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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht München
Urteil verkündet am 29.11.2007
Aktenzeichen: 3 Sa 676/06
Rechtsgebiete: KSchG


Vorschriften:

KSchG § 1
1. Bei einem im Zeitpunkt der Kündigung gerade zweiundzwanzigjährigen Arbeitnehmer mit exorbitant hohen krankheitsbedingten Fehlzeiten kann im Einzelfall dennoch die Gesundheitsprognose positiv sein.

2. Für die für eine wirksame krankheitsbedingte Kündigung erforderliche negative Gesundheitsprognose kommt es nicht auf die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes und der weiteren gesundheitlichen Entwicklung durch den Arbeitnehmer, z. B. im Rahmen eines mit diesem geführten Personalgesprächs an, sondern auf objektive, also medizinisch begründbare Tatsachen. Die negative Gesundheitsprognose muss in diesem Sinne eine objektive sein.


LANDESARBEITSGERICHT MÜNCHEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 Sa 676/06

Verkündet am: 29. November 2007

In dem Rechtsstreit

hat die Dritte Kammer des Landesarbeitsgerichts München aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 15. November 2007 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Rosenfelder sowie die ehrenamtlichen Richter Kümmerle und Seliger für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Arbeitsgerichts München vom 22.02.2006 - 19a Ca 3423/05 - geändert:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 31.01.2005 nicht aufgelöst worden ist.

2. Der Auflösungsantrag der Beklagten wird zurückgewiesen.

3. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

II. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen krankheitsbedingten Arbeitgeberkündigung sowie über einen von der beklagten Arbeitgeberin gestellten Auflösungsantrag.

Der seit März 2001 bei der Beklagten als Mitarbeiter im Bodenverkehrsdienst beschäftigte, am 25.07.1981 geborene, verheiratete und zwei Kindern unterhaltsverpflichtete Kläger erhielt von der Beklagten nach Anhörung des Betriebsrats eine ordentliche Kündigung vom 31.01.2005 zum 31.03.2005. Bereits im Jahr 2001 war der Kläger an 32 Arbeitstagen infolge Krankheit arbeitsunfähig. Im Jahr 2002 betrugen seine krankheitsbedingten Fehlzeiten 33 Arbeitstage, davon 13 Tage aufgrund eines Arbeitsunfalls. Im Jahr 2003 erkrankte der Kläger an insgesamt 35 Arbeitstagen. Im Jahr 2004 war er an 40 Arbeitstagen infolge Krankheit arbeitsunfähig. Seine Krankheitszeiten nach Erhalt der Kündigung im Jahr 2005 betrugen bis zum Ablauf der Kündigungsfrist 45 Arbeitstage. Laut nervenärztlichem Attest vom 12.09.2005 ist der Kläger wieder voll arbeitsfähig für seine Tätigkeit in der Flugzeugabfertigung.

Die Fehlzeitenquote des Klägers bewegte sich in den Jahren 2001 bis 2004 zwischen 15,6 % und 18,1 %, wogegen die Fehlzeitenquote in seiner Abteilung von 2002 bis 2004 zwischen 6,7 % und 9,3 % schwankte. Die Krankschreibungen des Klägers erfolgten durch sechs verschiedene Ärzte. Die Beklagte wandte an Entgeltfortzahlungskosten für den Kläger in den Jahren 2001 bis einschließlich 2005 zwischen Euro 4.331,11 und Euro 7.063,39 jährlich auf. Sie führte am 21.02.2003 und am 21.05.2004 Fehlzeitengespräche mit dem Kläger. Seit Ende 2001 befanden sich der Kläger und seine Ehefrau in einem Konflikt, der vom Schwiegervater des Klägers ausging. Dieser wollte die Beziehung zwischen den Eheleuten nicht akzeptieren und bedrohte den Kläger, seine Ehefrau und weitere Angehörige des Klägers massiv und sogar mit Waffengewalt. Die strafrechtlich relevanten Aktionen des Schwiegervaters mündeten in einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe und in einem gerichtlichen Aufenthaltsverbot. Im Anschluss daran ließen die Bedrohungen von Seiten des Schwiegervaters und seiner Angehörigen gegenüber dem Kläger und seiner Ehefrau nach und die Situation beruhigte sich.

