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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht München
Urteil verkündet am 28.01.2004
Aktenzeichen: 9 Sa 826/03
Rechtsgebiete: BAT


Vorschriften:

BAT § 55
1. Eine außerordentliche Kündigung ist gegenüber einem nach § 55 BAT ordentlich unkündbaren Arbeitnehmer nur in extremen Ausnahmefällen möglich. Erforderlich ist, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten nicht weiterbeschäftigen kann.

2. Entfällt die Weiterbeschäftigungsmöglichkeit wegen Vorgabe der Tätigkeit nach Außen, so kann der Arbeitgeber verpflichtet sein zu klären, ob der Auftragnehmer bereit ist, den Arbeitnehmer im Rahmen eines Gestellungsvertrages zu beschäftigen.


LANDESARBEITSGERICHT MÜNCHEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

9 Sa 826/03

Verkündet am: 28. Januar 2004

In dem Rechtsstreit

hat die neunte Kammer des Landesarbeitsgerichts München auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 17. Dezember 2003 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Dunkl sowie die ehrenamtlichen Richter R. und J. für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Endurteil des Arbeitsgerichtes München vom 6.5.2003 - 25 Ca 11058/02 - in Ziffer 1 und 2 des Tenors abgeändert:

1. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 28.8.2002 nicht aufgelöst wurde.

2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreites zu tragen.

II. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen betriebsbedingten Kündigung.

Der Kläger, geboren am 3.7.1953, von Beruf Diplomchemiker, ist seit 1.2.1987 beim Beklagten gemäß dem schriftlichen Arbeitsvertrag vom 17.12.1986/2.2.1987 als "wissenschaftlicher Mitarbeiter" beschäftigt. In Ziffer 6 dieses Arbeitsvertrages ist vereinbart, dass "für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses die Vorschriften des Bundesangestelltentarifvertrages bzw. die gesetzlichen Bestimmungen" gelten.

Aufgabe des Klägers ist gemäß Ziffer 1 des Arbeitsvertrages: Betreuung der Untersuchung von Doping-Proben einschließlich Durchführung der Analytik und Entwicklungsarbeiten".

Der Beklagte ist zuständig für Traber- Zucht und -Rennen. Insoweit ist es auch Aufgabe des Beklagten, bei durchgeführten Rennen Dopingproben zu nehmen und zu analysieren. Zur Durchführung dieser Aufgaben hat der Beklagte im Dezember 1987 einen Vertrag mit dem Institut für P. der U., vertreten durch den Vorstand Prof. Dr. S., abgeschlossen. Danach übernimmt Prof. Dr. S. für den Beklagten Untersuchungen von Blutproben von Trabrennpferden, so genannte Doping-Analysen. Nach Ziffer 5 dieses Vertrages trägt die Personalkosten für die Mitarbeiter zur Durchführung der Doping-Analysen, darunter auch der Kläger, der Beklagte. Dementsprechend wurde vom Beklagten auch der Arbeitsvertrag vom 17.12.1986/2.2.1987 mit dem Kläger abgeschlossen.

Die Beklagte hatte den Vertrag mit dem Institut für P. der U. zum 31.12.2002 gekündigt. Ab dem 1.1.2003 lässt der Beklagte die Doping-Analytik von der Firma P. in Planegg durchführen. Herr Prof. Dr. S. ist Geschäftsführer dieser Firma und führt in dieser Eigenschaft die Doping-Proben für den Beklagten durch, und zwar im selben Labor in der Tiermedizinischen Fakultät der U., Institut für P., das er nach wie vor leitet.

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 13.6.2002 das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger "fristgerecht" zum 31.12.2002 gekündigt.

Ferner hat der Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger durch Schreiben vom 28.8.2002 "außerordentlich mit ordentlicher Kündigungsfrist" gekündigt.

Der Kläger hat gegen beide Kündigungen innerhalb von drei Wochen nach Zugang Klage zum Arbeitsgericht München erhoben; die Verfahren 25 Ca 11058/02 und 25 Ca 15249/02 wurden am 10.12.2002 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Im Termin vom 6.5.2003 erging ein Teil-Anerkenntnisurteil auf Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 13.6.2002 nicht aufgelöst wurde. Dieses Teil-Anerkenntnisurteil ist rechtskräftig.

Ferner hat das Arbeitsgericht München am 6.5.2003 ein Schlussurteil erlassen und die Klage gegen die außerordentliche Kündigung vom 28.8.2002 abgewiesen.

Das Arbeitsgericht hat zur Begründung ausgeführt, das Arbeitsverhältnis sei durch die außerordentliche Kündigung vom 28.8.2002 zum 31.3.2003 beendet worden. Nach § 53 Abs. 3 BAT i.V.m. § 6 des Arbeitsvertrages sei zwar die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen, nicht jedoch die in § 54 BAT geregelte außerordentliche Kündigung. Diese sei auch gegenüber einem tariflich unkündbaren Arbeitnehmer aus betriebsbedingten Gründen ausnahmsweise unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist zulässig, wenn der Arbeitsplatz des Arbeitnehmers weggefallen sei und der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch unter Einsatz aller zumutbaren Mittel, ggf. auch Umorganisation seines Betriebes, nicht weiterbeschäftigen könne. Diese Voraussetzungen lägen vor. Der Beklagte habe sich im Februar 2002 entschieden, zum Jahresende sein Doping-Institut zu schließen; somit habe er ab 1.1.2003 keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr für den Kläger gehabt.

