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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Köln
Urteil verkündet am 19.09.2007
Aktenzeichen: 7 Sa 506/07
Rechtsgebiete: SGB IX, ZPO, ArbGG


Vorschriften:

SGB IX § 69
SGB IX § 85
SGB IX § 90
ZPO § 148
ZPO § 580
ZPO § 582
ZPO § 584
ZPO § 586
ArbGG § 72 a
1.) Wird der im Kündigungsschutzprozess rechtskräftig unterlegene Arbeitnehmer nachträglich rückwirkend auf einen Zeitpunkt vor Ausspruch der streitigen Kündigung als schwerbehinderter Mensch i.S.v. § 85 SGB IX anerkannt, so stellt der Erlass des Anerkennungsbescheides einen Restitutionsgrund i.S.v. § 580 Nr. 6 und/oder Nr. 7 b ZPO dar.

2.) Liegt im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Anerkennung als schwerbehinderter Mensch i.S.v. § 85 SGB IX noch nicht vor, bleibt der Sonderkündigungsschutz gemäß § 90 Abs. 2 a, 2. Alt. SGB IX dennoch bestehen, wenn der Antrag auf Anerkennung so frühzeitig vor Kündigungszugang gestellt worden war, dass eine Entscheidung hierüber vor Ausspruch der Kündigung - bei ordnungsgemäßer Mitwirkung des Antragstellers - binnen der Frist des § 69 I 2 SGB IX möglich gewesen wäre. Der Antrag muss also mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt worden sein. § 90 Abs. 2 a, 2. Alt. SGB IX erweist sich damit als Bestimmung einer Vorfrist (Anschluss an BAG v. 1.3.2007, 2 AZR 217/06).

3.) Die nachträgliche Anerkennung als schwerbehinderter Mensch erst durch die Widerspruchsbehörde oder im Zuge eines sozialgerichtlichen Verfahrens steht im Rahmen des § 90 Abs. 2 a, 2. Alt. SGB IX einer Anerkennung durch das Versorgungsamt selbst gleich.


Tenor:

Der Rechtsstreit des LAG Köln 14 Sa 1015/06 wird wieder aufgenommen:

Die Urteile des Arbeitsgerichts Köln vom 11.05.2006 in Sachen 8 Ca 7964/05 und des LAG Köln vom 20.11.2006 in Sachen 14 Sa 1015/06 werden teilweise abgeändert:

Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 17.08.2005 nicht aufgelöst worden ist.

Der Weiterbeschäftigungsantrag bleibt abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger 25 % und der Beklagten 75 % auferlegt.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Wege einer Restitutionsklage die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 17.08.2005, die das LAG Köln in seiner rechtskräftigen Entscheidung vom 20.11.2006 in Sachen 14 Sa 1015/06 als rechtswirksam angesehen hat, nicht aufgelöst wurde, da es entgegen § 85 SGB IX an einer vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes zu dieser Kündigung gefehlt habe.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren 14 Sa 1015/06 wird zunächst auf den Tatbestand des Urteils des LAG Köln in dieser Sache vom 20.11.2006 verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass der Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 28.01.2004, mit dem er die Anerkennung eines Grades der Behinderung von 50 % - statt bis dahin anerkannter 40 % - begehrte, im Laufe des Jahres 2004 abgelehnt und der hiergegen gerichtete Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.11.2004 zurückgewiesen worden war. Gegen den Widerspruchsbescheid hatte der Kläger rechtzeitig Klage vor dem Sozialgericht Köln (S 13 SB 421/04) erhoben. Das Verfahren vor dem Sozialgericht dauerte im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren 14 Sa 1015/06 noch an.

Das die Kündigungsschutzklage des Klägers abschlägig bescheidende Berufungsurteil vom 20.11.2006 in Sachen 14 Sa 1015/06 wurde dem Kläger am 04.01.2007 zugestellt. Mit Bescheid des Versorgungsamts K vom 10.05.2007 wurde der Grad der Behinderung des Klägers rückwirkend zum 01.01.2005 auf 50 % festgesetzt. Dem Bescheid vom 10.05.2007 lagen Regelungsangebote der Bezirksregierung M vom 12.02. und 29.03.2007 zugrunde, die diese im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens dem Kläger unterbreitet hatte und die vom Kläger letztlich mit Schriftsatz vom 17.04.2007 angenommen worden waren. Das Sozialgerichtsverfahren fand auf der Grundlage dieser vergleichsweisen Regelung der dortigen Parteien sein Ende.