Das Arbeitsgericht München wies mit Endurteil vom 22.02.2006 - 19a Ca 3423/05 -, auf das hinsichtlich des unstreitigen Sachverhalts im Übrigen, des streitigen Vortrags der Parteien im ersten Rechtszug, der erstinstanzlich gestellten Anträge und der näheren Einzelheiten der rechtlichen Erwägungen des Erstgerichts verwiesen wird, die Klage auf Feststellung der Rechtsunwirksamkeit der ordentlichen Kündigung vom 31.01.2005 zurück mit der Begründung, die Gesundheitsprognose des Klägers sei beim vorliegenden Sachverhalt negativ und die Einlassung des Klägers, sein schlechter Gesundheitszustand gehe auf eine massive physische und psychische Beeinträchtigung durch den Schwiegervater zurück, nicht hinreichend substantiiert. Aufgrund der Indizwirkung der negativen Gesundheitsprognose müsse auch in Zukunft mit erheblichen Ausfallzeiten gerechnet werden. Auch liege eine erhebliche Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen aufgrund der Entgeltfortzahlungskosten vor. Schließlich könne die gegenseitige Interessenabwägung nicht zugunsten des Klägers ausgehen.

Der Kläger hat gegen das ihm am 02.05.2006 zugestellte Endurteil vom 22.02.2006 mit einem am 02.06.2006 beim Berufungsgericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese innerhalb verlängerter Berufungsbegründungsfrist mit einem am 24.07.2006 eingegangenen Schriftsatz begründet.

Er trägt vor, die Zukunftsprognose sei günstig. Dies werde ein Sachverständigengutachten, das einzuholen das Arbeitsgericht versäumt habe, erweisen. Durch die Entfernung des Schwiegervaters des Klägers aus dessen Umfeld seien die diesbezüglichen Probleme entfallen. Die Verhältnisse hätten sich erst nach und nach entspannt. Es habe beim Kläger einer Rekonvaleszenz- bzw. Stabilisierungszeit bedurft. Der Kläger trägt vor, Betriebsablaufstörungen seien nicht eingetreten. Ein schlechter körperlicher Allgemeinzustand des Klägers - der ohne medizinische Sachkunde nicht feststellbar sei - liege nicht vor.

Der Kläger beantragt:

I. Das Endurteil des Arbeitsgerichts München, Az. 19a Ca 3423/05, verkündet am 22.02.2006, wird aufgehoben.

II. Es wird festgestellt, dass die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 31.01.2005 rechtsunwirksam ist.

III. Die Beklagte hat die Kosten beider Rechtszüge zu tragen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung "abzuweisen" und dem Kläger die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Ferner beantragt sie, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe im Ermessen des Gerichts stehe, aber Euro 6.500,00 nicht überschreiten sollte, zum Ablauf des 31.03.2005 aufzulösen.

Der Kläger beantragt, den Auflösungsantrag der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält die vom Erstgericht vorgenommene Negativprognose für zutreffend und weist darauf hin, dass der Kläger laut Attest vom 12.09.2005 erst wieder im September 2005 arbeitsfähig geworden sei. Der Ursachenzusammenhang zwischen der problematischen familiären Situation und den Erkrankungen des Klägers wird von der Beklagten bestritten, zumal trotz familiärer Entlastung in den Jahren 2004 und 2005 weitere erhebliche Fehlzeiten aufgetreten seien. Die Beklagte meint, ein Sachvortrag, der der Darlegungslast des Klägers genüge, fehle. Auch sprächen die betrieblichen Beeinträchtigungen durch Entgeltfortzahlungskosten und die Interessenabwägung gegen den Kläger.

Den Auflösungsantrag stützt die Beklagte darauf, dass der Kläger diverse Male versucht habe, über seinen Gesundheitszustand bzw. die Art und Ursache seiner Erkrankungen zu täuschen. Er habe insbesondere falsche Angaben über die Ursache seiner Erkrankung gemacht, krankheitsbedingte Fehlzeiten nicht oder nur unvollständig erläutert und unvollständige Angaben bezüglich der ihn behandelnden Ärzte gemacht. Dieses Verhalten decke sich mit der ungenauen und nur widerstrebenden Entbindung der Ärzte von der Schweigepflicht.

