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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 29.03.2006
Aktenzeichen: 17 Sa 1321/05
Rechtsgebiete: SGB IX


Vorschriften:

SGB IX § 85
SGB IX § 90 Abs. 2 a
1. § 90 Abs. 2 a SGB IX verlangt für die Beibehaltung des Sonderkündigungsschutzes schwerbehinderter Arbeitnehmer gemäß § 85 SGB IX keinen Nachweis der Schwerbehinderung - sei es durch Vorlage des Bescheides des Versorgungsamtes oder des Ausweises - gegenüber dem Arbeitgeber.

2. Ebensowenig gibt § 90 Abs. 2 a SGB IX vor, dass der Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter mindestens drei, falls ein medizinisches Gutachten zur Feststellung der Schwerbehinderung erforderlich ist, sogar sieben Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt sein muss.

3. Nach § 90 Abs. 2 a SGB IX findet § 85 SGB IX und damit das Erfordernis der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes bei Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers nur dann keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs entwender die Schwerbehinderung nicht nachgewiesen oder bei einem laufenden Anerkennungsverfahren dessen Abschluss aufgrund schuldhaft fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers nicht innerhalb dieser drei -bzw. siebenwöchigen Fristen erfolgen konnte.


LANDESARBEITSGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES TEILURTEIL

17 Sa 1321/05

Verkündet am 29. März 2006

In dem Rechtsstreit

hat die 17. Kammer des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 22.03.2006 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Grigo als Vorsitzenden sowie den ehrenamtlichen Richter Kraemer und den ehrenamtlichen Richter Karmaat

für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 15.09.2005 - 1 Ca 2065/04 lev - teilweise abgeändert und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis durch die vom 28.09.2004 datierte Kündigung der Beklagten nicht aufgelöst ist.

II. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

III. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über die Wirksamkeit zweier fristgerechter Kündigungen und mehrerer Abmahnungen. Hinsichtlich der Kündigungen ist dabei vorrangig streitig, ob diese schon aufgrund eines dem Kläger zustehenden besonderen Kündigungsschutzes nach Maßgabe des § 85 SGB IX unwirksam sind.

Der am 02.02.1969 geborene Kläger trat mit Abschluss eines Eingliederungs- und Betreuungsvertrages am 08.09.1986 in die Dienste der Rechtsvorgängerin der Beklagten, auf die das Arbeitsverhältnis infolge Betriebsübergangs am 30.10.2003 überging. Der im Bereich Werksdienste/Verkehrsflächen-Service als Hofarbeiter und Kraftfahrer eingesetzte Kläger verdiente zuletzt durchschnittlich monatlich 2.400,00 € brutto.

Am 08.09.2004 beantragte der Kläger beim Versorgungsamt K. seine Anerkennung als Schwerbehinderter. Mit Bescheid vom 22.04.2005 entsprach das Versorgungsamt dem nicht und stellte lediglich einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 fest. Auf Widerspruch des Klägers wurde allerdings mit Abhilfebescheid vom 27.09.2005 die Schwerbehinderteneigenschaft mit einem GdB von 50 wegen eines Hirnschadens mit Lernbehinderung und Verhaltensauffälligkeiten sowie eines degenerativen Wirbelsäulensyndroms, rückwirkend ab dem 08.09.2004 anerkannt. Zwischenzeitlich hatte die Beklagte mit Schreiben vom 28.09.2004, das dem Kläger am 29. oder 30.04.2004 zuging, eine Kündigung zum 31.12.2004 ausgesprochen. Die Beklagte stützt diese Kündigung - wie auch die spätere Kündigung vom 19.07.2005 - darauf, dass der Kläger ungeachtet einschlägiger Abmahnungen, zuletzt datiert vom 30.06.2004, am 30.08.2004 unerlaubt eine halbstündige Pause eingelegt und am 13.09.2004 seine Arbeit unentschuldigt etwa eine Stunde verspätet aufgenommen habe. Der Betriebsrat hatte den Kündigungen im Anhörungsverfahren widersprochen und dies u. a. damit begründet, dass der Kläger nicht in der Lage scheine, die Tragweite seines Handelns abschätzen zu können.