Am 04.05.2007 hat der Kläger die vorliegende Restitutionsklage beim Landesarbeitsgericht eingereicht.

Der Kläger macht geltend, es stehe nunmehr fest, dass bei ihm ab dem 01.01.2005 und somit auch bereits im Zeitpunkt des Zugangs der streitigen Kündigung vom 17.08.2005 ein Grad der Behinderung von 50 % bestanden habe mit der Folge, dass die Beklagte vor Ausspruch der Kündigung gemäß § 85 SGB IX die Zustimmung des Integrationsamtes habe einholen müssen, was unstreitig nicht geschehen sei. Die streitige Kündigung sei somit aus formellen Gründen unheilbar nichtig. Dies habe die 14. Kammer des LAG Köln bei ihrem Urteil vom 20.11.2006 noch nicht berücksichtigen können. Sie habe zum damaligen Zeitpunkt eine Aussetzung des Kündigungsschutzverfahrens gemäß § 148 ZPO im Hinblick auf das damals noch nicht abgeschlossene Sozialgerichtsverfahren gerade mit dem Hinweis abgelehnt, dass der Unterlegene notfalls die Abänderung im Wege der Restitutionsklage erreichen könne.

Der Restitutionskläger beantragt,

1. die Urteile des Arbeitsgerichts Köln vom 11.05.2006, 8 Ca 7964/05, und des LAG Köln vom 20.11.2006, 14 Sa 1015/06, abzuändern und festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 17.08.2005 nicht aufgelöst wurde;

2. für den Fall des Obsiegens mit dem Antrag zu 1:

die Beklagte zu verurteilen, den Kläger zu unveränderten Bedingungen weiterzubeschäftigen.

Die Restitutionsbeklagte beantragt,

die Restitutionsklage kostenpflichtig abzuweisen.

Die Restitutionsbeklagte hält die Restitutionsklage bereits für unzulässig, da der Kläger bis zum Eintritt der Rechtskraft des Berufungsurteils vom 20.11.2006 den Rechtsweg nicht ausgeschöpft gehabt habe. Er habe es nämlich versäumt, gegen das Berufungsurteil Nichtzulassungsbeschwerde einzulegen.

Weiter meint die Restitutionsbeklagte, ein Restitutionsgrund im Sinne von § 580 Nr. 6 ZPO liege nicht vor. Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes durch einen anderen könne nicht mit der Aufhebung eines gerichtlichen Urteils gleichgesetzt werden.

Schließlich fehle es auch an der für eine Restitutionsklage nötigen Voraussetzung, dass zwischen der aufgehobenen und der angegriffenen Entscheidung eine Kausalbeziehung bestehen müsse. Das Urteil der 14.Kammer des Landesarbeitsgericht Köln vom 20.11.2006 gründe jedoch nicht auf der behördlichen Entscheidung, mit welcher der klägerseitige Verschlimmerungsantrag zunächst abgewiesen worden war; denn das Urteil vom 20.11.2006 spreche sich dafür aus, dass die Kündigungsschutzklage auch dann abweisungsreif gewesen wäre, wenn der Kläger im sozialgerichtlichen Verfahren obsiegen sollte.

Auch im Falle ihrer Zulässigkeit könne die Restitutionsklage keinen Erfolg haben. Fest stehe, dass im Zeitpunkt des Zugangs der streitigen Kündigung vom 17.08.2005 ein Nachweis über die Anerkennung des Klägers als Schwerbehinderter mit einem GdB von mindestens 50 % nicht vorgelegen habe. Gemäß § 90 Abs. 2a 1. Alt. SGB IX komme § 85 SGB IX somit nicht zur Anwendung.

Etwas anderes könne auch nicht aus § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX hergeleitet werden. § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX helfe dem Antragsteller nur bis zu einer positiven Erstentscheidung des Versorgungsamtes, nicht aber dann, wenn im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bereits ein negativer Bescheid des Versorgungsamts oder gar ein - wenn auch noch nicht rechtskräftiger - negativer Widerspruchsbescheid vorliege. Andernfalls würde das in § 90 Abs. 2a SGB IX verfolgte gesetzgeberische Ziel geradezu in sein Gegenteil verkehrt.

