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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht München
Urteil verkündet am 28.04.2004
Aktenzeichen: 5 Sa 1380/03
Rechtsgebiete: BetrVG


Vorschriften:

BetrVG § 1
BetrVG § 4
1. Wird bei einer Betriebsratswahl irrtümlich ein selbstständiger Betriebsteil iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG angenommen und deswegen nur in dem vermeintlichen Hauptbetrieb ein Betriebsrat gewählt, so ist dieser Betriebsrat trotzdem für den ganzen Betrieb zuständig.

2. Die Betriebsratsfähigkeit iSv. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG hängt von der Betriebszugehörigkeit der Arbeitnehmer zur Zeit der Betriebsratswahl ab.

3. Diese Betriebszugehörigkeit wird weder durch die Elternzeit iSd. §§ 15 ff. BerzGG noch durch den künftigen Eintritt in den Ruhestand eines Arbeitnehmers in Frage gestellt.

4. Der Wegfall der Betriebsratsfähigkeit eines Betriebsteils nach dem für die Betriebsratswahl maßgeblichen Zeitpunkt führt nicht zur automatischen Zuständigkeit des im Hauptbetrieb gewählten Betriebsrats, gleichviel, ob in dem Betriebsteil ein Betriebsrat gewählt worden war oder nicht.


LANDESARBEITSGERICHT MÜNCHEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

5 Sa 1380/03

Verkündet am: 28. April 2004

In dem Rechtsstreit

hat die Fünfte Kammer des Landesarbeitsgerichts München auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 31. März 2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Bachmann sowie die ehrenamtlichen Richter Riel und Fackler für Recht erkannt:

Tenor:

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 06.10.2003 - 22 Ca 13230/03 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin macht die Unwirksamkeit einer betriebsbedingten Änderungskündigung geltend.

Die Beklagte betreibt eine Maschinenfabrik. Ursprünglich war der Sitz des ganzen Betriebs in M.. Im Laufe der Zeit verlagerte die Beklagte die Fertigung und auch andere Funktionen nach R. in der Nähe von Cham. Von den insgesamt etwa 160 Arbeitnehmern waren bis zum 31.10.2002 noch fünf Arbeitnehmer der M. Betriebsstätte zugeordnet. Davon waren vier Arbeitnehmer aktiv tätig. Darunter war auch die Klägerin. Die Arbeitnehmerin G. war in Elternzeit. Vorgesetzter der M. Arbeitnehmer war der ebenfalls der M. Betriebsstätte zugeordnete Vertriebsleiter.

Im April 2002 wurde in R. ein Betriebsrat gewählt. In M. wurde kein Betriebsrat gewählt. Die M. Arbeitnehmer waren auch nicht an der Betriebsratswahl in R. beteiligt.

Der M. Arbeitnehmer Bosch trat vertragsgemäß mit 31.10.2002 in den Ruhestand, so dass der M. Betriebsstätte ab 01.11.2002 nur noch vier Arbeitnehmer zugeordnet waren.

Am 18.06.2003 beschloss die Gesellschafterversammlung der Beklagten, dass "die Betriebsstätte M. ... aus wirtschaftlichen Gründen zum 31. Dez. 2003 aufgelöst" wird. Dementsprechend kündigte die Beklagte allen M. Arbeitnehmern mit Ausnahme der Arbeitnehmerin G. wegen deren Sonderkündigungsschutzes. Die Beklagte sprach diese Kündigungen aus, ohne vorher den in R. gewählten Betriebsrat gehört zu haben.

Der Klägerin kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 23.06.2003 zum 31.01.2004 mit dem Angebot, ab 02.02.2004 "zu gleichen arbeitsvertraglichen Konditionen in der Betriebsstätte R. weiterzuarbeiten." Dieses Angebot lehnte die Klägerin jedoch ab.

Mit ihrer Kündigungsschutzklage hat die Klägerin geltend gemacht, dass die Kündigung vom 23.06.2003 gemäß § 1 KSchG und § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam sei.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage nach Beweisaufnahme durch das Urteil vom 06.10.2003 abgewiesen. Im Übrigen wird - einschließlich des Sach- und Rechtsvortrags im ersten Rechtszug - auf dieses Urteil Bezug genommen.