Hinsichtlich des sonstigen Vortrags der Parteien im zweiten Rechtszug wird auf die Schriftsätze des Klägers vom 21.07.2006, 29.11.2006 und 25.09.2007, der Beklagten vom 25.08.2006, 08.12.2006, 19.12.2006, 08.02.2007, 27.06.2007, 31.07.2007, 20.08.2007 und 12.11.2007 verwiesen, ferner auf die Sitzungsniederschriften vom 09.11.2006 und 15.11.2007.

Das Berufungsgericht hat Beweis erhoben aufgrund Beweisbeschlusses vom 09.11.2006 durch Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens des Facharztes für Arbeitsmedizin-Umweltmedizin-Sozialmedizin Dr. med. Dipl-Ing. R. T.. Hinsichtlich dessen Inhalt wird auf das Gutachten vom 05.06.2007 und dessen Berichtigung, übersandt mit Anschreiben vom 23.08.2007, verwiesen. Der Sachverständige hat sein Gutachten in der mündlichen Verhandlung vom 15.11.2007 erläutert. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift vom genannten Tage verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist begründet, weil das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die ordentliche Kündigung vom 31.01.2005 nicht aufgelöst worden ist. Der Auflösungsantrag der Beklagten ist unbegründet; denn es sind keine Gründe vorgetragen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht mehr erwarten lassen.

1. Die Klage ist begründet. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die Kündigung vom 31.01.2005 nicht aufgelöst worden, weil diese Kündigung nicht sozial gerechtfertigt ist im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG.

Im Zeitpunkt der Kündigung bestand keine negative Gesundheitsprognose im Sinne der vom Arbeitsgericht zutreffend wiedergegebenen Grundsätze für die Beurteilung einer sog. krankheitsbedingten Kündigung. Die von der Beklagten behaupteten Äußerungen des Klägers bei den Fehlzeitengesprächen, insbesondere die Erklärung, aufgrund seiner Erkrankung und der Mitteilungen der Ärzte sei keine Verbesserung seines Gesundheitszustandes zu erwarten, vielmehr sei eine weitere Verschlechterung zu befürchten, sind bei Feststellung der erforderlichen negativen Gesundheitsprognose ohne Belang. Denn maßgebend für diese Prognose ist nicht die punktuelle - und hier offensichtlich laienhafte - Bewertung des Gesundheitszustandes durch den Arbeitnehmer selbst, sondern eine objektive, d. h. nach medizinischen Grundsätzen begründete Prognose (BAG 10.11.2005 - 2 AZR 44/05). Die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustands durch den betroffenen Arbeitnehmer hängt typischerweise stark von der gerade aktuellen gesundheitlichen Befindlichkeit ab. So wird ein Arbeitnehmer, der an medizinisch (noch) nicht aufgeklärten Symptomen leidet, eher dazu neigen, seine weitere gesundheitliche Entwicklung in düsteren Farben zu malen als ein Arbeitnehmer, dessen Krankheitsbild medizinisch aufgeklärt ist und der sich auf dem Wege der Besserung befindet. Entscheidend kann aber nur sein, welche gesundheitliche Entwicklung unter Anlegung nachprüfbarer medizinischer Maßstäbe prognostiziert werden kann.

Der Beklagten ist zuzugeben, dass die sehr erheblichen Fehlzeiten des Klägers seit dem Jahr seiner Einstellung bei der Beklagten bis hin zur Kündigung eine ausreichende Indizwirkung für das Vorliegen einer negativen Gesundheitsprognose zu entfalten vermögen. Der Kläger hatte nicht nur seit seiner Einstellung exorbitante krankheitsbedingte Fehlzeiten - abgesehen vom Arbeitsunfall im Jahr 2002 -, die in den Jahren 2002 und 2004 die Fehlzeitenquote seiner Abteilung um mehr als das Doppelte überschritten. Besonders erstaunlich ist vor allem, dass es zu einer solchen Fehlzeitenquote im jugendlichen Alter des Klägers kam, also in einem Alter, in dem typischerweise eher mit unterdurchschnittlichen krankheitsbedingten Fehlzeiten zu rechnen ist. Auffallend und prognosebestätigend ist überdies, dass die Fehlzeiten ab 2002 kontinuierlich zunahmen. Nicht zuletzt sind es die unterschiedlichen ärztlichen Diagnosen und die nicht geringe Zahl von ärztlichen Praxen, von denen der Kläger krankgeschrieben wurde, die zunächst die von der Beklagten im Zeitpunkt der Kündigung getroffene Annahme rechtfertigen, es sei auch in Zukunft mit ähnlich hohen Fehlzeiten zu rechnen (vgl. BAG 10.11.2005 -2 AZR 44/05).

