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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil verkündet am 27.10.2005
Aktenzeichen: 10 (9) Sa 973/05
Rechtsgebiete: KSchG, BGB


Vorschriften:

KSchG § 15 I 1
BGB § 626 I
1. Grobe Beleidigungen und Tätlichkeiten können auch dann ein wichtiger Grund für eine fristlose Kündigung sein, wenn sie unter Betriebsratsmitgliedern im Betriebsratsbüro stattfinden.

2. Bei der einzelfallorientierten Interessenabwägung sind u. a. der betriebsratsbezogene Hintergrund der Auseinandersetzung und die fehlende "Betriebsöffentlichkeit" zu berücksichtigen.


Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen das am 12.04.2005 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Aachen - 4 Ca 218/05 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung und um Weiterbeschäftigung.

Der am 28.07.1956 geborene Kläger ist bei der Beklagten seit dem 02.07.1971 beschäftigt. Die Beklagte entwickelt und vertreibt Schienenfahrzeuge. Sie beschäftigte zum Kündigungszeitpunkt 783 Mitarbeiter, darunter 41 Schwerbehinderte bzw. gleichgestellte Menschen, darunter den Kläger mit einem Grad der Behinderung von 60 %. Der Kläger ist als Schlosser tätig und seit 1987 Mitglied des Betriebsrats. Das Arbeitsentgelt des Klägers betrug zuletzt ca. 2.700,00 €.

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis zunächst unter dem 05.01.2005 mit Zustimmung des Betriebsrats. Da sie die Zustimmung des Integrationsamtes nicht eingeholt hatte, leitet die Beklagte aus dieser Kündigung keine Rechte mehr her. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist eine weitere außerordentliche Kündigung vom 21.01.2005, die dem Kläger am 22.01.2005 zuging. Dieser Kündigung hat das Integrationsamt auf Antrag der Beklagten vom 07.01.2005 am 21.01.2005 zugestimmt.

Die Beklagte stützt die Kündigung auf einen Vorfall am 04.01.2005, der sich im Betriebsratsbüro ereignet hat. Dort kam es nach einer verbalen zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und dem Betriebsratsvorsitzenden. Der Kläger hat behauptet, nicht er, sondern der Betriebsratsvorsitzende habe ihn tätlich angegriffen. Er habe sich lediglich verteidigt. Der Betriebsrat sei zu der Kündigung vom 21.01.2005 nicht angehört worden.

Der Kläger hat beantragt,

1. festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die dem Kläger am 22.01.2005 zugegangene Kündigung der Beklagte vom 21.01.2005 nicht aufgelöst worden ist,

2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Rechtsstreits zu unveränderten Bedingungen als Schlosser in der Produktion weiterzubeschäftigen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie behauptet, der Kläger habe am Vormittag des 04.01.2005 den Betriebsratsvorsitzenden im Betriebsratsbüro zunächst mit Worten wie "Arschloch" und "Drecksau" beleidigt und ihn anschließend angegriffen. Hintergrund der Auseinandersetzung ist - unstreitig - eine vom Kläger nicht gebilligte Zustimmung des Betriebsrats zur unbezahlten Arbeitszeitverlängerung. Nach dem Vortrag der Beklagten hat sie den Betriebsrat auch zur zweiten streitgegenständlichen Kündigung angehört und sowohl von ihm als auch von der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen erneut die Zustimmung erhalten.

