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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil verkündet am 15.07.2004
Aktenzeichen: 10 Sa 184/04
Rechtsgebiete: VersO, BetrVG, VVG, ArbGG


Vorschriften:

VersO § 3
VersO § 9 b
VersO § 13
BetrVG § 75
VVG § 169 Satz 2
ArbGG § 69 Abs. 2
Zur Frage der Wirksamkeit und Auslegung einer sog. Freitodklausel (hier: "Bei Freitod des Anwärters wird kein Anspruch auf Witwenrente erworben") in einer mit dem Betriebsrat vereinbarten Versorgungsordnung.
LANDESARBEITSGERICHT KÖLN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

10 Sa 184/04

Verkündet am 15. Juli 2004

In Sachen

hat die 10. Kammer des Landesarbeitsgerichts Köln auf die mündliche Verhandlung vom 15.07.2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Schroeder als Vorsitzenden sowie die ehrenamtlichen Richter Dohm und Wörmann-Adam

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufungen beider Parteien gegen das am 19.08.2003 verkündeten Urteils des Arbeitsgerichts Köln - 16 Ca 1471/03 - werden zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens werden gegeneinander aufgehoben.

Die Revision wird für beide Parteien zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten darüber, ob die von der Klägerin begehrte Witwenrente durch eine Freitodklausel ausgeschlossen ist.

Die Klägerin ist die Witwe des am 03.11.1949 geborenen und am 06.01.2002 durch Freitod aus dem Leben geschiedenen H., der in der Zeit vom 18.11.1974 bis zum 31.10.1997 bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten beschäftigt war. Dem verstorbenen Arbeitnehmer war eine betriebliche Altersversorgung nach der mit dem Betriebsrat vereinbarten Versorgungsordnung vom 16.08.1979 zugesagt worden. Die zugesagten Leistungen umfassen nach § 3 der Versorgungsordnung Ruhegeld und Hinterbliebenenrenten. Anspruch auf Witwenrente besteht sowohl beim Tod des Anwärters (§ 11) als auch beim Tod des Ruhegeldempfängers (§ 12). In § 13 der Versorgungsordnung heißt es:

"Bei Freitod eines Anwärters wird kein Anspruch auf Witwenrente erworben."

Bei Beendigung seines Arbeitsverhältnisses hatte der Ehemann der Klägerin einen unverfallbaren Teilanspruch für die Altersrente bei Erreichen der festen Altersgrenze von 65 Lebensjahren in Höhe von 493,83 DM monatlich erdient.

Die Klägerin vertritt die Auffassung, die Ausschlussklausel in § 13 der Versorgungsordnung sei unwirksam. Sie verstoße gegen Billigkeitsgrundsätze.

Die Klägerin hat beantragt,

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin nach dem Tod ihres Ehemannes G H gemäß der Versorgungsordnung der K vom 16.08.1979 Witwenrente ab dem 01.02.2002 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin ab dem 01.12.2014 eine Witwenrente zu zahlen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Bestimmung des § 13 der Versorgungsordnung halte einer Billigkeitskontrolle nur teilweise Stand. Nach einer abstrakten Billigkeitskontrolle sei die Freitodklausel nur insoweit wirksam, soweit sie den Anspruch auf Witwenrente für die Zeit ausschließe, die vor dem Zeitpunkt liege, in dem der Versorgungsanwärter ohne seinen Freitod die feste Altersgrenze erreicht hätte.

Gegen dieses Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Die Klägerin bleibt bei ihrer Ansicht, die Freitodklausel sei bei einer konkreten Billigkeitskontrolle insgesamt unwirksam. Da ihr verstorbener Ehemann nahezu 23 Jahre im Betrieb gearbeitet habe, stelle die Freitodklausel im konkreten Fall eine unbillige Härte dar.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und unter Zurückweisung der Berufung der Beklagten

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin nach dem Tod ihres Ehemannes G H gemäß der Versorgungsordnung der K vom 16.08.1979 Witwenrente ab dem 01.02.2002 zu zahlen,

hilfsweise

die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin nach dem Tod ihres Ehemannes G H gemäß der Versorgungsordnung der K vom 16.08.1979 Witwenrente ab dem 01.02.2002 in der in der Satzung vorgesehenen Höhe zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und unter Zurückweisung der Berufung der Klägerin die Klage insgesamt abzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass für eine Billigkeitskontrolle kein Raum sei. § 13 der Versorgungsordnung bringe unmissverständlich zum Ausdruck, dass bei einem Freitod des Anwärters kein Anspruch auf Witwenrente erworben werde. Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf das angefochtene Urteil, die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze, die eingereichten Unterlagen und die Sitzungsprotokolle Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung beider Parteien ist unbegründet.