Gleichwohl hat sich aufgrund der im zweiten Rechtszug durchgeführten Beweisaufnahme ergeben, dass eine solche negative Gesundheitsprognose im Falle des Klägers nicht objektiv besteht, d. h. aber, dass sie nicht medizinisch begründbar vorliegt.

Der Kläger hat bereits im ersten Rechtszug die Art seiner Erkrankungen aus seiner Sicht detailliert geschildert, in diesem Zusammenhang jeweils Ärzte benannt, die ihn behandelten, und diese von der Schweigepflicht entbunden. Er hat (Schriftsatz vom 14.09.2005 Seite 5) ausgeführt, eine negative Zukunftsprognose könne nicht gestellt werden, da er an wenigen verschiedenen Erkrankungen gelitten habe, die allesamt ausgeheilt seien, und dies durch Einvernahme aller behandelnden Ärzte und Einholung eines Sachverständigengutachtens unter Beweis gestellt. Damit hat er entsprechend den oben genannten Rechtsprechungsgrundsätzen seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hinreichend genügt und die Negativprognose ausreichend bestritten. Denn sein Vortrag - auch bereits im ersten Rechtszug - ist dahin zu verstehen, dass nach Auffassung seiner behandelnden Ärzte im Zeitpunkt der Kündigung nicht mit ähnlich hohen Fehlzeiten wie in der Vergangenheit zu rechnen war. Dass der Kläger zunächst nicht alle Ärzte, die ihn behandelten, lückenlos benannte und von der Schweigepflicht entband, lässt seine prozessuale Mitwirkung nicht ungenügend erscheinen. Denn angesichts der umfangreichen und häufigen Fehlzeiten, der unterschiedlichen Diagnosen sowie der relativ großen Zahl von behandelnden Ärzten wäre es gerade zu erstaunlich, wenn sich der Kläger an alle Krankheitszeiten, Ursachen, Diagnosen und behandelnden Ärzte hätte erinnern und diese ohne Weiteres benennen können.

Das Sachverständigengutachten ist aufgrund sorgfältiger Eigenanamnese, Auswertung der Fremdbefunde, Berücksichtigung der Vorgeschichte unter Einschluss der beruflichen und sozialen Bedingungen, der Krankenkassenunterlagen sowie des aktuellen Befundes in überzeugender Weise zum Ergebnis gelangt, zum Zeitpunkt der Kündigung sei medizinischerseits in Kenntnis der vorausgegangenen Krankheitsursachen nicht mit weiteren krankheitsbedingten Fehlzeiten des Klägers in bisherigem Umfang zu rechnen gewesen, obwohl das Auftreten von banalen, nach kurzer Zeit folgenlos ausheilenden Erkrankungen oder Infektionen natürlich nicht auszuschließen sei. Eine besondere Veranlagung oder Vererbung zu chronischen Gesundheitsstörungen, die wiederholt zu Arbeitsunfähigkeiten führen könnten wie Deformierungen, Amputationen, schwerwiegende Stoffwechselstörungen, Blut- oder Muskelerkrankungen seien weder aus der Anamnese noch aus den vorliegenden Unterlagen und der Vorgeschichte erkennbar. Die Arbeitsbedingungen am Flughafen seien als branchenüblich und mittelschwer einzustufen; sie stellten keine überdurchschnittlichen Belastungen an die körperliche Leistungsfähigkeit eines gesunden, noch relativ jungen Menschen dar. Obwohl allein wegen der früheren Arbeitsunfähigkeitszeiten zu vermuten wäre, dass auch künftig krankheitsbedingte Fehlzeiten in diesem Bereich liegen werden, sei von medizinischer Seite her nach dem aktuellen Befund und der früher durchgemachten Erkrankungen allerdings davon nicht auszugehen. Die anlässlich der Begutachtung als Ursache für den schlechteren Gesundheitszustand geäußerte familiäre Situation sei in den vorliegenden ärztlichen Unterlagen nie angesprochen worden, entsprechende fachärztliche Konsultationen hätten nicht stattgefunden. Daher sei von einem wesentlichen Zusammenhang nicht auszugehen. Prognostisch sei festzustellen, dass dieses Thema seit einigen Jahren erledigt sei und keine Bedrohungen mehr erfolgen.