Der Kläger ist der Auffassung, die Kündigung vom 28.09.2004 sei bereits deshalb unwirksam, weil ihr das Integrationsamt nicht, wie gemäß § 85 Abs. 1 SGB IX geboten, zugestimmt habe. An dem ihm zustehenden Sonderkündigungsschutz als Schwerbehinderter scheitere auch die zweite Kündigung. Soweit das Integrationsamt der Kündigung vom 19.07.2005 die Zustimmung erteilt habe, sei dies noch nicht bestandskräftig; über seinen Widerspruch sei noch nicht entschieden. Den Kündigungen fehle im Übrigen die soziale Rechtfertigung, weil sie unverhältnismäßig seien, zumal er in der Vergangenheit zu Unrecht abgemahnt worden sei.

Der Kläger, der erstinstanzlich auch noch eine Zeugnisberichtigung begehrte, hat zunächst beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ungeachtet der undatierten Kündigung, zugegangen am 30.09.2004, über den 31.12.2004 hinaus fortbesteht,

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch nicht durch die Kündigung vom 19.07.2005, und damit auch nicht zum 31.12.2005 beendet ist,

3. die Beklagte zu verurteilen, ihre Abmahnungen vom 07.08.2000, 23.10.2001, 04.12.2003 und 30.06.2004 inhaltlich zurückzunehmen und körperlich Gegenstände aus der Personalakte zu entfernen.

4. die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ein Zeugnis des näheren Inhalts wie zu Bl. 287 GA zu erteilen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, der Kläger habe seine arbeitsvertraglichen Pflichten wiederholt eklatant verletzt. Die letzten Vorfälle vom 30.08. und 13.09.2004 stellten sich als Endpunkte einer langen Negativentwicklung dar, da der Kläger in den vergangenen Jahren trotz mehrfacher Abmahnungen immer wieder unentschuldigt gefehlt habe. Deshalb seien die Kündigungen auch sozial gerechtfertigt i. S. des § 1 KSchG und auch aus sonstigen Gründen nicht unwirksam. Insbesondere bestreite sie, dass der Kläger schwerbehindert sei. Selbst für diesen Fall könne er sich im Übrigen jedenfalls hinsichtlich der ersten Kündigung vom 28.09.2004 nicht auf den Sonderkündigungsschutz des § 85 SGB IX berufen. Nach § 90 Abs. 2 a SGB IX bedürfe die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers nicht der Zustimmung des Integrationsamtes, wenn zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs die Schwerbehinderung nicht nachgewiesen sei. Daran habe es streitlos gefehlt. Hinzu komme, dass nach § 90 Abs. 2 a SGB IX der besondere Kündigungsschutz im Übrigen nur noch dann eingreife, wenn der Arbeitnehmer seinen Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderung mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt habe. Die Frist sei nicht gewahrt, da dem Kläger das Kündigungsschreiben am 29.09.2004 und damit innerhalb der auf den 08.09.2004 zurückzurechnenden 3-Wochen-Frist zugegangen sei.

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 15.09.2005 dem Antrag auf Zeugnisberichtigung weitestgehend stattgegeben, die Klage jedoch im Übrigen abgewiesen. Die vom 28.09.2004 datierte Kündigung sei aus verhaltensbedingten Gründen sozial gerechtfertigt. Diese Kündigung scheitere auch nicht an § 85 Abs. 1 SGB IX, da eine Schwerbehinderung des Klägers - noch - nicht festgestellt sei. Damit gehe einher, dass sowohl der weiteren Kündigungsschutzklage als auch der gegen die Abmahnungen gerichteten Klage das Rechtsschutzinteresse fehle.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung. Er verweist in der Berufungsinstanz insbesondere auf die ihm nach Urteilserlass rückwirkend zuerkannte Schwerbehinderteneigenschaft. Zumindest die Kündigung vom 28.09.2004 sei deshalb unwirksam, wobei hinzu komme, dass es des förmlichen Nachweises der Schwerbehinderung nicht einmal bedurft habe, weil seine Schwerbehinderung offenkundig gewesen sei.