Entscheidungsgründe:

I. Die vom Kläger erhobene Restitutionsklage ist zulässig.

1. Die Restitutionsklage richtet sich gegen ein den Kläger beschwerendes rechtskräftiges Berufungsurteil. Die Zulässigkeit der Restitutionsklage scheitert nicht daran, dass der Kläger gegen das Urteil der 14. Kammer des LAG Köln vom 20.11.2006 keine Nichtzulassungsbeschwerde eingereicht hat.

Gemäß § 582 ZPO ist eine Restitutionsklage nur zulässig, wenn die Partei ohne ihr Verschulden außer Stande gewesen war, den Restitutionsgrund bereits in dem früheren Verfahren geltend zu machen, insbesondere durch Einspruch oder Berufung oder mittels Anschließung an eine Berufung des Klägers. Der Kläger stützt sich als Restitutionsgrund auf den Erlass des Bescheides des Versorgungsamtes Köln vom 10.05.2007, mit dem er rückwirkend zum 01.01.2005 als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 50 % anerkannt wurde. Diesen Bescheid hätte der Kläger vor Eintritt der Rechtskraft des Berufungsurteils vom 20.11.2006 nicht in den Kündigungsschutzprozess einführen können, da er erst erlassen wurde, als die Rechtskraft bereits eingetreten war.

Das Berufungsurteil wurde dem Kläger am 04.01.2007 zugestellt. Die Revision war in dem Urteil nicht zugelassen worden. Die Nichtzulassungsbeschwerde hätte gemäß § 72 a Abs. 2 S. 1 ArbGG bis zum 04.02.2007 eingelegt werden müssen. Es kann somit dahingestellt bleiben, ob der Kläger die nachträgliche Anerkennung als Schwerbehinderter überhaupt im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde mit Aussicht auf Erfolg in den Prozess hätte einführen können; denn auch bei Ablauf der für die Erhebung der Nichtzulassungsbeschwerde maßgeblichen Notfrist lag der Bescheid vom 10.05.2007 noch nicht vor und war auch noch nicht einmal das dem Bescheid zugrunde liegende vergleichsweise Regelungsangebot der Bezirksregierung M unterbreitet worden. Der Kläger wäre somit schlechthin nicht in der Lage gewesen, seine nachträgliche Anerkennung als Schwerbehinderter vor Eintritt der Rechtskraft in das Verfahren einzuführen.

2. Der Kläger hat die Restitutionsklage auch gemäß § 586 Abs. 1 und 2 ZPO rechtzeitig, nämlich innerhalb eines Monats nach Kenntnis von dem Anfechtungsgrund, bei dem nach § 584 Abs. 1 ZPO zuständigen Berufungsgericht eingereicht. Der Kläger hat bereits den Abschluss des Vergleichs vor dem Sozialgericht, der durch seinen Annahmeschriftsatz vom 17.04.2007 zustande gekommen war, zum Anlass für die Erhebung der Restitutionsklage genommen und den Erlass des Bescheids vom 10.05.2007 nicht einmal abgewartet.

3. Der vorliegenden Restitutionsklage liegt auch ein Restitutionsgrund im Sinne des § 580 ZPO zugrunde.

a. Der Restitutionsgrund liegt in dem Erlass des Bescheides vom 10.05.2007. Bei diesem Bescheid handelt es sich der rechtlichen Qualität nach um einen Verwaltungsakt. Der Verwaltungsakt vom 10.05.2007 tritt dabei an die Stelle der bis dahin geltenden Bescheide, mit welchem dem Kläger nur ein Grad der Behinderung von 40 % zugebilligt worden war.

b. Die höchstrichterliche Rechtsprechung und die herrschende Meinung in der Literatur stellen Verwaltungsakte, deren Bedeutung einem Urteil gleich kommt, den Urteilen im Sinne von § 580 Nr. 6 ZPO gleich (BAG, MDR 81, 524 für den Zustimmungsbescheid der früheren Hauptfürsorgestelle zur Kündigung eines Schwerbehinderten; ferner BGH, MDR 88, 566; Zöller/Greger, ZPO, § 580 Rdnr. 13).

c. Selbst wenn man der Auffassung, wonach vorliegend der Restitutionsgrund des § 580 Nr. 6 ZPO zur Anwendung kommt, nicht folgen wollte, wäre zumindest ein Restitutionsgrund im Sinne von § 580 Nr. 7 b) 2. Alt. ZPO anzunehmen.