Das Arbeitsgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe die erforderliche Zustimmung des Betriebsrats zur erneuten Kündigung nicht hinreichend substantiiert. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie ihr Klageabweisungsbegehren weiter verfolgt. Sie behauptet, am 07.01.2005 habe die Personalleiterin, Frau G , den Betriebsrat aufgesucht und die anwesenden Betriebsratsmitglieder, darunter den Betriebsratsvorsitzenden, darüber informiert, dass für eine wirksame außerordentliche Kündigung die Zustimmung des Integrationsamtes erforderlich und nunmehr beantragt worden sei. Gleichzeitig habe die Personalleiterin geäußert, dass nach Eingang der Zustimmung des Integrationsamtes eine erneute Kündigung ausgesprochen werden solle und sie zu dieser beabsichtigten Kündigung den Betriebsrat hiermit anhöre. Die angetroffenen drei Betriebsratsmitglieder, darunter auch die Vertrauensperson für schwerbehinderte Menschen, Frau R , hätten der Personalleiterin daraufhin mitgeteilt, dass der Betriebsrat über diese Sachlage bereits vorab beraten und den Beschluss getroffen habe, auch dieser nun anstehenden weiteren Kündigung zuzustimmen, da sich an der materiellen Sachlage nichts geändert habe. Die Beklagte verweist auf das Protokoll über die außerordentliche Sitzung des Betriebsrats vom 04.01.2005 (Bl. 147 bis 149 d. A.), in dem der Beschluss des Betriebsrats über die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung festgehalten ist und in dem es weiter heißt: "Die Notwendigkeit einer Anhörung des Integrationsamtes wurde erkannt. Einstimmig erklären wir als Gremium im Hinblick auf die anstehende Anhörung des Integrationsamtes, dass wir an unserer Zustimmung festhalten." In der Sache vertritt die Beklagte die Auffassung, dass das Verhalten des Klägers im Betriebsratsbüro die fristlose Kündigung rechtfertige.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger rügt widersprüchlichen Vortrag der Beklagten in erster und zweiter Instanz und vertritt die Ansicht, die Zustimmung des Betriebsrats in der Sitzung vom 04.01.2005 beziehe sich nur auf die unwirksame erste Kündigung vom 05.01.2005. In der Sache sei die Kündigung nicht gerechtfertigt, weil er selbst Opfer eines körperlichen Angriffs durch den Betriebsratsvorsitzenden gewesen sei und neben einem Schockzustand ärztlich festgestellte Prellungen der Rippen und der Schulter sowie Schmerzen am Kopf erlitten habe. Abgesehen davon habe es sich um eine betriebsratsinterne Streitigkeit gehandelt, die ohne Not und ohne Kenntnisnahme durch den Arbeitgeber innerhalb des Betriebsrats, ggf. unter Hinzunahme der IG Metall, hätte bereinigt werden können und müssen. Die "Betriebsöffentlichkeit" sei von dem Vorfall jedenfalls nicht betroffen. Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das angefochtene Urteil, die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze, die eingereichten Unterlagen und die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig. In der Sache hat sie keinen Erfolg.

Die Klage ist begründet.

I. Die fristlose Kündigung vom 21.01.2005 ist rechtsunwirksam, denn unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles ist kein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung im Sinne der §§ 15 Abs. 1 S. 1 KSchG, 626 Abs. 1 BGB anzunehmen.

1. Die Kündigung eines Mitglieds des Betriebsrats ist unzulässig, es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, die den Arbeitgeber zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigen. Die Beklagte stützt die Kündigung auf verhaltensbedingte Gründe. Der unbestimmte Rechtsbegriff der verhaltensbedingten Kündigung ist sowohl in der Kündigungsart der außerordentlichen als auch der ordentlichen Kündigung dahingehend zu strukturieren, dass in einer ersten Stufe die objektive Eignung eines Verhaltens als Kündigungsgrund zu prüfen ist, ob also ein Sachverhalt gegeben ist, der geeignet ist, das Arbeitsverhältnis mit dem Gewicht eines Kündigungsgrundes zu belasten. Anschließend ist in einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu prüfen, ob die erklärte Kündigung als billigenswerte und angemessene Sanktion erscheint. Zwischen der außerordentlichen Kündigung und der ordentlichen Kündigung besteht insoweit ein Stufenverhältnis, das durch das unterschiedliche Gewicht der erforderlichen Kündigungsgründe gekennzeichnet ist.

2. Im Streitfall sind die Voraussetzungen für eine außerordentliche verhaltensbedingte Kündigung auch unter Zugrundelegung des bestrittenen Vortrags der Beklagten nicht erfüllt.

a) Nach dem Vortrag der Beklagten hat der Kläger im Betriebsratsbüro den Betriebsratsvorsitzenden mit Worten wie "Arschloch" und "Drecksau" grob beleidigt und ihn anschließend durch einen Schlag ins Gesicht tätlich angegriffen, als der Betriebsratsvorsitzende den Kläger mit ausgestrecktem Arm aus dem Betriebsratsbüro weisen wollte. Sowohl die groben Beleidigungen als auch die Tätlichkeit stellen an sich einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung dar. Der Umstand allein, dass es sich auch nach dem Vortrag der Beklagten (Berufungsbegründung vom 11.08.2005, Seite 7, Bl. 137 d. A.) um ein Verhalten vor dem Hintergrund von Unstimmigkeiten innerhalb des Betriebsrats handelt, schließt die Eignung für einen wichtigen Grund zur Kündigung eines Arbeitsverhältnisses nicht von vornherein aus (a. A. Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 19.05.1981 - 10 Ca 72/81 - juris). Insbesondere tätliche Angriffe im Betrieb stellen eine schwerwiegende Verletzung der arbeitsvertraglichen Nebenpflichten dar. Der Arbeitgeber ist nicht nur allen Arbeitnehmern gegenüber verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass sie keinen Tätlichkeiten ausgesetzt sind, sondern hat auch ein eigenes Interesse daran, dass die betriebliche Zusammenarbeit nicht durch tätliche Auseinandersetzungen beeinträchtigt wird (vgl. BAG, Urteil vom 31.03.1993 2 AZR 492/92 - NZA 1994, S. 409, 412). Aus diesem Grund ist die Betrachtung zu eng, im Verhalten des Klägers, insbesondere in seiner vorgetragenen Tätlichkeit, ausschließlich eine Verletzung einer Amtspflicht als Betriebsratsmitglied zu sehen, die nur ein Ausschlussverfahren nach § 23 BetrVG ermögliche (vgl. BAG, Beschluss vom 16.10.1986 - 2 AZB 71/85 - AP Nr. 95 zu § 626 BGB). Die "Betriebsratsbezogenheit" ist aber im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen.