I. Das Berufungsgericht teilt die Auffassung des Arbeitsgerichts, dass die Freitodklausel nicht insgesamt unwirksam ist, sondern nur zu dem Ergebnis führt, dass Witwenrente nicht vorzeitig beim Tod des Anwärters, sondern erst ab dem Zeitpunkt zu zahlen ist, zu dem der Anwärter ohne seinen Freitod die feste Altersgrenze erreicht hätte. Zu diesem Ergebnis kommt das Berufungsgericht bereits im Wege der teleologischen Reduktion der Freitodklausel.

1. Die Zulässigkeit von Freitodklauseln in der betrieblichen Altersversorgung ist, soweit ersichtlich, vom BAG noch nicht entschieden worden. Im Urteil vom 29.01.1991 - 3 AZR 85/90 - (AP Nr. 13 zu § 1 BetrAVG Hinterbliebenenversorgung) hat das BAG die Frage offengelassen. Die instanzgerichtliche Rechtsprechung beurteilt sie unterschiedlich, worauf bereits das Arbeitsgericht hingewiesen hat. Im Schrifttum werden Freitodklauseln zwar nicht generell als unzulässig, aber als "problematisch" (Griebeling, Betriebliche Altersversorgung, Rdnr. 55), "bedenklich" (Langohr-Plato, Rechtshandbuch Betriebliche Altersversorgung Rdnr. 23) und als unbefriedigend empfunden, da der Freitod die Hinterbliebenen zusätzlich "bestrafe" (Blomeyer/Otto, 3. Auflage 2004, Rdnr. 176 und Höfer BetrAVG Rdnr. 894).

Nach Auffassung des Berufungsgerichts sind Freitodklauseln nicht von vornherein unwirksam. Der Arbeitgeber ist frei in seiner Entscheidung, ob er überhaupt eine Hinterbliebenenversorgung in die Zusage einer betrieblichen Altersversorgung einbeziehen will. Er ist auch grundsätzlich frei darin, bestimmte Versorgungsfälle auszuklammern, wobei er bei einer auf einer Betriebsvereinbarung beruhenden Versorgungsordnung wie vorliegend gemeinsam mit dem Betriebsrat die Grundsätze von Recht und Billigkeit nach § 75 BetrVG zu beachten hat. Schließen die Betriebsparteien den Freitod als Versorgungsfall aus der betrieblichen Altersversorgung aus, ist der ihnen bei der Anwendung der Grundsätze von Recht und Billigkeit nach § 75 BetrVG zuzubilligende Beurteilungsspielraum noch nicht überschritten. Es ist keine sachfremde Ungleichbehandlung, wenn Hinterbliebene im Falle des Freitodes eines Arbeitnehmers aus der Versorgungsregelung herausgenommen werden, um den Arbeitgeber davor zu schützen, vorzeitig und länger Versorgungsleistungen erbringen zu müssen, auch wenn nicht zu verkennen ist, dass eine Missbrauchsgefahr und die Notwendigkeit einer Risikobegrenzung in Freitodfällen nur als gering einzuschätzen ist. Die Begehung eines Selbstmordes zur Verschaffung einer Hinterbliebenenrente ist eher fernliegend. Daher ist der Ausschlusstatbestand des "Freitodes" im Zweifel restriktiv auszulegen.

2. Für die konkrete Freitodklausel in § 13 der Versorgungsordnung gilt Folgendes:

a) Der Begriff des Freitodes in der Versorgungsordnung schließt schon vom Wortverständnis her die Fälle aus, in denen die Tat in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen worden ist. Dieser Wortsinn findet außerdem seinen Niederschlag in der Gesetzesregelung des § 169 Satz 2 VVG für den Bereich der Versicherungswirtschaft, in dem die Missbrauchsgefahr durch Verschaffung einer in der Regel nicht unbeträchtlichen Lebensversicherungssumme weitaus höher ist als das Missbrauchsrisiko zur Erlangung einer betrieblichen Hinterbliebenenrente. Die Auslegung des Begriffs "Freitod" mit den Beschränkungen im Sinne des § 169 Satz 2 VVG vermag den Anspruch im Streitfall aber nicht zu begründen, denn nach dem Inhalt der Berufungsverhandlung beruft sich die Klägerin nicht auf einen Fall des Selbstmordes in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit.

b) Im Rahmen der Auslegung oder weitergehend einer Rechtskontrolle ist es nicht möglich, etwa die Wartezeitregelung des § 8 der Allgemeinen Bedingungen für die kapitalbildende Lebensversicherung (ALB 86) zum Inhalt der Freitodklausel des § 13 der Versorgungsordnung zu machen. Die ALB schließen Selbstmordfälle nach einer bestimmten Wartezeit (3 Jahre) nicht mehr aus der Leistungspflicht aus, stehen also einer Auszahlung der vollen Versicherungssumme nach Ablauf von 3 Jahren seit Zahlung des Einlösungsbeitrages oder seit Wiederherstellung der Versichtung nicht entgegen. Im Schrifttum wird zwar gelegentlich empfohlen, in eine Freitod- oder Härtefallklausel eine vergleichbare Wartezeit zwischen der Zusage der betrieblichen Altersversorgung und dem Freitodfall aufzunehmen (Langohr-Plato a.a.O., Rdnr. 23). Wo eine solche Regelung, die auf die Verhältnisse in der Versicherungswirtschaft zugeschnitten ist, aber wie vorliegend durch die Betriebsparteien in der Versorgungsordnung nicht getroffen wurde, kann sie nicht ohne weiteres aus allgemeinen Billigkeitserwägungen in die Todesfallklausel hineininterpretiert werden.