aa. Grundsätzlich fallen unter § 580 Nr. 7 b) ZPO zwar nur solche Urkunden, die bereits vor der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz errichtet worden sind.

bb. Eine Ausnahme machen Rechtsprechung und Literatur aber gerade für solche Urkunden, die zwar erst nach der Schlussverhandlung in der Tatsacheninstanz errichtet wurden, aber eine zurückliegende Tatsache bezeugen (BGHZ 46, 300; OLG Köln FamRZ 73, 543; Zöller/Greger, ZPO, § 580 Rdnr. 17). Hierunter fallen nach der Rechtsprechung des BAG ausdrücklich auch Feststellungsbescheide über die nachträgliche Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft zur Zeit einer Kündigung (BAG vom 24.11.2005, NZA 2006, 665; BAG vom 18.1.2007, 2 AZR 759/05; BAG NJW 85, 1485).

d. Zu Unrecht wendet die Restitutionsbeklagte schließlich ein, ein Restitutionsgrund nach § 580 Nr. 6 ZPO - entsprechendes müsste für § 580 Nr. 7 b) ZPO gelten - finde deswegen keine Anwendung, weil die im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom 17.08.2005 fehlende Anerkennung des Klägers als Schwerbehinderter mit einem GdB von 50 % für das Ergebnis des Berufungsurteils nicht kausal geworden sei. Das Berufungsurteil habe sich nämlich dafür ausgesprochen, dass die Kündigungsschutzklage auch dann als abweisungsreif anzusehen sein würde, wenn der Kläger im sozialgerichtlichen Verfahren obsiegen sollte.

aa. Das Berufungsurteil vom 20.11.2006 hat lediglich darauf hingewiesen, dass, jedenfalls aus der Sicht des damaligen Zeitpunktes, die Auslegung des § 90 Abs. 2 a SGB IX noch offene Fragen aufweise. Das Berufungsgericht hat die von ihm als offen angesprochene Frage aber gerade nicht beantwortet, sondern im Ergebnis dahingestellt sein lassen. Gerade daraus geht hervor, dass das Berufungsurteil auf der damals gegebenen sozialrechtlichen Bescheid-Lage zur Anerkennung des Klägers als Schwerbehinderten beruhte. Hätte nämlich bereits am 20.11.2006 (Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht) festgestanden, dass der Kläger nach Zugang der streitigen Kündigung rückwirkend auf einen früheren Zeitpunkt als Schwerbehinderter anerkannt worden wäre, so hätte das Berufungsgericht die von ihm angesprochene Auslegungsfrage zu § 90 Abs. 2 a SGB IX nicht offen lassen können.

bb. Die weiteren, von der Restitutionsbeklagten in ihrem Schriftsatz vom 11.07.2007 auf Seite 8 wörtlich zitierten Passagen des Berufungsurteils befassen sich dagegen mit der Frage, ob und inwieweit es seinerzeit geboten war, den Kündigungsschutzrechtsstreit im Hinblick auf das damals noch nicht abgeschlossene Sozialgerichtsverfahren nach § 148 ZPO auszusetzen.

aaa. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes ist gemäß § 85 SGB IX unheilbar nichtig. Die Frage, ob der von einer arbeitgeberseitigen Kündigung betroffene Arbeitnehmer im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung zu den "schwerbehinderten Menschen" im Sinne des 4. Kapitels des SGB IX gehört, ist somit für die Entscheidung eines Prozesses um die Rechtswirksamkeit der Kündigung jedenfalls dann vorgreiflich, wenn eine vorherige Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung nicht beantragt wurde und somit nicht nur keine Zustimmung, sondern auch kein sog. Negativattest des Integrationsamtes vorliegt und der betroffene Arbeitnehmer sich rechtzeitig auf seinen Kündigungsschutz als schwerbehinderter Mensch berufen hat. Dabei reicht es nach der ständigen Rechtsprechung des BAG aus, wenn sich der Arbeitnehmer spätestens innerhalb eines Monats nach Zugang der Kündigung auf sein Sonderkündigungsschutzrecht beruft (BAG vom 19.07.1979, 2 AZR 469/78; LAG Köln vom 16.06.2006, 12 Sa 168/06 ).

