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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern
Urteil verkündet am 16.05.2008
Aktenzeichen: 3 Sa 20/08
Rechtsgebiete: BGB, MTV Einzelhandel MV


Vorschriften:

BGB § 315
MTV Einzelhandel MV § 12 Abs. 3
Überschreitet die Arbeitsunfähigkeit einer Arbeitnehmerin wegen Erkrankung des Kindes monatlich nicht fünf Arbeitstage, so scheidet eine Kürzung der Sonderzuwendung um 1/12 gemäß § 12 Abs. 3 MTV grundsätzlich aus (Fortführung der Rechtsprechung der 1. Kammer des Landesarbeitsgerichts mit Urteil vom 02.06.2005, 1 Sa 551/04).
Tenor:

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 08.11.2007 - 6 Ca 572/07 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision gegen diese Entscheidung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Berechtigung der Beklagten zur Kürzung der Jahressonderzuwendung der Klägerin für das Jahr 2006 um 1/12 im Gegenwert von unstreitig 70,50 EUR brutto gem. § 12 Abs. 3 des Manteltarifvertrages für den Einzelhandel im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern vom 01.10.2003 (künftig: MTV).

Der MTV findet auf das seit 1995 bestehende Arbeitsverhältnis jedenfalls im Wege der Nachwirkung Anwendung.

Die Klägerin war am 01.03.2006, am 10.07.2006, am 31.08.2006, am 13.09.2006, in der Zeit vom 26.09.2006 bis 29.09.2006 sowie am 18. und 19.10.2006 jeweils arbeitsunfähig wegen Erkrankung ihres Kindes. Während dieser Abwesenheitstage erhielt die Klägerin Kinderpflegekrankengeld gemäß § 45 SGB-V.

Weil die Klägerin im September 2006 an fünf Arbeitstagen keine Arbeitsleistung wegen Erkrankung des Kindes erbracht hatte, kürzte die Beklagte die Sonderzahlung um 1/12. Im Fall der Arbeitsunfähigkeit von Arbeitnehmern selbst bis zur Dauer von sechs Wochen wird bei der Beklagten eine Kürzung der Sonderzuwendung nicht vorgenommen.

Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin von der Beklagten die Zahlung von 70,50 EUR brutto.

Mit Urteil vom 08.11.2007 hat das Arbeitsgericht Schwerin der Klage stattgegeben und im Wesentlichen argumentiert, die Kürzungsmöglichkeit der Sonderzuwendung nach § 12 Abs. 3 MTV sei nach vorzunehmender Auslegung auf eine Arbeitsunfähigkeit wegen Erkrankung des Kindes nicht anwendbar. Eine gegenteilige Auslegung von § 12 Abs. 3 MTV wäre im Übrigen verfassungsrechtlich auf Grund von Artikel 6 Abs. 2 Grundgesetz höchst bedenklich. Außerdem müsse insoweit auch eine Gesetzeswidrigkeit im Hinblick auf § 612a BGB und § 4a Entgeltfortzahlungsgesetz in Betracht gezogen werden.

Gegen diese am 17.12.2007 zugestellte Entscheidung richtet sich die am 14.01.2008 beim Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern eingegangene Berufung der Beklagten. Die Berufungsbegründung ist am 18.02.2008 (einem Montag) beim Landesarbeitsgericht eingegangen.

Die Beklagte hält an ihrer Rechtsauffassung fest, wonach die vorgenommene Kürzung um ein 1/12 der Jahresonderzuwendung für das Jahr 2006 nicht als unbillig angesehen werden könne. Die Kürzung sei - unter Hinweis auf die Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 02.06.2005 - 1 Sa 551/04 - im Sinne des § 315 BGB bereits deshalb ermessensfehlerfrei, weil für die Klägerin im September 2006 fünf Fehltage - unstreitig - wegen des erkrankten Kindes zu verzeichnen gewesen seien. Jedenfalls folge dieses Ergebnis aber daraus, dass die Klägerin für das Jahr 2006 an weiteren fünf Tagen - unstreitig - wegen Erkrankung des Kindes arbeitsunfähig gewesen sei. Schließlich könne angesichts der moderaten Kürzung in Höhe von 70,50 EUR brutto weder von einem Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 2 Grundgesetz noch von einer Gesetzwidrigkeit im Rahmen von § 612a BGB bzw. § 4a Entgeltfortzahlungsgesetz ausgegangen werden.

Die Beklagte beantragt:

1. Das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 08.11.2007 - 6 Ca 572/07 - wird aufgehoben und die Klage wird abgewiesen.

2. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten im Berufungsrechtszug wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Die Beklagte ist verpflichtet, an die Klägerin für das Jahr 2006 den einbehaltenen Teil der Jahressonderzuwendung in Höhe von 70,50 EUR brutto nebst Zinsen in der ausgeurteilten Höhe gemäß § 12 Abs. 1 in Verbindung mit § 12 Abs. 2 MTV zu zahlen.

1. Die Klägerin verfügt dem Grunde nach - zwischen den Parteien unstreitig - über einen Anspruch auf Jahressonderzuwendung für das Jahr 2006 gemäß § 12 Abs. 1 MTV. Diesbezüglich kann zur Begründung auf die nicht angefochtenen Feststellungen des Arbeitsgerichts Schwerin vom 08.11. 2007 verwiesen werden.

2. Dieser Anspruch der Klägerin besteht gemäß § 12 Abs. 2 MTV auch in voller Höhe, da die von der Beklagten vorgenommene Kürzung um 1/12 nach § 12 Abs. 3 MTV nicht der Billigkeit im Sinne des § 315 BGB entspricht.

Die von der Beklagten vorgenommene Kürzung lässt sich danach weder auf § 12 Abs. 3 Satz 1 MTV noch auf § 12 Abs. 3 Satz 2 MTV stützen. Dieses Ergebnis folgt zum einen der vorzunehmenden Auslegung des § 12 Abs. 3 Satz 1 MTV und zum anderen der durchzuführenden Auslegung des § 12 Abs. 3 Satz 2 MTV im Sinne einer Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB.

Mit diesen Themenstellungen hat sich bereits die 1. Kammer des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern mit Urteil vom 02.06.2005 - 1 Sa 551/04, rechtskräftig - auseinandergesetzt und im Einzelnen - soweit hier von Bedeutung - ausgeführt:

"Für die Auslegung des § 12 Abs. 3 ist zunächst zwischen dessen Satz 1 und Satz 2 zu differenzieren. Satz 1 regelt das Bestehen des Anspruches auf Sonderzuwendung und beschränkt diesen auf Zeiten, in denen ein Entgeltanspruch besteht. Demgegenüber knüpft Satz 2 für die Möglichkeit der Kürzungen daran an, ob der Arbeitnehmer "tätig" war, also tatsächlich gearbeitet hat. Satz 1 regelt also die Entstehung des Anspruches auf die Sonderzuwendung. Sein Wortlaut ist unklar. Insbesondere der Begriff "Zeiten" ist auslegungsbedürftig. Aus dem Wortlaut ist nicht erkennbar, ob dabei auf Jahre, Monate oder kürzere Zeiträume abgestellt werden soll.

Es ist auch nicht eindeutig erkennbar, ob es genügen soll, dass in dem fraglichen Zeitraum überhaupt ein Entgeltanspruch besteht oder ob vorausgesetzt werden soll, dass der Entgeltanspruch an allen Tagen dieses Zeitraumes bestehen muss. Die Wiederaufnahme des Begriffes "Zeiten" in Satz 2 legt allerdings nahe, dass hiermit größere Zeiträume gemeint sein müssen, denn aus der Anknüpfung mit den Worten "in denen" ergibt sich, dass die Tarifvertragsparteien von der Vorstellung ausgegangen sind, dass es sich bei den "Zeiten" um längere Zeiträume als bloße Monate handelt. "Zeiten" ist der Begriff, in denen die Monate hineinfallen, also der längerfristige Begriff. Das widerspricht der in der Berufungsbegründung der Beklagten anklingenden Vorstellung, dass der Anspruch auf die Jahreszuwendung tageweise anteilig entsteht und anwächst. Einzelne Tage ohne Entgeltanspruch innerhalb größerer Zeiträume, in denen durchgängig ein Entgeltanspruch besteht, können daher nicht als "Zeiten" im Sinne von Abs. 3 Satz 1 angesehen werden..

Auch Absatz 3 Satz 2 sagt nach seinem Wortlaut nicht aus, dass die Sonderzuwendung etwa für jeden Monat, in dem der Arbeitnehmer nicht an jedem Tag tätig war, um 1/12 gekürzt werden könne. Der Wortlaut ließe auch durchaus das Verständnis zu, dass für längere Zeiträume, in die unvollständige Monate fallen - also etwa für das Jahr, für das die Sonderzuwendung zu zahlen ist - eine Kürzung um nur insgesamt 1/12 erfolgen könne. Die Rückbezüglichkeit von Satz 2 aus Satz 1 des Absatzes 3 spricht allerdings für die Annahme, dass hier eine echte Zwölftelung - wie sie in Absatz 4 für das Austrittsjahr eindeutiger geregelt ist - gemeint ist.