b) Die einzelfallbezogene Interessenabwägung führt zu dem Ergebnis, dass die Verletzung der arbeitsvertraglichen Nebenpflicht durch den Kläger seine Weiterbeschäftigung nicht unzumutbar macht. Im Rahmen der Abwägung kommt es insbesondere auf die Frage der konkreten Auswirkungen der Tätlichkeit auf betrieblicher Ebene an (Aigner, DB, 1991, S. 596, 601). Greifbare Anhaltspunkte hierfür hat die Beklagte nicht vorgetragen. Zunächst ist festzustellen, dass sich die Beleidigungen und die Tätlichkeit nicht am Arbeitsplatz, im Arbeitsprozess, gegenüber Arbeitskollegen oder gar Vorgesetzten ereignet haben, sondern im Betriebsratsbüro außerhalb der "Betriebsöffentlichkeit." Bei dem Vorfall zugegen war neben dem Betriebsratsvorsitzenden lediglich ein weiteres Betriebsratmitglied. Im Arbeitsprozess gibt es keine Berührungspunkte zwischen dem Betriebsratsvorsitzenden, der als Betriebsratsmitglied freigestellt ist und als Arbeitskraft durch die Tätlichkeit nicht ausgefallen ist, und dem Kläger. Erhebliche Folgewirkungen betrieblicher Art hat die Beklagte nicht dargelegt.

Es kann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Pflichtverletzung aus einer Konfliktsituation entstand, der sich der Kläger nicht nur als Arbeitnehmer, sondern vor allem als Betriebsratsmitglied ausgesetzt sah. Nach einer längeren Erkrankung trat der Kläger Anfang Januar 2005 seinen Dienst wieder an. Anlässlich seines Dienstantritts erfuhr der Kläger, dass sich die Belegschaft der Beklagten mit Billigung durch den Betriebsrat bereit erklärt hatte, zum Zweck der Standortsicherung im Zeitraum vom 07.07.2004 bis zum 30.06.2005 täglich 15 Minuten Mehrarbeit zu leisten. Der Kläger stellte den Betriebsratsvorsitzenden am 04.01.2005 gegen 08:30 Uhr zur Rede und drohte ihm nach dem Vortrag der Beklagten an, "Schritte einzuleiten, die dem Betriebsrat noch Leid tun würden." Insbesondere werde er die I einschalten, da er die Belegschaft vor "derartigen Machenschaften" schützen müsse, wobei sich der Kläger im Laufe des Gesprächs immer mehr ereiferte. Diese Sicht des Klägers als Betriebsratsmitglied kann das behauptete anschließende Fehlverhalten zwar nicht entschuldigen. Vor dem Hintergrund vor allem betriebsratsinterner Unstimmigkeiten erscheint aber das Amtsenthebungsverfahren nach § 23 Abs. 1 BetrVG, das der Betriebsrat eingeleitet hat, als angemessene Sanktion. Eine Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, das seit über 30 Jahren besteht, ist jedoch unter weiterer Berücksichtigung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers, seines Alters und der Chancen auf dem Arbeitsmarkt noch nicht anzunehmen.

II. Der Weiterbeschäftigungsantrag ist begründet. Auf die Entscheidung des Arbeitsgerichts wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG verwiesen.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

IV. Die Zulassung der Revision war nicht veranlasst. Die Entscheidung beruht auf den Umständen des Einzelfalles und ist nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde unter den Voraussetzungen des § 72 a ArbGG wird verwiesen.

Ende der Entscheidung

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