Der Kläger beantragt nunmehr,

unter teilweiser Abänderung des Urteils des Arbeitsgerichts Solingen vom 15.09.2005 - 1 Ca 2065/04 -

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ungeachtet der undatierten Kündigung, zugegangen am 30.09.2004, über den 31.12.2004 hinaus fortbesteht,

2. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien auch nicht durch die Kündigung vom 19.07.2005 und damit auch nicht zum 31.12.2005 beendet ist,

3. die Beklagten zu verurteilen, ihre Abmahnungen vom 07.08.2000, 23.10.2001, 04.12.2003 und 30.06.2004 inhaltlich zurückzunehmen und körperlich gegenständlich aus der Personalakte zu entfernen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt insbesondere weiterhin die Auffassung, dass dem Kläger der Sonderkündigungsschutz des SGB IX nicht zur Seite stehe. Zwar sei aufgrund des Bescheides des Versorgungsamtes K. vom 27.09.2005 nunmehr festgestellt, dass der Kläger schwerbehindert sei. Es verbleibe jedoch dabei, dass der Kläger die vom Gesetzgeber zur Vermeidung von Missbrauchsfällen mit § 90 Abs. 2 a SGB IX vorgegebene Mindestfrist eines zeitlichen Abstandes der Antragstellung von drei Wochen vor Zugang der ersten Kündigung nicht gewahrt habe, geschweige denn ein solcher von sieben Wochen, wie sie hier sogar einschlägig sei. Die Kündigung sei dem Kläger nicht, wie er behaupte, erst am 30.09.2004 zugegangen sei, sondern durch Übergabe an seine im gleichen Hause wohnende Mutter bereits am 29.09.2004.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen, die Sitzungsniederschriften und den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist teilweise begründet. Abgrenzbar und entscheidungsreif ist der Rechtsstreit in der Berufungsinstanz, soweit sich der Kläger gegen die Abweisung der gegen die Kündigung vom 28.09.2004 gerichteten Klage wendet, sodass hierüber durch Teilurteil nach Maßgabe von § 301 Abs. 1 ZPO zu erkennen war.

A.

Die gegen die Kündigung vom 28.09.2004 gerichtete Klage unterliegt zunächst keine Zuklässigkeitsbedenken. Der Kläger hat zudem auch die materiellrechtliche Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG mit Einreichung der Klage beim Arbeitsgericht am 08.10.2004 gewahrt.

B.

Diese Kündigung ist, wie der Kläger zu Recht geltend macht, aufgrund des ihm zustehenden Schwerbehindertenschutzes wegen Verstoßes gegen das Erfordernis der Zustimmung des Integrationsamts (§ 85 SGB IX) gemäß § 134 BGB unwirksam.

I.

Gemäß § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Arbeitnehmers durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Die Schwerbehinderung des Klägers zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung, gleichgültig ob diese, wie die Beklagte meint, zum 29.09.2004 oder, der Auffassung des Klägers folgend, am 30.09.2004 erfolgte, steht fest. Mit Bescheid des Versorgungsamts K. vom 27.09.2004 wurde letztlich im Widerspruchsverfahren anerkannt, dass der Kläger bereits ab dem 08.09.2004 schwerbehindert ist. Streitlos lag auch zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung keine zustimmende Entscheidung des Integrationsamtes vor. Eine Zustimmung war entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht entbehrlich. Die Voraussetzungen der Ausnahmebestimmung des § 90 Abs. 2 a SGB IX, bei deren Vorliegen die Zustimmung entbehrlich ist, liegen im Streitfalle nicht vor.

II.

Die Anwendung des § 85 SGB IX ist nach dem am 01.05.2004 - anlässlich einer Novellierung des SGB IX - in Kraft getretenen § 90 Abs. 2 a SGB IX ausgeschlossen,

"wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen ist oder das Versorgungsamt nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2 eine Feststellung wegen fehlender Mitwirkung nicht treffen konnte."

Dabei weist die Bestimmung zwei alternierende Ausnahmetatbestände aus (vgl. LAG Düsseldorf, Urteil vom 22.03.2005 - 6 Sa 1938/04 - LAGE § 90 SGB IX Nr. 1 und Urteil vom 17.01.2006 - 8 Sa 1052/05 - (n.v.) und etwa Schlewing, NZA 2005, S. 1218, 1220; a.A. ArbG Düsseldorf, Urteil vom 29.10.2004 - NZA-RR 2005, 138 ff.). Neben der grammatikalisch eindeutigen Verknüpfung der beiden Halbsätze durch das Wort "oder" folgt dies aus der Entstehungsgeschichte der Norm. In der amtlichen Begründung, dem Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 14.01.2004 (BT-Dr. 15/2357 S. 24), wird die Neuregelung damit begründet, dass der Arbeitgeber einer vorherigen Zustimmung zur Kündigung nicht bedarf, wenn zum Zeitpunkt der beabsichtigten Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht nachgewiesen, also entweder nicht offenkundig ist, sodass es eines durch ein Feststellungsverfahren zu führenden Nachweises nicht bedarf oder der Nachweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch nicht durch einen Feststellungsbescheid nach § 69 Abs. 1 erbracht ist. Anschließend heißt es: "Der Kündigungsschutz gilt daneben nur in den Fällen, in denen ein Verfahren auf Feststellung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch zwar anhängig ist, das Versorgungsamt aber ohne ein Verschulden des Antragstellers noch keine Feststellung treffen konnte."

