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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 23.10.2008
Aktenzeichen: 13 Sa 718/08
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 5 Abs. 3 Satz 2
1. Nach Ablauf der Frist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG kann ein Antrag auch dann nicht mehr mit Erfolg gestellt werden, wenn den Arbeitnehmer an der Versäumung der Frist keinerlei Verschulden trifft.

2. Die Kammer hält § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG auch in der vorstehenden Auslegung für mit dem Grundgesetz vereinbar.


Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Zwischenurteil des Arbeitsgerichts Essen vom 24. April 2008 - 8 Ca 648/08 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses.

Der im November 1953 geborene Kläger war bei der Beklagten, die etwa 350 Mitarbeiter beschäftigt, seit Juni 1974 zuletzt als Sachbearbeiter gegen einen Bruttomonatsverdienst von 3.625,- € nebst einem Arbeitgeberzuschuss zur Vermögensbildung in Höhe von 26,59 € angestellt. Der Kläger war Mitglied des bei der Beklagten gebildeten Betriebsrats.

Wenigstens seit dem Jahr 2006 ist der Kläger an einer Depression erkrankt. Von September 2006 bis zum 3. Februar 2007 war er aufgrund eines Rückenleidens arbeitsunfähig krank geschrieben. Im Anschluss daran täuschte er seiner Frau vor, wieder zur Arbeit zu gehen. Tatsächlich ging er jedoch im Wald spazieren.

Mit Schreiben vom 4. April 2007 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos wegen unentschuldigten Fehlens. Das Kündigungsschreiben wurde per Boten am gleichen Tag um 10:40 Uhr in den Briefkasten des Klägers eingeworfen. Der Kläger beantragte weder Arbeitslosengeld noch Sozialleistungen. Er unternahm mehrere Suizidversuche. Ende Januar 2008 meldete die Ehefrau des Klägers diesen bei der Polizei als vermisst, da er verschwunden war. Am 11. Februar 2008 begab der Kläger sich aufgrund Zuredens eines Freundes in stationäre psychiatrische Behandlung. Nach dem Verschwinden des Klägers fand dessen Ehefrau, die sich aufgrund der ehelichen Arbeitsteilung um geschäftliche Dinge zuvor nicht gekümmert hatte, etwa 400 ungeöffnete Poststücke aus den Jahren 2005 bis 2008 hinter dem Sofa der ehelichen Wohnung. Kredite für das Wohnhaus sowie einen Auslandsaufenthalt der Tochter waren nicht mehr bedient, Rechnungen nicht mehr bezahlt worden. Um zunächst das Nötigste zu regeln, musste die Ehefrau des Klägers etwa 10.000,- € aufwenden.

Mit seiner am 25. Februar 2008 beim Arbeitsgericht Essen eingegangenen Klage hat der Kläger sich gegen die Kündigung gewendet und beantragt, ihm "hinsichtlich der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren". Er hat vorgetragen, aufgrund seiner Erkrankung nicht in der Lage gewesen zu sein, gegen die Kündigung vorzugehen.

Mit Zwischenurteil vom 24. April 2008, auf dessen Gründe verwiesen wird, hat das Arbeitsgericht Essen den zuletzt gestellten Antrag des Klägers auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage als unzulässig verworfen.

Gegen das ihm am 7. Mai 2008 zugestellte Urteil hat der Kläger am 15. Mai 2008 Berufung eingelegt und diese - nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 7. August 2008 - mit einem an diesem Tag beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz begründet.

Er beruft sich unter Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens darauf, die Frist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG müsse verfassungskonform ausgelegt werden. Auch treffe die Beklagte aufgrund des langjährigen Arbeitsverhältnisses eine besondere Fürsorgepflicht.

Der Kläger beantragt,

das Zwischenurteil des Arbeitsgerichts Essen vom 24. April 2008 abzuändern und seine Kündigungsschutzklage vom 21. Februar 2008 nachträglich zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie weist darauf hin, dass sie - unstreitig - von der Erkrankung des Klägers und den übrigen Umständen keinerlei Kenntnis hatte.

Entscheidungsgründe:

A.

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere unter Beachtung der Vorgaben der §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit § 520 ZPO form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden.

B.

Die Berufung hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat den Antrag des Klägers auf nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage zu Recht als unzulässig verworfen.

Insoweit wird zunächst auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen. Ergänzend sowie im Hinblick auf die Berufungsangriffe gilt Folgendes:

Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG nicht in seinem Sinn verfassungskonform dahingehend auslegen, dass die Sechsmonatsfrist unbeachtlich ist, wenn den Arbeitnehmer an deren Versäumung keine Schuld trifft. Aus der Zusammenschau der Regelungen der Sätze 2 und 3 des § 5 Abs. 3 KSchG ergibt sich, dass es nur für einen Zeitraum von sechs Monaten nach Ablauf der Kündigungsschutzklagefrist darauf ankommt, ob den Arbeitnehmer ein Verschulden an der Fristversäumung trifft. Nur für den Zeitraum von sechs Monaten soll die schuldlose Versäumung der Klagefrist dazu führen, dass die Klage nachträglich zugelassen werden kann. Diesem Gesetzesbefehl hat die Kammer grundsätzlich zu folgen.

Anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur in ihrer Wirkung vergleichbaren Vorschrift des § 234 Abs. 3 ZPO. Der Bundesgerichtshof lässt diese bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unangewendet, wenn die Ursache der Fristüberschreitung nicht in der Sphäre der Partei liegt, sondern allein dem Gericht zuzurechnen ist (vgl. zB BGH 20. Februar 2008 - XII ZB 179/07 - NJW-RR 2008, 878). Ein solches Fremdverschulden liegt hier jedoch nicht vor. Nicht nur den Kläger, sondern auch die Beklagte und das Gericht trifft an der Versäumung der Klagefrist keine Schuld. Die fraglos dem Kläger gegenüber bestehende Fürsorgepflicht der Beklagten gebot jedenfalls angesichts der fehlenden Kenntnis der Beklagten von der Erkrankung des Klägers entgegen seiner Ansicht nicht, seiner Ehefrau die Kündigung zuzustellen oder diese auf andere Weise gesondert zu informieren.

Letztlich kommt auch keine Wiedereinsetzung in die Frist des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG in analoger Anwendung des § 233 ZPO in Betracht (vgl. BAG 16. März 1988 - 7 AZR 587/87 - NZA 1988, 875; KR-Friedrich 8. Aufl. § 5 RN 122 f. mwN; ErfK-Ascheid 8. Aufl. § 5 RN 24; Bader/Bram/Dörner/Kriebel KSchG 5. Aufl. § 5 RN 38; APS Kündigungsrecht Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5 RN 88 f). § 5 KSchG stellt eine abschließende Regelung bezogen auf die Fristen dar, in denen eine verspätete Kündigungsschutzklage nachträglich zugelassen werden kann. Darüber hinaus behandelt § 5 KSchG die Frage des ersten Zugangs zu Gericht, während die Vorschriften über die Wiedereinsetzung die Fortsetzung eines bereits begonnenen Rechtsstreits betreffen (HaKo-Gallner Kündigungsschutzrecht 3. Aufl. § 5 RN 3).

Die Kammer hat auch keine Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung. Das Kündigungsschutzrecht bewegt sich im Spannungsfeld der jeweils nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufswahlfreiheit des Arbeitnehmers und der Berufsfreiheit des Arbeitgebers bzw. dessen unter Art. 2 Abs. 1 GG fallenden wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit. Für den Gesetzgeber stellt sich damit ein Problem praktischer Konkordanz. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden. Dem Gesetzgeber, der diese Interessen zu einem gerechten Ausgleich bringen will, ist ein weiter Gestaltungsfreiraum eingeräumt. Die Einschätzung der für die Konfliktlage maßgeblichen ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen liegt in seiner politischen Verantwortung, ebenso die Vorausschau auf die künftige Entwicklung und die Wirkungen seiner Regelung. Dasselbe gilt für die Bewertung der Interessenlage, das heißt die Gewichtung der einander entgegenstehenden Belange und die Bestimmung ihrer Schutzbedürftigkeit. Eine Verletzung grundrechtlicher Schutzpflichten kann daher in einer solchen Lage nur festgestellt werden, wenn eine Grundrechtsposition den Interessen des anderen Vertragspartners in einer Weise untergeordnet wird, dass in Anbetracht der Bedeutung und Tragweite des betroffenen Grundrechts von einem angemessenen Ausgleich nicht mehr gesprochen werden kann (BVerfG 27. Januar 1998 - 1 BvL 15/87 - NZA 1998, 470). Die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verlangt zudem, dass dem Arbeitnehmer nicht nur eine formale Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts zur Verfügung gestellt wird, sondern dass auch die Effektivität des Rechtsschutzes gewährleistet ist (BVerfG 29. November 1989 - 1 BvR 1011/88 - NJW 1990, 1104). Dabei hat der Gesetzgeber den Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit mit dem der Rechtssicherheit abzuwägen.

Der Gesetzgeber ist den geschilderten verfassungsrechtlichen Eckpunkten durch ein ausgefeiltes System gerecht geworden. Grundsätzlich ist der Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes vor grundlosen Kündigungen geschützt. Diesen Eingriff in die Grundrechte des Arbeitgebers begrenzt in zeitlicher Hinsicht die dreiwöchige Klagefrist des § 4 KSchG. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass der Arbeitgeber in Anbetracht der Bedeutung, welche die Frage des Fortbestands des Arbeitsverhältnisses für das Unternehmen hat, kurzfristig Gewissheit haben soll, ob der Arbeitnehmer die Kündigung akzeptiert oder nicht (vgl. LAG Hamm 29. Oktober 1987 - 8 Ta 106/87 - LAGE KSchG § 5 Nr. 33; APS Kündigungsrecht Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5 RN 3). Die Möglichkeit der nachträglichen Klagezulassung nach § 5 KSchG mildert sodann die sich aus der einschneidenden Wirkung der Klagefrist ergebende Härte für diejenigen Arbeitnehmer ab, welche schuldlos an der rechtzeitigen Klageerhebung gehindert sind. Den hierdurch eintretenden Verlust an Rechtssicherheit für den Arbeitgeber begrenzt schließlich die Regelung des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG auf einen Zeitraum von sechs Monaten. Dies erscheint gerechtfertigt, weil der Arbeitgeber vor der verspäteten Klageerhebung keine Kenntnis hat, ob der Arbeitnehmer die Kündigung akzeptiert.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Kammer hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Die Regelung des § 5 Abs. 3 Satz 2 KSchG, insbesondere die Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit bzw. einer verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift, war bislang nicht Gegenstand einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts.

Ende der Entscheidung

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