Diese Ausführungen sind in sich schlüssig und gut nachvollziehbar. Der Sachverständige hat in seiner Erläuterung des Gutachtens in mündlicher Verhandlung auch die Nachfragen der Beklagten umfassend und überzeugend beantwortet und deren Einwände gegen das Beurteilungsergebnis auszuräumen vermocht. So hat er zur Nichtberücksichtigung einzelner krankheitsbedingter Fehltage und einer im Jahr 2003 eingetretenen längeren Fehlzeit begründet, warum er einzelne Fehltage bei der Beurteilung von Krankheitszeiten, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, nicht brauche, zumal er nur spekulieren könne, wenn ein Arbeitnehmer ohne Behandlung oder Attest zu Hause bleibe. Da eine ganze Menge anderer Befunde auch über längere Zeiträume vorlägen, ergebe sich die grundsätzliche Prognose aus der Vorgeschichte, den aktuellen Befunden bzw. der aktuellen medizinischen Situation am Arbeitsplatz, beurteilt zum Zeitpunkt der Kündigung. Damit hat der Sachverständige plausibel erklärt, warum er die von der Beklagten angeführten 33 Fehltage nicht zur Erstellung der Prognose benötigte.

Der Sachverständige hat ferner erläutert, warum sich aus den gehäuften - und bei einem jungen Menschen wie dem Kläger durchaus ungewöhnlichen - Krankschreibungen wegen HWS-Syndroms keine objektive negative Gesundheitsprognose ableiten lasse. Er hat darauf hingewiesen, er könne zwar nicht gänzlich ausschließen, dass es wieder zu HWS-Beschwerden komme. Dies gelte jedoch nicht nur für dieses Syndrom, sondern generell für Erkrankungen. Beim Kläger sei es jedoch nicht wahrscheinlicher als bei Vergleichspersonen, dass es erneut zu solchen Beschwerden komme, zumal Syndrome keine klare Diagnose darstellten, sondern die Beschreibung eines anatomischen Zustandes. Die beim Kläger durchgeführten Untersuchungen hätten keine Hinweise auf organische Veränderungen bzw. bleibende Schäden - wie z. B. durch einen Bandscheibenvorfall - ergeben. Auch Hinweise auf degenerative Vorgänge oder psychische Ursachen seien nicht vorhanden. Deshalb sei die Häufigkeit der Krankschreibungen in diesem Fall konkret nicht nachvollziehbar. Damit hat der Sachverständige die auch in der von der Beklagten vorgelegten gutachterlichen Stellungnahme des Leitenden Oberarztes Dr. R. S. vom 12.11.2007 geäußerte Feststellung bestätigt, die gehäuften Krankschreibungen wegen HWS-Syndroms könnten aufgrund der Unterlagen nicht ausreichend beurteilt werden, zumal es sich um eine sehr unspezifische Diagnose handele, die eine Objektivierung nicht zulasse und der Behandler in Abwesenheit klinischer oder radiologisch nachweisbarer Veränderungen meist auf die durch den Patienten geschilderten Beschwerden angewiesen sei. Der Sachverständige hat in mündlicher Verhandlung deutlich gemacht, dass es gerade bei einem "Syndrom", also einer Zustandsbeschreibung, mangels konkreter medizinischer Befunde keine belastbare Gesundheitsprognose geben könne und angesichts des medizinisch feststellbaren gesundheitlichen Zustands des Klägers im Zeitpunkt der Kündigung Aussagen darüber, ob es wegen HWS-Beschwerden erneut zu Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers - und in welchem Umfang - kommen könne, letzten Endes Spekulationen seien. Er hat auch zu Recht klar gestellt, dass aus den häufigen Krankschreibungen des Klägers wegen HWS-Beschwerden nicht zwingend auf eine diesbezügliche negative Prognose zu schließen sei. Schließlich hat der Sachverständige in diesem Zusammenhang plausibel erläutert, warum für ein neues bildgebendes Verfahren zur prognostischen Beurteilung der HWS-Symptomatik keine Indikation bestand.