1. Nach der 1. Alternative des § 90 Abs. 2 a SGB IX hat der Kläger im Streitfalle das Privileg des besonderen Kündigungsschutzes nicht verloren.

a) Voraussetzung für die Zubilligung des Sonderkündigungsschutzes war bis zum Inkrafttreten des § 90 Abs. 2 a SGB IX allein, dass vor Zugang der Kündigung ein Bescheid über die Schwerbehinderteneigenschaft ergangen oder jedenfalls ein entsprechender Antrag gestellt war. Der Feststellungsbescheid des Versorgungsamtes hatte nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum keine rechtsgründende (konstitutive), sondern lediglich eine erklärende (deklaratorische) Wirkung. Allerdings verlangte das BAG zur Vermeidung illoyal verspäteter Geltendmachung von Rechten, dass der Arbeitnehmer den Arbeitgeber innerhalb einer Regelfrist von einem Monat nach Zugang der Kündigung über seine Schwerbehinderung oder den beim Versorgungsamt gestellten Anerkennungsantrag unterrichte (BAG, Urteile vom 23.02.1978 - 2 AZR 462/76 - BAGE 30, 141 = AP Nr. 3 zu § 12 SchwerbG und vom 05.07.1990 - 2 AZR 8/90 - = AP Nr. 1 zu § 15 SchwerbG 1986).

b) Der vereinzelt im Schrifttum, etwa von Bauer/Powietzka (NZA-RR 2004, 505, 507), vertretenen Auffassung, mit der 1. Alternative des § 90 Abs. 2 a SGB IX habe der Gesetzgeber aufgezeigt, dass die Erhaltung des Sonderkündigungsschutzes nach der neuen Rechtslage voraussetze, dass der Arbeitnehmer spätestens im Zeitpunkt des Kündigungszugangs seine Schwerbehinderteneigenschaft dokumentieren müsse, sei es durch den Schwerbehindertenausweis (§ 69 Abs. 5 SGB IX) oder den Feststellungsbescheid (§ 69 Abs. 1 SGB IX), kann vor diesem Hintergrund nicht beigetreten werden. Einzuräumen ist lediglich, dass die Gesetzesfassung, was ihre Klarheit betrifft, alles Andere als geglückt oder mit den Worten von Rolfs/Barg (BB 2005, 1678,1679) "gründlich misslungen" ist. Gleichwohl ist die auf eine solche Nachweispflicht gegenüber dem Arbeitgeber (Bauer/Powietzka a.a.O.) abstellende Auffassung zu vordergründig am Wortlaut der 1. Alternative der Bestimmung orientiert. Der eigenständig normierte zweite Ausschlusstatbestand des § 90 Abs. 2 a SGB IX und damit der Gesamtzusammenhang der Norm lässt hingegen schon denkgesetzlich nicht den Schluss auf eine Nachweispflicht zu, da der Gesetzgeber in dieser 2. Alternative gerade darauf abstellt, dass der zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs gestellte Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter den Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX zu gewähren vermag, d. h. der vorherige Abschluss des Anerkennungsverfahrens, dokumentiert durch den (positiven) Bescheid und/oder Ausweis mithin nicht vorausgesetzt wird.

