für das Gericht maßgebend.

7. Die Berufung der Klägerin greift das Urteil, auf das hiermit zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes verwiesen wird, mit dem Einwand an, dass § 17, § 18 KSchG der richtlinienkonformen Auslegung zugänglich und daher die Kündigung, weil vor der Massenentlassungsanzeige ausgesprochen, unwirksam sei.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Wuppertal vom 12.05.2005 zu Aktenzeichen 5 Ca 505/05 abzuändern und nach dem Klageantrag erster Instanz festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Klägerin bei der Beklagten durch die Kündigung der Beklagten vom 28.01.2005 nicht aufgelöst ist.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

8. Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze mit den hierzu überreichten Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

9. Die Kündigung ist rechtswirksam. Das Arbeitsgericht hat die Klage mit zutreffender Begründung abgewiesen.

10. Nach dem Urteil des EuGH vom 27. Januar 2005 steht fest, dass nach Artikel 2 bis 4 der Richtlinie die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das als (Massen-)Entlassung geltende Ereignis ist und der Arbeitgeber in diesem Sinne bei Massenentlassungen nicht kündigen darf, bevor er die Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit gestellt hat.

11. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von EG-Richtlinien auf das Verhältnis zweier Privatrechtssubjekte ("horizontale unmittelbare Wirkung") findet nicht statt (EuGH, Urteil vom 7. März 1996, C-192/94, - El Corte Ingles SA). Die Klägerin kann die Unwirksamkeit der Kündigung nicht aus der Richtlinie selbst herleiten.

12. Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit ausschließlich zwischen Privaten anhängig ist, muss bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer EG-Richtlinie vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der Richtlinie auslegen, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der Richtlinie verfolgten Ziel vereinbar ist (EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2004, C-397/01, - Pfeiffer, Urteil vom 27. Juni 2000, Rs. C-240/98 bis C-244/98, - Oceano Grupo Editorial). In dem vorliegenden Verfahren muss daher das Berufungsgericht alles tun, was in seiner Zuständigkeit liegt, um bei beabsichtigten Massenentlassungen Einzelkündigungen zu verhindern, bevor die Anzeige bei der zuständigen Behörde erfolgt ist. Danach würde es der Vorgabe der Artikel 2 bis 4 der Richtlinie entsprechen, die Kündigung mit der Unwirksamkeitsfolge zu belegen.

13. Eine richtlinienkonforme Auslegung der §§ 17 ff. KSchG in dem Sinne, dass die Kündigung des Arbeitgebers bei einem Verstoß gegen § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 bzw. Abs. 2 Satz 2 KSchG unwirksam ist und nicht nur eine Entlassungssperre begründet, ist indessen nicht möglich. Dies hat das Bundesarbeitsgericht erkannt und eingehend begründet (Urteile vom 19. September 2003, 2 AZR 79/02, 2 AZR 403/02, 2 AZR 537/02; vgl. Urteil vom 24. Februar 2005, 2 AZR 207/04 [zu B II 1 a der Gründe]). Die Kammer tritt der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei. Ausgehend davon, dass der mögliche Wortsinn die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation markiert und im Rahmen der anerkannten Auslegungsgrundsätze verfassungsrechtlich keine bestimmte Auslegungsmethode vorgeschrieben ist und selbst eine gesetzesübersteigende Rechtsfortbildung zulässig sein kann, lassen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte, der Gesamtzusammenhang der §§ 17, 18 KSchG und deren Sinn und Zweck nicht die Deutung zu, dass der Verstoß gegen die Anzeigepflicht die Unwirksamkeit der Kündigung nach sich zieht. Die BAG-Rechtsprechung hat daher auch in Ansehung des Urteils des EuGH vom 27. Januar 2005 Bestand (zutr. LAG Köln, Urteil vom 10. Mai 2005, 1 Sa 1510/04).

14. Danach ist die Frage, dass ob die vor der Anzeige der beabsichtigten Massenentlassungen vorgenommene Kündigung unwirksam ist, zu verneinen.

15. Aus der Antwort auf die vorstehende Frage geht hervor, dass die Kammer nicht auf die weitere Frage einzugehen hat, ob bis zur Entscheidung des EuGH vom 27. Januar 2005 oder deren Publikation das Vertrauen des Arbeitgebers, mit der Vornahme der Massenentlassungsanzeige nach Ausspruch der Kündigung und vor tatsächlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses seine Verpflichtungen aus § 17 KSchG erfüllt zu haben, schutzwürdig ist (vgl. LAG Köln, Urteil vom 25. Februar 2005, 11 Sa 767/04, LAG Berlin, Urteil vom 27. April 2005, 17 Sa 2646/04).

KOSTEN

16. Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen, § 97 Abs. 1 ZPO.

Ende der Entscheidung

Zurück