Bezüglich des Vorbringens der Parteien im ersten Rechtszug, der von ihnen gestellten Anträge und der rechtlichen Erwägungen des Arbeitsgerichtes im Einzelnen wird auf den Inhalt des Schlussurteiles des Arbeitsgerichtes München vom 6.5.2003 (Bl. 50 - 58 d. A.) verwiesen.

Der Kläger hat gegen dieses Schlussurteil, das ihm am 25.6.2003 zugestellt wurde, am 23.7.2003 Berufung eingelegt und diese am 15.9.2003 innerhalb der bis 24.9.2003 verlängerten Frist auch begründet.

Der Kläger trägt im Berufungsverfahren vor, der Ausnahmefall für eine betriebsbedingte außerordentliche Änderungskündigung liege nicht vor. Auch nach der Kündigung des Vertrages mit dem Institut für P. würden weiterhin sämtliche Doping-Proben dort von Herrn Prof. Dr. S. durchgeführt. Dieser führe also die Doping-Proben lediglich in einer anderen rechtlichen Form weiter durch. Es sei also letztlich nicht die Beschäftigungsmöglichkeit entfallen, sondern die eigenen Beschäftigten seien durch fremde Arbeitnehmer ersetzt worden; dies sei eine unwirksame "Austauschkündigung".

Bezüglich des Vorbringens des Klägers im Berufungsverfahren wird auf den Inhalt des Schriftsatzes des Klägers vom 15.9.2003 (Bl. 76 - 81 d. A.) verwiesen.

Der Kläger beantragt im Berufungsverfahren

1. Das Endurteil des Arbeitsgerichtes München vom 6.5.2003 wird abgeändert.

2. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auch durch die außerordentliche Kündigung des Beklagten vom 28.8.2002 nicht beendet worden ist.

Der Beklagte beantragt dagegen

die kostenpflichtige Zurückweisung der Berufung und trägt vor, wesentliches Motiv für die unternehmerische Entscheidung, ab 1.1.2003 keine Doping-Analysen mehr mit eigenen Mitarbeitern durchzuführen, seien einerseits wegbrechende Einnahmen des Beklagten gewesen, andererseits die Tatsache, dass von Seiten der Mitglieder des Beklagten zur Vermeidung von Glaubwürdigkeitsdefiziten an den Beklagten herangetragen wurde, Doping-Analysen nicht im eigenen Haus durchzuführen, sondern diese von unabhängigen Dritten durchführen zu lassen. Es seien dann mehrere Institute aufgefordert worden, auf der Grundlage des Anforderungsprofiles Angebote abzugeben. In seiner Sitzung vom 5.10.2002 habe der Vorstand des Beklagten beschlossen, ab 1.1.2003 die Doping-Analytik von der Firma P. durchführen zu lassen. Der Beklagte unterhalte somit seit 1.1.2003 weder in München noch anderswo tiermedizinische Einrichtungen, in denen der Kläger eingesetzt werden könnte. Eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für den Kläger sei seit diesem Zeitpunkt vollständig entfallen. Es werde nicht in Abrede gestellt, dass sich die Firma P. der U. bediene, was jedoch rechtsstreitunerheblich sei. Festzustellen sei, dass der Beklagte seit dem 1.1.2003 sämtliche Doping-Analysen an einen außen stehenden Vertragspartner vergeben habe und nicht mehr mit eigenen Mitarbeitern die Doping-Analyse betreibe.

Bezüglich des weiteren Vorbringens der Beklagten im Berufungsverfahren wird auf den Inhalt des Schriftsatzes vom 13.10.2003 (Bl. 82 - 88 d. A.) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers gegen das Schlussurteil des Arbeitsgerichtes München vom 6.5.2003 ist zulässig und auch begründet. Die außerordentliche Kündigung vom 28.8.2002 ist gemäß §§ 626 BGB, 55 BAT rechtsunwirksam.

1. Kraft arbeitsvertraglicher Vereinbarung sind für die Kündigung des Arbeitsverhältnisses die Vorschriften des BAT anwendbar, also die §§ 53 bis 55 BAT. Der Kläger ist nach § 53 Abs. 3 BAT ordentlich unkündbar, da er länger als 15 Jahre beim Beklagten beschäftigt ist und das 40igste Lebensjahr vollendet hat.