Die naheliegende Frage nach einer generellen Anfälligkeit des Klägers, insbesondere im Zusammenhang mit stressbedingten Belastungen, angesichts seiner immer wieder auftretenden, verschiedenartigen gesundheitlichen Probleme hat der Sachverständige überzeugend dahin beantwortet, dass eine solche Anfälligkeit im medizinischen Sinne nicht feststellbar sei, weil keine anatomischen Vorbefunde oder Korrelate vorhanden gewesen seien. Der Sachverständige hat sich konsequenterweise deshalb auch nicht in der Lage gesehen, konkrete Aussagen darüber zu treffen, ob sich aus einer Zusammenschau der früheren familiären Konfliktsituation bzw. einer daraus folgenden psychosozialen Belastung und seinen Krankheitszeiten Hinweise auf eine generelle Anfälligkeit insbesondere im Zusammenhang mit stressbedingten Belastungen ergeben. Die hohe Anzahl von Arbeitsunfähigkeitstagen bei einem gerade 22 Jahre alten Mann bei mittelschwerer Tätigkeit sei nicht normal, aber aufgrund der medizinischen Befunde könne nicht auf eine Grundanfälligkeit geschlossen werden. Dies gilt dem Sachverständigen zufolge ungeachtet der langen stressbedingten Erkrankung des Klägers nach der Kündigung, weil insoweit nach dem vorliegenden ärztlichen Befund von einer agitierten depressiven Episode als Reaktion auf die Kündigung auszugehen sei, also von einer "reaktiven" Erkrankung, deren Folgen - so der Sachverständige sinngemäß - bewältigt seien. Dass die anderen Erkrankungen des Klägers nach Ausspruch der Kündigung die Prognose des Arbeitgebers, es würden auch in Zukunft erhebliche Fehlzeiten auftreten, nicht zu rechtfertigen vermag, hat der Sachverständige plausibel auf die Art dieser Erkrankungen - akute Infektion der oberen Atemwege, klassische Migräne sowie Krankenhauseinweisung wegen eines Abzesses - erklärt.

Abschließend hat der Sachverständige betont, er habe nicht formuliert, der Kläger sei zum Zeitpunkt der Kündigung gesund und weitere Erkrankungen nicht zu erwarten gewesen. Vielmehr gehe es um eine medizinisch begründete Vorausschau mit Wahrscheinlichkeit. Medizinisch gesehen sei - ungeachtet der Krankschreibungen durch die Ärzte - im Zeitpunkt der Kündigung nicht mit Wahrscheinlichkeit mit weiteren häufigen Erkrankungen im bisherigen Umfang zu rechnen gewesen.

Alles in allem vermag die Berufungskammer die von der Beklagten geäußerte und durch Vorlage der gutachterlichen Stellungnahme des Leitenden Oberarztes Dr. R. S. untermauerte Kritik am gerichtlich eingeholten Sachverständigengutachten nicht zu teilen. Die häufigen und umfangreichen Krankschreibungen des Klägers lassen für sich genommen nicht auf eine objektive, d. h. medizinisch begründete negative Gesundheitsprognose schließen. Eine andere Frage ist, ob der Kläger nicht in Einzelfällen oder generell seinen Gesundheitszustand gegenüber dem jeweils behandelnden Arzt dramatisch dargestellt hat, um eine Krankschreibung zu erreichen, und ob die Krankschreibungen durch die Ärzte immer medizinisch gerechtfertigt waren. Daran bestehen im vorliegenden Falle erhebliche Zweifel. Dies ändert jedoch nichts daran, dass eine objektive negative Gesundheitsprognose auf medizinisch greifbaren Tatsachen beruhen muss. Verhaltensweisen des Arbeitnehmers, die letzten Endes auf ein Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit hinauslaufen oder Umstände, die ein nicht mehr vertretbares Krankschreibungsverhalten der Ärzte nahe legen, lassen sich nicht mit dem Mittel der personenbedingten Kündigung sanktionieren.

2. Der Auflösungsantrag der Beklagten ist unbegründet, weil keine Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit der Parteien nicht erwarten ließen.