Auch wenn aber davon ausgegangen wird, dass der für das Jahr trotz einzelner Ausfalltage gemäß Abs. 2 Satz 1 in voller Höhe entstandene Anspruch gemäß Abs. 3 Satz 2 für Monate ohne volle Arbeitstätigkeit um jeweils 1/12 gekürzt werden kann, so berechtigt dies die Beklagte doch nicht uneingeschränkt, für jeden Monat, in dem der Arbeitnehmer auch nur an einem Tag nicht tätig war, eine Kürzung vorzunehmen.

Zum einen begründet das Wort "kann" die Annahme, dass die Kürzung der tariflichen Sonderzuwendung nicht schon durch den Tarifvertrag selbst erfolgt, sondern lediglich eine Berechtigung des Arbeitgebers zur Kürzung begründet wird. Zum anderen erfordert die sehr weit gefasste Voraussetzung der Kürzungsmöglichkeit in § 12 Abs. 3 Satz 2 ("nicht volle Monate tätig") in besonderem Maße, die Ausübung des Kürzungsrechts einer Billigkeitskontrolle gemäß § 315 BGB zu unterwerfen. Dies gilt umso mehr, als der insoweit womöglich verfehlte Wortlaut der tariflichen Regelung mit seinem Anknüpfen an das Tätigsein sogar den Gedanken an eine Kürzung im Fall von Urlaub oder Arbeitsunfähigkeit nicht ausschließen würde.

Es kann hier dahinstehen, ob es unbillig wäre, die Kürzung der Sonderzuwendung gegenüber einer Arbeitnehmerin vorzunehmen, die den vollen nach § 45 SGB-V möglichen Anspruch auf Freistellung zur Pflege erkrankter Kinder - der bei Eltern mehrerer Kinder immerhin 25 Arbeitstage, bei Alleinerziehenden bis zu 50 Arbeitstagen im Jahr ausmachen kann - in Anspruch nimmt.

Nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts spricht viel dafür, eine Kürzung jedenfalls dann als unbillig anzusehen, wenn sich die Inanspruchnahme der Freistellung zur Pflege eines erkrankten Kindes auf den in der schon erwähnten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu Grunde gelegten grundsätzlich vergütungspflichtigen Zeitraum von wenigen - höchstens fünf Tagen - beschränkt."

Diesen Ausführungen schließt sich das erkennende Gericht sowohl im Ergebnis als auch in der Begründung an. Daran gemessen ist vorliegend eine Kürzungsmöglichkeit für die Beklagte für das Jahr 2006 um 1/12 der Jahressonderzuwendung nicht gegen.

a)

§ 12 Abs. 3 Satz 1 MTV scheidet als Rechtsgrundlage bereits deshalb aus, weil weder die fünf Fehltage aus September 2006 noch die weiteren fünf Fehltage in den übrigen Monaten des Jahres 2006 sowohl für sich genommen als auch in ihrer Gesamtheit nicht ausreichen, um die erforderliche - oben geschilderte - Zeitspanne im Sinne der genannten Tarifnorm belegen zu können.

b)

Auch lässt sich die vorgenommene Kürzung für die Beklagte unter Berücksichtigung der oben dargelegten Grundsätze nicht auf § 12 Abs. 3 Satz 2 MTV stützen.

aa)

Isoliert betrachtet für den Monat September 2006 folgt dieser Umstand bereits daraus, dass diesbezüglich ein Zeitraum von fünf Arbeitstagen nicht überschritten ist.

bb)

Bezogen auf die insgesamt zu Buche stehenden zehn Fehltage für das Jahr 2006 wegen Erkrankung des Kindes folgt dieses Ergebnis in Anwendung der oben festgestellten Grundsätze aus dem Umstand, dass § 12 Abs. 3 Satz 2 MTV grundsätzlich keine jahresbezogene, sondern vielmehr eine monatsbezogene - "volle Monate" - Sichtweise erfordert. Die Beklagte hat wiederholt vorgetragen, die Kürzung um 1/12 der Jahressonderzuwendung für das Jahr 2006 im Hinblick auf die Fehltage der Klägerin im September 2006 vorgenommen zu haben. Bei der gebotenen monatsbezogenen Sichtweise kommt aber eine Addition von Fehltagen mit anderen Monaten des entsprechenden Jahres grundsätzlich nicht in Betracht.

3.

Ob sich eine Rechtsunwirksamkeit des § 12 Abs. 3 MTV ganz oder teilweise auch aus verfassungsrechtlichen oder gesetzesrechtlichen Gründen ergeben kann, bleibt in Anbetracht der Ausführungen und des Ergebnisses zu Ziffer 2 dieser Entscheidung unentschieden.

4.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.

5.

Die Revisionszulassung folgt aus § 72 Abs. 2 ArbGG.

Ende der Entscheidung

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