c) Die Gesetzesgeschichte bestätigt letztlich dieses Auslegungsverständnis. Abweichend von dem Entwurf der Fraktion der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatte eine Bundesratsinitiative den Sonderkündigungsschutz davon abhängig machen wollen, dass der Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber bereits vor Ausspruch der Kündigung seinen Status nachzuweisen hatte (BR-Dr. 746/2/03; hierzu näher Düwel, FA 2004, 200, 201 und Cramer, NZA 2004, 698, 704). Diese Initiative hat sich nicht durchgesetzt. Vielmehr lässt die verabschiedete Gesetzesfassung offen, zu welchem Zeitpunkt und wem gegenüber der geforderte "Nachweis" erfolgen soll. Mithin spricht nichts für ein Abrücken von dem vor Inkrafttreten des § 90 Bas. 2 a SGB IX im Wege richterlicher Rechtsfortbildung aufgestellten Grundsatz, dass allein der Anerkennung als Schwerbehinderter konstitutive Bedeutung für den Sonderkündigungsschutz zukommt, dies selbst dann, wenn diese nach Zugang der Kündigung rückwirkend zu einem vor Ausspruch der Kündigung liegenden Zeitraum erfolgt - so auch LAG Düsseldorf, Urteil vom 22.03.2005 - 6 Sa 1938/04 - und ArbG Düsseldorf, Urteil vom 29.10.2004 - 13 Ca 5326/04 - jeweils a.a.O.; ArbG Bonn - Urteil vom 25.11.2004 - NZA-RR 2005, 193 f.; Rehwald/Kossak, AiB 2004, 604, 606; Griebeling NZA 2005, 494, 497. Nach alledem kodifiziert die 1. Alternative lediglich die ständige Rechtsprechung des BAG, dass der Sonderkündigungsschutz nicht beansprucht werden kann, wenn die Schwerbehinderung bei Zugang der Kündigung zwar objektiv vorlag aber weder beantragt noch offenkundig war -Rolfs/Barg, a. a. O., S 1682.

d) Diesen Vorrausetzungen hat der Kläger jedoch im Streitfalle selbst dann, wenn zugunsten der Beklagten unerstellt wird, dass seine Schwerbehinderteneigenschaft nicht als offenkundig anzusehen und der Beklagten deshalb nicht bereits im Zeitpunkt der Kündigung bekanntgewesen ist, genügt. Er hat vor Zugang der streitigen Kündigung vom 28.09.2004 bereits am 08.09.2004 beim Versorgungsamt K. seine Anerkennung als Schwerbehinderter beantragt und die Beklagte mit der Klageschrift, die der Beklagten am 08.10.2004 zugestellt wurde, rechtzeitig hierüber unterrichtet.

2. Der besondere Kündigungsschutz des Klägers nach § 85 Abs. 1 SGB IX entfällt eben so wenig nach der 2. Alternative des § 90 Abs. 2 a SGB IX.

a) Der Wortlaut der Bestimmung gibt zunächst keinen hinlänglichen Aufschluss darüber, was der Gesetzgeber mit dem Tatbestandsmerkmal "nach Ablauf der Frist des § 69 Abs. 1 Satz 2", mit anderen Worten mit der Säumnis einer über die Verweisung auf § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX zu bestimmenden Frist, gemeint hat. Die Schwäche dieser Formulierung zeigt sich schon darin, dass, worauf bereits Griebeling (a.a.O., S. 496) hingewiesen hat, singulär auf "die Frist" abgestellt wird, § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB IX jedoch nicht eine Frist ausweist, sondern vielmehr wiederum verweist, dies auf mehrere Fristen, die in § 14 Abs. 2 Satz 2 und 4 sowie Abs. 5 Satz 2 und 5 SGB IX aufgeführt sind. Dabei unterscheidet § 14 SGB IX danach, ob für die Anerkennung die Einholung eines Gutachtens erforderlich ist oder nicht. Ist die Einholung eines Gutachtens nicht erforderlich, hat das Versorgungsamt innerhalb von drei Wochen ab Antragstellung zu entscheiden, § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX. Ist ein Gutachten erforderlich, hat das Versorgungsamt unverzüglich einen Sachverständigen zu beauftragen (§ 14 Abs. 5 Satz 2 SGB IX), der gemäß § 14 Abs. 5 Satz 5 SGB IX gehalten ist, sein Gutachten innerhalb von zwei Wochen zu erstellen. Das Versorgungsamt hat dann innerhalb weiterer zwei Wochen nach Vorliegen des Gutachtens zu entscheiden, § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX. Hieraus folgt bei Einholung eines Gutachtens - wie dies in der Regel aus der Sicht des Versorgungsamtes geboten sein dürfte - für die behördliche "Abwicklung" und Bescheidung des Antrages ein Gesamtzeitraum von sieben Wochen.