Im Wege der Berufung macht die Klägerin nur noch geltend, dass die streitige Kündigung mangels Anhörung des Betriebsrats gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam sei, weil der in R. gewählte Betriebsrat auch für die M. Arbeitnehmer zuständig gewesen sei.

Die Klägerin beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 23.06.2003 nicht aufgelöst worden ist.

Die Beklagte hält die Berufung für unschlüssig.

Hinsichtlich des sonstigen Sach- und Rechtsvortrags der Parteien im Berufungsrechtzug wird auf die Schriftsätze der Klägerin vom 18.12.2003, 27.02.2004 und 15.03.2004 und der Beklagten vom 22.01. und 29.03.2004 Bezug genommen. Nach dem Schluss der Berufungsverhandlung hat die Beklagte noch den Schriftsatz vom 20.04.2004 eingereicht.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Das Arbeitsgericht hat die Kündigungsschutzklage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die streitige Kündigung ist aus keinem Grunde unwirksam.

Die Kündigung ist nicht gemäß § 1 Abs. 1 KSchG unwirksam, weil sie gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt und damit sozial gerechtfertigt ist. Die Kündigung ist sozial gerechtfertigt, weil die Klägerin wegen der Auflösung der M. Betriebsstätte nur mehr in R. hätte weiterbeschäftigt werden können, das diesbezügliche Angebot der Beklagten aber abgelehnt hat. Das war - wohl mit Rücksicht auf das Ergebnis der vom Arbeitsgericht durchgeführten Beweisaufnahme über den Gesellschafterbeschluss über die Auflösung der M. Betriebsstätte - im Berufungsrechtszug nicht mehr streitig und bedarf daher keiner weiteren Begründung.

Die Kündigung ist auch nicht gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam, weil der von den in R. beschäftigten Arbeitnehmern gewählte Betriebsrat nur für diese Arbeitnehmer zuständig ist und daher vor der streitigen Kündigung der in M. beschäftigten Klägerin nicht gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG gehört werden musste.

Das ergibt sich allerdings entgegen dem angefochtenen Urteil nicht unabhängig davon, "ob in M. im Zeitpunkt der Betriebsratswahl in R. Betriebsratsfähigkeit vorlag oder nicht", allein schon daraus, dass die M. Arbeitnehmer "bei der Einleitung der Betriebsratswahl in R. nicht in die dortige Wählerliste aufgenommen worden" sind und "auch nicht an der Betriebsratswahl in R. teilgenommen" haben. Vielmehr hätte der in R. gewählte Betriebsrat trotzdem vor der Kündigung der M. Arbeitnehmer gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG gehört werden müssen, wenn die M. Betriebsstätte schon zurzeit der Betriebsratswahl gar nicht betriebsratfähig gewesen wäre (vgl. BAG 03.12.1985 AP BetrVG 1972 § 99 Nr. 28, insbes. zu B II 2 der Gründe).

Der in R. gewählte Betriebsrat musste aber deswegen vor der Kündigung der M. Arbeitnehmer nicht gehört werden, weil es sich bei der Betriebsstätte in M. zum Zeitpunkt der Betriebsratswahl im April 2002 zwar nicht um einen selbstständigen und betriebsratsfähigen Betrieb iSv. § 1 BetrVG gehandelt, die M. Betriebsstätte aber gemäß § 4 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG als selbstständiger und betriebsratsfähiger Betrieb gegolten hat, für den der Betriebsrat in R. daher zu Recht nicht gewählt worden ist und für den dieser Betriebsrat auch später nicht zuständig geworden ist.