Die Versorgungsordnung enthält keine Härtefallklausel, die die Möglichkeit böte, bei Vorliegen einer bestimmten Wartezeit oder bei sonstigen Umständen wie etwa die Motive, die zu einem Selbstmord geführt haben, die Freitodklausel nicht anzuwenden. Andererseits begründet eine fehlende Härtefallklausel noch nicht die generelle Unzulässigkeit der Freitodklausel, wenn sie nach Wortsinn und dem Rechtsgedanken des § 169 Satz 2 VVG wie hier so verstanden wird, dass Versorgungsleistungen nicht ausgeschlossen sind, wenn der Selbstmord in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen worden ist.

c) Die somit grundsätzlich zulässige Freitodklausel in § 13 bietet nach Wortlaut und systematischem Zusammenhang der Versorgungsregelung allerdings die Möglichkeit der teleologischen Reduktion in dem Sinne, dass lediglich die durch Freitod ausgelöste vorzeitige Inanspruchnahme der Hinterbliebenenrente ausgeschlossen sein sollte.

Zunächst ist festzustellen, dass die Betriebsparteien in der Versorgungsordnung die Hinterbliebenenversorgung nicht generell bei Freitod ausgeschlossen haben. Die Klausel lautet nicht: "Bei Freitod besteht kein Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung." Die Versorgungsordnung gewährt gemäß den §§ 3, 11 und 12 Hinterbliebenenrenten sowohl beim Tod eines Anwärters als auch eines Ruhegeldempfängers. Nach § 13 soll lediglich die Witwenrente beim Freitod eines "Anwärters" ausgeschlossen sein, das heißt der Freitod eines Ruhegeldempfängers lässt den Anspruch auf Witwenrente unberührt. Diese Differenzierung ist nach Auffassung des Berufungsgerichts vor dem wirtschaftlichen Hintergrund nachvollziehbar, dass der Arbeitgeber durch den Freitod eines Anwärters nicht vorzeitig und damit auch länger zu Versorgungsleistungen verpflichtet sein sollte. Der Normzweck, sich vor voluntativer Herbeiführung eines vorzeitigen Versorgungsfalles zu schützen, kommt auch in § 9 b der Versorgungsordnung zum Ausdruck. Dort ist geregelt, dass ein Anspruch auf Invalidenrente nicht erworben wird, wenn der Anwärter die Invalidität vorsätzlich herbeigeführt hat. Von den in §§ 9 b und 13 geregelten Fällen des Ausschlusses bewusst herbeigeführter vorzeitiger Versorgungsfälle sind die Ansprüche zu unterscheiden, die mit Erreichen der festen Altersgrenze entstehen, die kalkulierbar und nicht beeinflussbar sind. Da die Versorgungsordnung ab diesem Zeitpunkt Witwenrente auch dann vorsieht, wenn der ehemalige Arbeitnehmer Freitod begeht, besteht kein sachlicher Differenzierungsgrund für eine "Bestrafung" der Witwe, deren Ehemann vorher durch Freitod aus dem Leben geschieden ist, obwohl sie erst ab der Altersgrenze des Arbeitnehmers und daher nicht vorzeitig an der von diesem erdienten Versorgungsanwartschaft teilhaben soll. Eine besondere Belastung des Arbeitgebers gegenüber den Fällen des Freitodes eines Rentners besteht nicht.

Letztlich kann dahingestellt bleiben, ob aus Wortlaut und Systematik der Versorgungsordnung das Ergebnis aus einer teleologischen Reduktion der Freitodklausel in § 13 herzuleiten ist, die für vorzugswürdig gehalten wird, oder ob bei Bedenken gegen diesen methodischen Wege die Bestimmung des § 13 der Versorgungsordnung der sodann erforderlichen Billigkeitskontrolle zu unterziehen ist. Insoweit kann auf die Erwägung des Arbeitsgerichts zur Billigkeitskontrolle gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG verwiesen werden. Einer Billigkeitskontrolle würde die Freitodklausel allerdings vor allem deshalb nicht standhalten, weil sie aus den oben genannten Gründen bei den Freitodfällen die Witwe beim "Anwärtertod" generell von Versorgungsansprüchen ausschließt und damit ohne hinreichenden Grund überschießend schlechter stellt als die Witwe beim "Rentnertod".

d) Weitere Ausschlusstatbestände der Versorgungsordnung wie die Spätehenklausel und die Altersdifferenzklausel treffen auf die Klägerin nicht zu.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 92, 97 ZPO.

III. Die Zulassung der Revision für beide Parteien beruht auf § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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