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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil verkündet am 01.06.2007
Aktenzeichen: 13 Sa 23/07
Rechtsgebiete: TV für die Bediensteten der nichtbundeseigenen Eisenbahn und von Kraftverkehrsbetrieben


Vorschriften:

TV für die Bediensteten der nichtbundeseigenen Eisenbahn und von Kraftverkehrsbetrieben § 10
Bei der Gewährung von Zuschlägen für geleistete Überstunden nach § 10 Abs. 2 ETV kommt es nicht darauf an, ob während der regelmäßigen Arbeitszeit im Bezugszeitraum auch tatsächlich gearbeitet worden ist.
Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn vom 23.11.2006 - 4 (3) Ca 2030/06 - wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Zahlung von Überstundenzuschlägen.

Die Klägerin ist seit dem Jahr 1998 als Angestellte im Betriebs- und Verkehrsdienst für die Beklagte tätig. Auf das Arbeitsverhältnis findet unter anderem der Tarifvertrag für die Bediensteten der nichtbundeseigenen Eisenbahnen und von Kraftverkehrsbetrieben vom 15.12.1966 (im folgenden kurz: ETV) Anwendung.

Die Beklagte erstellte der Klägerin für die erste Hälfte des Jahres 2006 bei einem tarifvertraglich vorgegebenen Ausgleichszeitraum von zwei aufeinanderfolgenden Kalendermonaten folgende Stundennachweise:

Januar/ Februar 2006: 388,21 Gesamtstunden bei 325 Sollstunden (davon 203,45 Std. wegen bezahlter Freistellungen);

März/ April 2006: 391,54 Gesamtstunden bei 339 Sollstunden (davon 93,36 Std. wegen bezahlter Freistellungen);

Mai/ Juni 2006: 391,53 Gesamtstunden bei 345 Sollstunden (davon 62,24 Std. wegen bezahlter Freistellungen).

Für die insgesamt 162,28 Überstunden begehrt die Klägerin die Zahlung von Zuschlägen in Höhe von 5,04 € brutto pro Stunde (= unstreitig 30% ihres Basistabellenwerts in Höhe von 16,80 €).

Sie hat die Auffassung vertreten, nach den einschlägigen tarifvertraglichen Bestimmungen schulde die Beklagte ihr in jedem Fall der Ableistung von Überstunden auch die entsprechenden Zuschläge.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 817,89 € brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 318,58 € brutto seit dem 01.03.2006, aus 264,80 € brutto seit dem 01.05.2006 und aus 234,51 € brutto seit dem 01.07.2006 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat gemeint, die Zuschlagspflichtigkeit bestehe nur dann, wenn sowohl die Soll- wie auch die Überstunden durch tatsächliche Arbeitsleistungen erbracht worden seien. Deshalb sei hier ein Anspruch wegen der der Klägerin gewährten bezahlten Freistellungen (Urlaub oder Krankheit) nicht gegeben.

Das Arbeitsgericht hat der Klage durch Urteil vom 23.11.2006 stattgegeben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, aus § 10 Abs. 2 ETV ergebe sich die Notwendigkeit, dass Überstunden tatsächlich geleistet worden seien; Entsprechendes gelte aber nicht für die Stunden im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit. Anderenfalls hätten die Tarifvertragsparteien das Verb "geleistet" auch darauf beziehen müssen.

Gegen dieses der Beklagten am 15.12.2006 zugestellte Urteil hat sie am 04.01.2007 Berufung eingelegt und diese am 31.01.2007 begründet.

Sie ist der Ansicht, zu Recht habe sie bei der Feststellung von Überstunden und entsprechender Zuschläge die u.a. wegen Urlaubs und Krankheit angefallenen Freistellungszeiten unberücksichtigt gelassen, weil diese im Sinne des § 10 ETV nicht "geleistet" worden seien. Durch den Zuschlag solle nämlich nur einer tatsächlichen Mehrbelastung Rechnung getragen werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Iserlohn vom 23.11.2006 - 4 (3) Ca 2030/06 - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie meint, § 10 ETV setze nicht voraus, dass auch die Stunden, die der regelmäßigen Arbeitszeit entsprächen, tatsächlich geleistet werden müssten.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Arbeitsgericht der Klage stattgegeben.

Die Klägerin kann von der Beklagten die Zahlung eines 30-prozentigen Zuschlags für die im Zeitraum von Januar bis Juni 2006 angefallenen insgesamt 162,28 Überstunden in rechnerisch unstreitiger Höhe von 817,98 € brutto (nebst Zinsen) verlangen.

Dies ergibt die Auslegung der auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren einschlägigen Bestimmungen des ETV.