aa) Weder die Wahrung einer vom späteren Kündigungszugang zurückgerechneten 7-wöchigen Frist noch etwa eine "Grundfrist" von lediglich drei Wochen obliegt jedoch nach Auffassung der Berufungskammer dem Arbeitnehmer: eine derartige typisierende Regelfrist gibt § 90 Abs. 2 a 2. Alternative SGB IX nicht vor. Der entscheidende Fehler der Gegenansicht der Beklagten, die sich die Auffassung der Integrationsämter, belegt etwa durch die von ihr zitierte Broschüre des Landschaftsverbandes Rheinland vom 08.06.2005, zu eigen macht, liegt in der fehlenden Beachtung des Gesetzeszwecks. Nach der Motivation des Gesetzgebers, wie sie der Bericht des Bundestagsausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 14.01.2004 (a.a.O. S. 24) aufzeigt, ist es Sinn und Zweck der Vorschrift, einem Missbrauch des besonderen Kündigungsschutz nach § 85 SGB IX entgegenzuwirken, der nach der bisherigen Rechtslage in der Praxis häufig aufgetreten sein soll. Unterstellt wird, wie schon in der Begründung der Bundesratsinitiative, dass Arbeitnehmer in vorzeitiger Kenntnis der bevorstehenden Kündigung, etwa über den gemäß § 102 BetrVG gehörten Betriebsrat, ungeachtet des Fehlens jeglicher gesundheitlicher Beeinträchtigung nur deshalb aussichtslose Anerkennungsverfahren anstrengten, um so ihre Position in Abfindungsverhandlungen zu stärken (vgl. Bauer/Powietzka, a.a.O. S. 507; Düwel, a.a.O., S. 2813). Von einem solchen Missbrauch, den die Neuregelung des § 90 Abs. 2 a SGB IX verhindern soll, kann indes keine Rede allein deshalb sein, weil bei Zugang der Kündigung die Regelfrist des Antragsverfahrens von drei bzw. sieben Wochen noch nicht abgelaufen ist. "Fehlende Mitwirkung" als Voraussetzung des Ausschlussgrundes der 2. Alternative des § 90 Abs. 2 a SGB IX stellt vielmehr auf "Verschulden des Antragstellers" ab. Wörtlich wird im Ausschlussbericht vom 14.01.2004, darauf abgestellt, dass entscheidend sei, dass "das Versorgungsamt aber ohne ein Verschulden des Antragstellers noch keine Feststellung treffen konnte."

bb) Da dem später gekündigten Arbeitnehmer hellseherische Fähigkeiten jedoch nicht zu unterstellen sind, kann eine schuldhafte (§ 276 BGB) Säumnis, die zur Folge hätte, dass der Arbeitgeber nicht (mehr) die Zustimmung des Integrationsamtes nach § 85 SGB IX benötigte, nicht aufgrund eines etwa fehlenden zeitlichen Abstandes zwischen Antragstellung und Kündigungszugang, sei es von drei oder gar sieben Wochen, vorliegen. Rechtlich relevant sein kann allenfalls eine schuldhaft unterlassene Mitwirkung des Betroffenen, in dem Umfang, wie sie ihm nach § 60 SGB I obliegt; entscheidend ist, ob der Arbeitnehmer, sofern bei Ablauf der maßgeblichen Frist des § 14 SGB IX noch kein Bescheid vorliegt, das Verfahren zurechenbar verzögert hat. Die 2. Alternative des § 90 Abs. 2 a SGB IX schließt mit anderen Worten den besonderen Kündigungsschutz nur dann aus, wenn der Arbeitnehmer zwar letztlich (im Widerspruchs- oder Klageverfahren) seine Anerkennung als schwerbehinderter Mensch erstreiten kann, eine zeitnahe positive Entscheidung des Versorgungsamtes innerhalb von drei bzw. sieben Wochen nach Antragseingang aber an seiner (zunächst) mangelnden Mitwirkung gescheitert war. In allen übrigen Fällen bleibt der Sonderkündigungsschutz bestehen, insbesondere auch dann, wenn der Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung aus anderen Gründen - etwa einer fehlerhaften ärztlichen Betrachtung oder einer falschen Sachbehandlung durch das Versorgungsamt - zunächst abgelehnt worden war und ihm erst im Widerspruchs- oder Klageverfahren stattgegeben wurde - Rolf/Barg, a. a. O., S 1681. Der Gesetzgeber hat es hingenommen, dass - anders als noch vom Bundesrat initiiert - für den Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung nach wie vor keine definitive Rechtssicherheit in Bezug auf das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes des § 85 SGB IX etwa dadurch gewährleistet ist, dass er über den betroffenen Mitarbeiter oder das zuständige Versorgungsamtes unschwer erfahren kann, ob ein Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter und, falls ja, ob er "fristgerecht" gestellt wurde. Zugunsten des Arbeitgebers ist jedoch mit § 90 Abs. 2 a SGB IX der "Schwebezustand" zeitlich eingegrenzt auf den drei- bzw. siebenwöchigen behördlichen Bearbeitungsgang, allerdings verbunden mit weiteren Problemen der Darlegungs- und Beweislast bezüglich der Frage, inwieweit eine eventuelle Überschreitung der Frist dem Arbeitnehmer zuzurechnen ist (vgl. zu dieser Kontroverse Schlewing, a. a. O., S 1222 f.