bbb. Vor der Kündigung vom 17.08.2005 hat die Beklagte - anders als bei späteren Nachfolgekündigungen - keinen Antrag an das Integrationsamt auf Zustimmung im Sinne vom § 85 SGB IX gestellt. Der Kläger hat sich auch spätestens in seiner Kündigungsschutzklage vom 23.08.2005, welche der Beklagten am 06.09.2005 zugestellt worden war, auf seinen Sonderkündigungsschutz berufen.

ccc. Hatte der Arbeitnehmer seine Anerkennung als Schwerbehinderter vor Zugang der ihn treffenden arbeitgeberseitigen Kündigung beantragt und war während des laufenden Kündigungsschutzverfahrens die Anerkennung als Schwerbehinderter Gegenstand eines noch nicht abgeschlossenen behördlichen oder sozialgerichtlichen Anerkennungsverfahrens, so hat das BAG in seiner älteren Rechtsprechung die Aussetzung des arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzrechtsstreits bis zum Abschluss des Verfahrens über die Schwerbehindertenanerkennung befürwortet. Dies führte zu einer oft mehrjährigen Verzögerung des Kündigungsschutzprozesses, die auch diejenigen Fälle betraf, in denen eine Anerkennung als Schwerbehinderter letztendlich nicht erfolgte.

ddd. Im Hinblick auf diese gerade angesichts des für Kündigungsschutzverfahren geltenden besonderen Beschleunigungsgebots äußerst misslichen Sachlage hat das BAG in seiner jüngeren Rechtsprechung eine differenzierende Auffassung entwickelt und dabei den Gedanken in den Vordergrund gestellt, dass die Entscheidung über eine Verfahrensaussetzung nach § 148 ZPO eine Ermessensentscheidung darstellt, bei der die Gründe, die für und gegen eine Aussetzung des laufenden Verfahrens sprechen, sorgfältig miteinander abgewogen werden müssen(BAG vom 18.1.2007, 2 AZR 759/05; BAG vom 2.3.2006, NZA-RR 2006,636; BAG vom 20.1.2000, NZA 2000, 768). Neben dem Beschleunigungsgebot des § 61 a ArbGG, das regelmäßig gegen eine Aussetzung des Kündigungsschutzverfahrens spricht, kommt als weiteres Abwägungskriterium auch eine vorläufige Prognose über die Erfolgsaussichten des Arbeitnehmers im Anerkennungsverfahren in Betracht, soweit die hierfür maßgeblichen Umstände für das Arbeitsgericht erkennbar sind.

eee. In diesem Zusammenhang ist es einzuordnen, wenn das Berufungsurteil vom 20.11.2006 ausführt, es spreche mehr dafür, dass die Kündigungsschutzklage des Klägers auch dann abweisungsreif wäre, wenn er im sozialgerichtlichen Verfahren obsiegen sollte. Im Weiteren weist das Berufungsurteil nämlich auf die Möglichkeit hin, dass der Kläger in dem Sozialgerichtsverfahren zwar die Anerkennung einer Verschlimmerung des Grades seiner Behinderung auf 50 % erstreiten könnte, aber erst mit Wirkung ab einem Zeitpunkt, der nach dem Zugang der hier streitigen Kündigung gelegen ist. In diesem Fall hätte er zwar im Sozialgerichtsprozess obsiegt, ohne indessen zugleich auch in Bezug auf die streitige konkrete Kündigung den Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX erstritten zu haben. Nach dem Erkenntnisstand des Berufungsgerichts sprach im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 20.11.2006 somit nicht nur der allgemeine Beschleunigungsgrundsatz im Kündigungsschutzverfahren, sondern auch der Gesichtspunkt vorhandener Zweifel an einem kündigungsschutzrechtlich relevanten Erfolg des Klägers im Sozialgerichtsverfahren gegen eine Aussetzung des Verfahrens.

fff. Wenn das Berufungsgericht sodann selbst auf Seite 7 oben ausdrücklich auf die Möglichkeit der Restitutionsklage verweist, so wird vollends deutlich, dass es gerade nicht die Aussage treffen wollte, dass der Ausgang des Sozialgerichtsverfahrens in keinem denkbaren Fall die Beurteilung der Rechtswirksamkeit der streitigen Kündigung vom 17.08.2005 würde beeinflussen können.

Auch an der für den Restitutionsgrund des § 580 Nr. 6 ZPO ebenso wie für § 580 Nr. 7 b) ZPO notwendigen Kausalität fehlt es also ebenfalls nicht.