Bei der Betriebsstätte in M. hat es sich um einen Betriebsteil iSv. § 4 Abs. 1 Satz 1 BetrVG gehandelt. Ein solcher Betriebsteil setzt allerdings entgegen der Auffassung der Beklagten in erster Linie voraus, dass es sich um eine abgrenzbare organisatorische Einheit handelt (vgl. BAG 25.09.1986 AP BetrVG 1972 § 1 Nr. 7) und "dass dort überhaupt eine den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende Leitung institutionalisiert ist und von dieser das Weisungsrecht des Arbeitgebers ausgeübt wird" (so BAG 20.06.1995 AP BetrVG 1972 § 4 Nr. 8). Dafür genügt aber "ein Mindestmaß an organisatorischer Selbstständigkeit gegenüber dem Hauptbetrieb", die schon dann gegeben ist, wenn in der organisatorischen "Einheit wenigstens eine Person mit Leitungsmacht vorhanden ist, die überhaupt Weisungsrechte des Arbeitgebers ausübt" (vgl. BAG 19.02.2002 EzA BetrVG 1972 § 4 Nr. 8, zu B II 1 der Gründe). Diese Voraussetzungen waren bei der Betriebsstätte in M. gegeben. Diese Betriebsstätte war schon wegen ihres Sitzes in M. und der ihr dort zugeordneten Arbeitnehmer eine gegenüber dem Hauptbetrieb in R. abgrenzbare organisatorische Einheit. Und die außerdem erforderliche Leitungsbefugnis wurde naturgemäß von dem ebenfalls dieser Einheit zugeordneten Vertriebsleiter als Vorgesetzter der dieser Einheit zugeordneten Arbeitnehmer wahrgenommen.

Zweifelsfrei war auch die gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BetrVG erforderliche räumlich weite Entfernung des M. Betriebsteils vom Hauptbetrieb in R. gegeben.

Schließlich waren zurzeit der Betriebsratswahl im April 2002 auch die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG erfüllt, wonach nur in Betrieben "mit in der Regel mindestens fünf ständig wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind, ... Betriebsräte gewählt" werden. Diese Betriebsratsfähigkeit war zur maßgeblichen Zeit der Betriebsratswahl in dem Betreibsteil in M. angesichts der diesem Betreibsteil zugeordneten fünf Arbeitnehmer erfüllt.

Die Elternzeit der Arbeitnehmerin G. ändert daran nichts, weil es gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG nur auf die Zugehörigkeit der Arbeitnehmer zum Betrieb ankommt und diese Zugehörigkeit jedenfalls nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass die Hauptpflichten aus einem Arbeitsverhältnis wegen einer Elternzeit iSd. §§ 15 ff. BerzGG gerade ruhen (vgl. Richardi/Thüsing BetrVG 8. Aufl. § 7 Rn. 48).

Und der zum 31.10.2002 anstehende Ruhestandstermin des Arbeitnehmers Bosch hat an der Betriebsratsfähigkeit des Betriebsteils M. zurzeit der Betriebsratswahl im April 2002 deswegen nichts geändert, weil zu dieser - maßgeblichen - Zeit dem M. Betriebsteil noch fünf ständige Arbeitnehmer zugehörig waren.

Diese Arbeitnehmer haben nicht gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 BetrVG auf Grund eines entsprechenden Beschlusses an der Wahl des Betriebsrats im Hauptbetrieb R. teilgenommen, obwohl sie das gerade mit Rücksicht auf den durch den Eintritt des Arbeitnehmers B. in den Ruhestand drohenden Verlustes der Betriebsratsfähigkeit hätten tun können.

Dementsprechend hat auch der durch den Eintritt des Arbeitnehmers B. in den Ruhestand per 31.10.2002 bewirkte Wegfall der Betriebsratsfähigkeit des M. Betriebsteils nicht zu einer automatischen Zuständigkeit des im Hauptbetrieb gewählten Betriebsrats für die M. Arbeitnehmer geführt, zumal es für eine solche Zuständigkeit an der erforderlichen demokratischen Legitimation und einer besonderen gesetzlichen Zuständigkeitsregelung mangelt. Insoweit gilt nichts anders, als wenn im April 2002 im M. Betriebsteil tatsächlich ein Betriebsrat gewählt worden wäre. Dann wäre mit dem Eintritt des Arbeitnehmers B. in den Ruhestand die Betriebsratsfähigkeit des M. Betriebsteils auch weggefallen und hätte das Betriebsratsamt geendet, ohne dass es zu einer automatischen Zuständigkeit des im Hauptbetrieb gewählten Betriebsrats für die M. Arbeitnehmer gekommen wäre.

Dieses Urteil ist gemäß § 72 Abs. 1 ArbGG unanfechtbar, wenn nicht das Bundesarbeitsgericht die Revision gemäß § 72 a ArbGG zulässt.

Ende der Entscheidung

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