cc) Hinzu tritt, dass eine solche "Fristenvorgabe" nicht verfassungskonform wäre. Der allgemeine Gleichheitssatz des Artikel 3 Abs. 1 GG, der auch für den Gesetzgeber kompetenzakzessorisch wirkt, wäre mangels geeigneter Differenzierungsmerkmale, die eine Aushebelung des arbeitsrechtlichen Schutzgesetzes des § 85 SGB IX rechtfertigen könnten, verletzt. Für eine unterschiedliche Behandlung schwerbehinderter Arbeitnehmer aufgrund von ihnen nicht beeinflussbarer Entscheidungen der Versorgungsverwaltung hinsichtlich der Notwendigkeit der Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens besteht kein sachlicher Grund. Einen solchen vermag jedenfalls die Berufungskammer nicht zu erkennen. Damit verbietet sich zugleich die Annahme, dass der Gesetzgeber die Ausnahmevorschrift des § 90 Abs. 2 a SGB IX mit einer solchen gestaffelten Fristenregelung hatte verknüpfen wollen, da in der Auslegung gesetzlicher Vorschriften im Zweifel stets derjenigen Auslegung einer Norm der Vorzug zu geben ist, die im Einklang mit dem Grundgesetz steht - vgl. BAG, Urteil vom 14.11.1975 - 1 ABR 107/74 - AP Nr. 5 zu § 118 BetrVG 1972.

b) Danach liegen im Streitfall auch nicht die Voraussetzungen der 2. Alternative des § 90 Abs. 2a SGB IX vor. Ein Missbrauch i. S. dieser Bestimmung ist dem Kläger nicht anzulasten. Erst recht hat er keine rechtlich erhebliche Frist versäumt. Zu vertreten i.S. der 2. Alternative des § 90 Abs. 2 a SGB IX hat der Kläger die verzögerliche Bearbeitung seitens des Versorgungsamtes K. bis zur Entscheidung am 27.09.2005 nicht. Die Beklagte hat sich in der letzten mündlichen Verhandlung vor der Berufungskammer nicht einmal mehr darauf berufen, nachdem der Kläger unter Verweisung auf seine bereits damalige anwaltliche Vertretung und unter Bezugnahme auf die im Korrespondenz mit dem Versorgungsamt K. näher erläuterte, dass er seinen Mitwirkungspflichten (§ 60 Abs. 1 SGB I ) im Ausgangsverfahren vollinhaltlich nachgekommen war. Die - letztlich gesetzeswidrige - lange Verfahrensdauer war streitlos ausschließlich auf Gründe in der Sphäre der Behörde zurückzuführen. Überzeugend auch für die Beklagte wurde dies u. a. durch das klägerseits zu den Akten gegebene Schreiben des Versorgungsamtes K. vom 15.09.2004 belegt, in dem es heißt, dass es "leider oft einige Zeit dauere, bis alle für die Entscheidung notwendigen Unterlagen vorliegen".

C.

Die Berufungskammer hat der Entscheidung grundsätzliche Bedeutung beigemessen und daher für die Beklagte die Revision an das Bundesarbeitsgericht gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen.

Ende der Entscheidung

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