Nach ständiger, zutreffender Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (zuletzt z. B. BAG, Urteil vom 06.12.2006 - 4 AZR 711/05 - , Rdnr. 14; NZA-RR 2004, 31; AP TVG § 1 Auslegung Nr. 135) folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist zunächst vom Tarifwortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Buchstaben zu haften. Dabei sind der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrags ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. In Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt.

Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 10 Abs. 2 ETV, dass die Zahlung von Überstundenzuschlägen nicht davon abhängig ist, ob während der regelmäßigen Arbeitszeit auch tatsächlich gearbeitet worden ist.

Denn wie das Arbeitsgericht bereits zutreffend herausgestrichen hat, enthält die genannte Tarifnorm als Subjekt den Begriff "Überstunden". Im anschließenden Relativsatz wird dieses Substantiv durch das Relativpronomen "die" wieder aufgenommen, bevor der Satz, passend zum Subjekt, mit einem Verb im Plural "geleistet werden" endet. Grammatikalisch kann daraus nur der Schluss gezogen werden, dass "lediglich" die Überstunden tatsächlich erbracht werden müssen, nicht aber auch die regelmäßige Arbeitszeit im Sinne des § 9a Abs. 1 S. 1 ETV.

Dafür spricht auch, dass am Ende des § 10 Abs. 2 ETV auf die "festgesetzte" und nicht auf die "tatsächlich geleistete" regelmäßige Arbeitszeit abgestellt wird. In dem Zusammenhang kann auch auf § 9a Abs. 9 ETV verwiesen werden, wo die Tarifvertragsparteien differenzieren zwischen regelmäßiger und (nicht) geleisteter Arbeitszeit. Eine entsprechende (sprachliche) Differenzierung hätte auch in § 10 Abs. 2 ETV vorgenommen werden müssen.

Insoweit liegt ein wesentlicher Unterschied zu der vom Bundesarbeitsgericht im Urteil vom 07.07.2004 (BAG AP TVG § 1 Tarifverträge:Verkehrsgewerbe Nr. 10) entschiedenen Konstellation vor. Dort ergab sich nämlich aus der tarifvertraglichen Formulierung, wonach zuschlagspflichtige Mehrarbeit vorlag, "wenn Arbeitnehmer mehr als ihre regelmäßige Arbeitzeit im Monat arbeiten", dass sich das Verb auch auf den Zeitraum der regelmäßigen Arbeitszeit bezog.

Anders als in dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall knüpfen hier auch die Tarifvertragsparteien bei der Berechnung der Krankenbezüge und des Urlaubsentgelts an die Vergütung der drei davor liegenden Kalendermonate an, beziehen also dort ausgefallene Arbeitsstunden mit ein, während sie namentlich das Entgelt für tatsächlich geleistete Überstunden unberücksichtigt lassen (§ 21 Abs. 1 S. 2 und § 27 Abs. 10 ETV).

Das gefundene Auslegungsergebnis entspricht auch "weit verbreiteten tariflichen Regelungen" (vgl. BAG, a.a.O.). Üblicherweise wird nämlich durch die Gewährung von Zuschlägen dem Aspekt Rechnung getragen, dass Arbeitnehmer außerhalb ihres regelmäßigen Arbeitsrhythmus tätig werden müssen und dadurch einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt sind (vgl. auch § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG). Dieser Gesichtspunkt greift auch dann Platz, wenn zuvor während der regelmäßigen Arbeitzeit Ausfälle z. B. durch Urlaub oder Krankheit eingetreten sind.

Wenn die Tarifvertragsparteien weitergehend nur eine Mehrbelastung bei tatsächlicher Erbringung der Arbeitsleistung auch während der regelmäßigen Arbeitszeit hätten zuschlagspflichtig machen wollen, hätten sie die Tarifnorm entsprechend fassen müssen, z. B. durch eine entsprechende differenzierende Begrifflichkeit wie in § 9a Abs. 9 ETV.

So bleibt es dabei, dass zwar bei den Überstunden an deren tatsächliche Leistung angeknüpft wird, nicht aber bei der in Bezug genommenen regelmäßigen durchschnittlichen Arbeitszeit im Sinne des § 9a Abs. 1 S. 1 ETV.

Die Tarifvertragsparteien haben also durch die zum 01.07.1994 in Kraft getretenen tarifvertraglichen Änderungen, namentlich die Verlängerung des Ausgleichszeitraums auf zwei Monate, zwar gerade bei Arbeitsspitzen das Entstehen von Überstundenansprüchen eingeschränkt. Wird aber ein Mitarbeiter über das Zweimonatsstundenkontingent hinaus tätig, stehen ihm Überstundenansprüche auch dann zu, wenn er in den einschlägigen zwei Monaten nicht kontinuierlich tatsächlich gearbeitet hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Revision war zuzulassen, weil der entscheidungserheblichen Rechtsfrage eine grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG).

Ende der Entscheidung

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