II. Die danach zulässige Restitutionsklage ist auch begründet. Auf die erforderliche Fortsetzung der mündlichen Verhandlung hin war das Berufungsurteil der 14. Kammer des LAG vom 20.11.2006 in Sachen 14 Sa 1015/06 abzuändern und festzustellen, dass die streitige Kündigung vom 17.08.2005 rechtsunwirksam ist und das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht aufgelöst hat. Lediglich der vom Kläger für den Fall des Obsiegens zusätzlich gestellte Antrag auf tatsächliche Weiterbeschäftigung konnte keinen Erfolg haben.

1. Aufgrund des Bescheides des Versorgungsamts Köln vom 10.05.2007, der auf dem von den Parteien des sozialgerichtlichen Verfahrens durch Erklärungen vom 29.03. und 17.04.2007 geschlossenen Vergleich beruht, steht fest, dass der Kläger im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung am 17.08.2005 als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 50 % zu gelten hat.

2. Den entsprechenden Antrag auf diese Anerkennung hat er bereits unter dem 28.01.2004, somit mehr als 1 1/2 Jahre vor Ausspruch der streitigen Kündigung gestellt.

3. Gemäß § 85 SGB IX ist die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber ohne vorherige Zustimmung des Integrationsamtes - die von der Restitutionsbeklagten nicht eingeholt worden war - unheilbar nichtig. Diese auf § 85 SGB IX beruhende formelle Nichtigkeit führt zur Unwirksamkeit der Kündigung vom 17.08.2005.

4. Entgegen der Auffassung der Restitutionsbeklagten kann aus § 90 Abs. 2 a SGB IX zu ihren Gunsten nichts anderes hergeleitet werden.

a. Betrachtet man isoliert nur den Wortlaut von § 90 Abs. 2 a 1. Alt. SGB IX, so fände der Sonderkündigungsschutz des § 85 SGB IX auf den Kläger keine Anwendung; denn am 17.08.2005, dem Zeitpunkt des Zugangs der streitigen Kündigung, war ein Grad der Behinderung des Klägers in Höhe von 50 % und damit seine Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch im Sinne von § 85 SGB IX noch nicht behördlich anerkannt.

b. Eine isolierte Betrachtung der beiden Voraussetzungsalternativen in § 90 Abs. 2 a SGB IX verbietet sich jedoch, da sich der 2. Alternative der Vorschrift ansonsten kein nachvollziehbarer Sinn beimessen lässt. Vielmehr sind die beiden Voraussetzungsalternativen in § 90 Abs. 2 a SGB IX nur bei einheitlicher Betrachtung zu würdigen, weil ohne Betrachtung der 2. Alternative auch die 1. Alternative sich nicht widerspruchsfrei auslegen ließe. Das BAG führt zum Verhältnis der beiden Alternativen der Vorschrift zutreffend das Folgende aus:

"Nach dem Gesetzeswortlaut ist kein Fall denkbar, in dem die 2. Alternative des § 90 Abs. 2 a SGB IX (es liegt kein Nachweis vor, weil das Versorgungsamt mangels Mitwirkung noch keine Feststellung treffen konnte) eingreift, ohne dass gleichzeitig bereits die 1. Alternative (es liegt kein Nachweis vor) erfüllt ist. Da der Gesetzgeber kaum beabsichtigt haben dürfte, dass die 2. Alternative keinen Anwendungsfall hat, muss § 90 Abs. 2 a 2. Alternative SGB IX als Einschränkung der 1. Alternative verstanden werden. Grundsätzlich findet der Sonderkündigungsschutz daher keine Anwendung, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch bzw. Gleichgestellter nicht nachgewiesen ist (§ 90 Abs. 2 a 1. Alternative SGB IX). Dagegen bleibt nach § 90 Abs. 2 a 2. Alternative SGB IX der Sonderkündigungsschutz trotz fehlenden Nachweises bestehen, wenn der Antrag so frühzeitig nach Kündigungszugang gestellt worden ist, dass eine Entscheidung vor Ausspruch der Kündigung - bei ordnungsgemäßer Mitwirkung des Antragstellers - binnen der Frist des § 69 Abs. 1 S. 2 SGB IX möglich gewesen wäre. Der Antrag muss also mindestens 3 Wochen vor der Kündigung gestellt sein. § 90 Abs. 2 a 2. Alternative SGB IX erweist sich damit als Bestimmung einer Vorfrist. Das entspricht auch dem oben beschriebenen Zweck des § 90 Abs. 2 a SGB IX." (BAG vom 01.03.2007, 2 AZR 217/06 , ebenso: APS/Vossen, 3. Aufl., § 90 SGB IX, Rdnr. 10 c).