Zum einen bestehen keinerlei konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger diverse Male versucht hat, die Beklagte über seinen Gesundheitszustand bzw. die Art und Ursache seiner Erkrankungen zu täuschen. Soweit die Beklagte dies damit begründet hat, der Kläger habe unvollständige Erläuterungen gegeben und widerstrebend - dazu noch ungenaue - Angaben zu seinem Gesundheitszustand gemacht, ist darauf hinzuweisen, dass der Kläger, zumal als medizinischer Laie und nicht aus einem bildungsbürgerlichen Milieu stammender Arbeitnehmer, geradezu ein Erinnerungswunder wäre, hätte er sich von Anbeginn des Prozesses an sämtliche Krankheitszeiten, deren Ursachen und die jeweils behandelnden Ärzte erinnert. Es ist mehr als natürlich, dass sich ein Arbeitnehmer entsprechend dem Fortschreiten des gerichtlichen Verfahrens und einer in diesem Verfahren auftretenden Steigerung seiner prozessualen Mitwirkungspflicht, zunehmend genauer mit seinem gesundheitlichen Zustand und seiner Krankheitsgeschichte befasst, entsprechend recherchiert und - beraten und begleitet durch seinen Prozessbevollmächtigten - erst nach und nach in der Lage ist, genauere Angaben zu machen. Dies ist ihm nicht vorzuwerfen und kann schon gar nicht als Täuschung bezeichnet werden. Abgesehen davon ist eine gewisse Zögerlichkeit insoweit verständlich. Denn niemand legt gegenüber einem Dritten gerne seinen gesundheitlichen Zustand rückhaltlos offen; dies gilt insbesondere im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Denn immerhin geht es hier um hochsensible personenbezogene Daten und um die Frage bzw. Befürchtung, ob der betreffende Arbeitnehmer als "low perfomer" nicht alsbald erneut einer Kündigung, z. B. wegen dauernder Leistungsunfähigkeit, ausgesetzt sein wird.

Auch eine "widerstrebende" Schweigepflichtentbindung ist nicht ersichtlich. Im Gegenteil: Der Kläger hat frühzeitig und unaufgefordert bereits im ersten Rechtszug mit Schriftsatz vom 14.09.2005 umfängliche Schweigepflichtentbindungen vorgenommen und damit, entsprechend dem damaligen Verfahrensstand, seiner prozessualen Mitwirkungspflicht genügt. Er hat, im Gegensatz zur Bewertung der Beklagten, generell stets an der Aufklärung des Sachverhalts offensiv mitgewirkt.

Auch "bewusst falsche Angaben" des Klägers zu den Ursachen seiner Erkrankungen sind nicht erkennbar. Aus einer anderen subjektiven Bewertung der Ursachen dieser Erkrankungen durch den Kläger - familiäre Belastungen - als sie der Sachverständige vorgenommen hat, ist nicht auf eine bewusste Fehlinformation zu schließen. Dies liegt nicht nur daran, dass der Kläger als medizinischer Laie gar nicht in der Lage war, die medizinischen Ursachen seiner Erkrankungen korrekt zu beurteilen. Vielmehr ist es auch für die Berufungskammer naheliegend anzunehmen, dass die zeitweise extrem belastende familiäre Situation, also psychosozialen Umstände, mitursächlich für die hohen Fehlzeiten des Klägers waren. Auch der Sachverständige hat dies nicht ausgeschlossen, sondern lediglich wiederholt darauf hingewiesen, dass mangels medizinischer Befunde über einen solchen Zusammenhang keine medizinisch begründete, also belastbare Aussage getroffen werden könne. Wenn die Beklagte dem Kläger also Widersprüche zwischen seiner Schilderung der Ursachen der hohen Fehlzeiten und den ärztlichen Befunden bzw. den Feststellungen des Sachverständigen vorwirft, bleibt festzuhalten, dass - soweit solche Widersprüche überhaupt bestehen - diese allenfalls auf einer naheliegenden laienhaften Bewertung medizinischer Sachverhalte beruhen, wie sie beispielsweise auch dem Gericht unterlaufen könnte. Gerade deshalb war die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens geboten.

Alles in allem kann keine Rede davon sein, dass der Kläger jede Basis einer vertrauensvollen Zusammenarbeit durch Aufstellung unrichtiger Behauptungen in einem Prozess zerstört hätte. Diese Wertung stellt eine unzulässige Dramatisierung dar.

3. Die Beklagte hat gemäß § 91 Abs. 1 ZPO die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

4. Die Revision wird nicht zugelassen. Auf die Möglichkeit, Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht zu erheben, wird hingewiesen.

Ende der Entscheidung

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