c. Zutreffend ist somit, dass § 90 Abs. 2 a SGB IX die gesetzgeberische Intention zugrunde liegt, einer missbräuchlichen Instrumentalisierung des Sonderkündigungsschutzes für schwerbehinderte Menschen aus taktischen Überlegungen im Zusammenhang mit einem zu erwartenden Kündigungsschutzprozess entgegen zu wirken. Im Verdacht des Rechtsmissbrauchs standen dabei insbesondere erst unmittelbar vor dem erwarteten Ausspruch einer arbeitgeberseitigen Kündigung gestellte Anerkennungsanträge. Wenn der Gesetzgeber nunmehr der Missbrauchsgefahr der Sache nach durch Einführung einer sog. Vorfrist begegnet, liegt dem die Überlegung zugrunde, dass ein Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter, der ohne direkten zeitlichen Zusammenhang zu einer arbeitgeberseitigen Kündigung jedenfalls so zeitig vor dieser später tatsächlich eingetretenen Kündigung gestellt worden ist, dass bei normalem Verlauf der Dinge bereits mit einer Entscheidung des Versorgungsamts über den Antrag hätte gerechnet werden können, eine taktische Missbrauchsintention im Zusammenhang mit einem bevorstehenden Kündigungsschutzprozess nicht mehr unterstellt werden kann.

d. Der Kläger hat vorliegend den sog. Verschlimmerungsantrag, der zur Anerkennung als schwerbehinderter Mensch im Sinne von § 85 SGB IX führen sollte und im nachhinein letztendlich auch geführt hat, mehr als 1 1/2 Jahre vor Ausspruch der hier streitigen Kündigung gestellt. Die Annahme, dass der Antrag rechtsmissbräuchlich aus prozesstaktischen Gründen und ohne Rücksicht auf die tatsächliche Erfolgsaussicht des Antrags gestellt worden wäre, erscheint damit im Hinblick auf die Kündigung vom 17.08.2005 fernliegend. Die durch § 90 Abs. 2 a 2. Alt. SGB IX eingeführte Vorfrist ist somit im vorliegenden Fall bei weitem eingehalten.

e. Nicht zu folgen ist letztendlich auch der Ansicht der Restitutionsbeklagten, dass § 90 Abs. 2 a SGB IX gleichwohl vorliegend zur Unanwendbarkeit des § 85 SGB IX führe, da die Vorschrift in ihrer 2. Alternative nur auf die fehlende Feststellung des Versorgungsamts abstelle, vorliegend das Versorgungsamt aber ebenso wie ihm nachfolgend die Widerspruchsbehörde eine negative Entscheidung zu Lasten des Klägers getroffen hätten (wie hier: LAG Köln vom 16.6.2006, NZA-RR 2007, 133f.). Eine solche Auslegung des § 99 Abs. 2 a SGB IX führt zu nicht nachvollziehbaren Wertungswidersprüchen und wäre überdies rechtsstaatlich höchst bedenklich.

aa. Es ist nicht einzusehen, warum derjenige schwerbehinderte Mensch, der seinen Anerkennungsantrag rechtzeitig im Sinne von § 90 Abs. 2 a SGB IX gestellt und seine Mitwirkungspflichten nicht verletzt hat, zwar dagegen geschützt werden soll, dass das Versorgungsamt trotz Ablauf der Fristen des § 69 Abs. 1 S. 2 SGB IX bis zum späteren Zugang einer arbeitgeberseitigen Kündigung noch gar keine Entscheidung getroffen hatte, nicht aber dagegen, dass das Versorgungsamt eine falsche Entscheidung trifft.

bb. Es erschiene überdies geradezu willkürlich, nur denjenigen schwerbehinderten Menschen den Sonderkündigungsschutz zukommen lassen zu wollen, denen bereits das Versorgungsamt im ersten Zugriff die Anerkennung zubilligt, nicht aber denjenigen, die eine ursprünglich falsche Entscheidung des Versorgungsamtes im Rahmen des rechtsstaatlichen Instanzenzuges erfolgreich korrigieren lassen. Die rechtsstaatlich gebotene Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Verwaltungsbehörde durch Rechtsbehelfe bzw. gerichtlich überprüfen zu lassen, würde in einem wichtigen Bereich ad absurdum geführt, wenn der durch eine zu seinen Lasten falschen Entscheidung benachteiligte Antragsteller zwar die falsche Entscheidung selbst aus der Welt schaffen könnte, deren unmittelbare benachteiligende Folgen in anderen Rechtsgebieten aber endgültig bestehen blieben. Kommt es mit der ständigen höchstrichtlichen Rechtsprechung des BAG nach wie vor maßgeblich auf die objektiven Verhältnisse im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung an und sollen durch § 90 Abs. 2 a SGB IX nur Missbrauchsfälle einer augenscheinlich lediglich prozesstaktisch bedingten Antragstellung aus dem Sonderkündigungsschutz ausgeschieden werden, so lässt sich nicht rechtfertigen, dass der Sonderkündigungsschutz denjenigen Personen nicht zu Gute kommen sollen, die ihren Antrag auf Anerkennung rechtzeitig gestellt haben, ihre Mitwirkungspflichten im Anerkennungsverfahren nicht verletzt haben, ihre Anerkennung aber erst aufgrund eines Widerspruchsbescheids oder ihm Rahmen eines sich anschließenden sozialgerichtlichen Verfahrens durchsetzen können.

cc. Die erst in einer höheren Instanz oder im Rahmen eines Gerichtsverfahrens durchgesetzte Anerkennung ist in keiner Weise "minderen Rechts" als eine bereits vom Versorgungsamt zugesprochene Anerkennung. Gerade auch das von der Restitutionsbeklagten selbst in anderem Zusammenhang hervorgehobene Argument, dass ein Gerichtsverfahren eine höhere Richtigkeitsgewähr und einen höheren Vertrauensschutz für das allgemeine Rechtsgefühl begründet als ein rein auf Verwaltungsakten beruhendes innerbehördliches Verfahren, spricht dafür, dass im Rahmen der Auslegung des § 90 Abs. 2a SGB IX kein Ergebnis erzielt werden darf, dass die sozialgerichtliche Überprüfbarkeit von Entscheidungen des Versorgungsamtes missachtet.

f. Der Restitutionsbeklagten ist zuzugeben, dass die in der Einführung des § 90 Abs. 2 a SGB IX bestehende Missbrauchsabwehr die auf dem Gebiet des Zusammenspiels von Schwerbehindertenrecht und Sonderkündigungsschutz im Arbeitsverhältnis bestehenden Rechtssicherheitsdefizite nur geringfügig zu vermindern geeignet ist. Die auf dem Gebiet der Rechtssicherheit hier fortbestehende Defizite zu beseitigen, ist jedoch Aufgabe des Gesetzgebers und kann nicht durch systemwidrige Auslegung von Gesetzen durch die Gerichte erreicht werden.

5. Der für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag gestellte Weiterbeschäftigungsantrag des Klägers konnte dagegen zur Zeit keinen Erfolg haben.

a. Die Beklagte hat das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger unter dem 07.06.2006 erneut fristgerecht gekündigt. Über die gegen diese Kündigung gerichtete Kündigungsschutzklage des Klägers ist bislang nicht entschieden worden.

b. Die Kündigung vom 07.06.2006 ist auch nicht offensichtlich unwirksam. Die Beklagte hat nämlich vor Ausspruch der Kündigung vom 07.06.2006 unter dem 30.05.2006 vorsorglich einen Antrag auf Zustimmung des Integrationsamtes gestellt, den dieses durch Bescheid vom 01.06.2006 im Sinne eines sog. Negativattestes zurückgewiesen hat (zu der Konstellation des Negativattestes vgl. BAG vom 20.1.2005, NZA 2005, 689; BAG vom 27.5.1983, NJW 1984, 1420; A/P/S - Vossen, § 85 SGB IX Rdnr. 3). Über den Ablauf der Kündigungsfrist der neuerlichen Kündigung vom 07.06.2006 am 31.01.2007 hinaus konnte somit derzeit eine Verpflichtung der Restitutionsbeklagten zur tatsächlichen Weiterbeschäftigung des Restitutionsklägers nicht ausgesprochen werden.

III. Die Kostenentscheidung folgt dem Verhältnis des beiderseitigen Obsiegens und Unterliegens.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG in Verbindung mit § 591 ZPO die Revision zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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