2. Nach dem Wortlaut des § 55 BAT ist an sich eine außerordentliche betriebsbedingte Beendigungskündigung ausgeschlossen. Gemäß § 55 Abs. 1 BAT kann einem nach § 53 Abs. 3 BAT ordentlich unkündbaren Angestellten aus in seiner Person oder seinem Verhalten liegenden wichtigen Gründen fristlos gekündigt werden. Nach § 55 Abs. 2 Unterabs. 1 BAT berechtigen andere wichtige Gründe, insbesondere dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Weiterbeschäftigung des Angestellten entgegenstehen, den Arbeitgeber nicht zur Kündigung. In diesen Fällen kann der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis jedoch, wenn eine Beschäftigung zu den bisherigen Vertragsbedingungen aus dienstlichen Gründen nachweisbar nicht möglich ist, zum Zwecke der Herabgruppierung um eine Vergütungsgruppe kündigen. Damit ist jedoch nicht die außerordentliche Beendigungskündigung aus betrieblichen Gründen nach § 626 BGB in jedem denkbaren Fall ausgeschlossen. Das BAG hat mehrfach entschieden, dass die Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung aus wichtigem Grund in einem Dauerschuldverhältnis nicht völlig beseitigt werden kann und deshalb Fälle denkbar sind, in denen auch im Rahmen des § 55 BAT eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung mit notwendiger Auslauffrist nach § 626 BGB in Betracht kommen kann (vgl. BAG vom 5.2.1988 AP Nr. 143 zu § 626 BGB; vom 17.9.1998 AP Nr. 148 zu § 626 BGB; vom 27.6.2002 AP Nr. 4 zu § 55 BAT). Die Anforderungen an die Wirksamkeit einer betriebsbedingten außerordentlichen Kündigung nach § 626 BGB gegenüber einem nach § 55 BAT unkündbaren Angestellten sind jedoch ganz erheblich. Eine derartige betriebsbedingte Kündigung ist nur in extremen Ausnahmefällen möglich. Wenn in Extrem-Fällen eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung auch im Anwendungsbereich des § 55 BAT zulässig ist, so bedeutet dies nicht, dass nunmehr jede Umorganisation oder Schließung einer Teileinrichtung mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen entgegen § 55 Abs. 2 BAT zu einer außerordentlichen Kündigung führen kann. Entsprechend Sinn und Zweck der Tarifvorschrift müssen die Anforderungen an eine derartige außerordentliche Kündigung ganz erheblich sein. Es kann nur darum gehen, auch unter Berücksichtigung der Annäherung des Arbeitsverhältnisses an ein Beamtenverhältnis zu verhindern, dass ein sinnentleertes Arbeitsverhältnis über einen langen Zeitraum hinweg allein noch durch Gehaltszahlungen aufrechterhalten wird und dadurch der Arbeitgeber in erhebliche, vor allem finanzielle Schwierigkeiten gerät (BAG AP Nr. 4 zu § 55 BAT). Eine betriebsbedingte Beendigungskündigung kann unter diesen Voraussetzungen nur gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer auch unter Einsatz aller zumutbaren Mittel nicht weiterbeschäftigten kann (vgl. BAG AP Nr. 143 zu § 626 BGB) und alle bestehenden Möglichkeiten ausgeschöpft hat und die außerordentliche Beendigungskündigung das allerletzte Mittel zur Lösung des Konfliktes darstellt (vgl. BAG AP Nr. 4 zu § 55 BAT).

3. Im vorliegenden Falle hat der Beklagte nicht alle bestehenden und zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft. Zwar ist der Beklagte in seiner Unternehmerentscheidung, die Doping-Analytik nicht mehr selbst durchzuführen, sondern nach außen an ein Unternehmen zu vergeben, grundsätzlich frei und damit ist auch für den Beklagten die Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung des Klägers in einem eigenen Doping-Institut entfallen. Da aber nicht die Aufgabe, nämlich die Doping-Analytik, entfallen ist, mit der der Kläger bisher beschäftigt war, hätte der Beklagte zumindest den Versuch unternehmen müssen, bei der Vergabe der Doping-Analytik mit den potenziellen Auftragnehmern zu verhandeln, ob der Kläger vom Auftragnehmer in ein Arbeitsverhältnis mit seiner bisherigen Tätigkeit zu denselben oder ggf. geänderten Arbeitsbedingungen übernommen wird, oder ob der Auftragnehmer bereit ist, den Kläger im Rahmen eines so genannten Gestellungsvertrages mit dem Beklagten zu beschäftigen. Da der Beklagte zumindest diesen Versuch nicht unternommen hat, hat er nicht alle ihm zumutbaren und möglichen Mittel zur Vermeidung der an sich gemäß § 55 BAT unzulässigen betriebsbedingten Beendigungskündigung angewendet. Hierdurch wäre vom Beklagten nichts Unzumutbares verlangt worden. Wenn der Versuch mit allen möglichen Auftragnehmern gescheitert wäre, hätte der Beklagte immer noch - nun als letztes Mittel - die außerordentliche Beendigungskündigung aussprechen können.

Dass auch das BAG den Arbeitgeber vor Ausspruch einer außerordentlichen Beendigungskündigung in Abweichung von § 55 BAT als verpflichtet ansieht, sich um eine Weiterbeschäftigung des unkündbaren Arbeitnehmers bei einem anderen Arbeitgeber zu bemühen, kann unschwer aus dem Urteil vom 27.6.2002 AP Nr. 4 zu § 55 BAT entnommen werden. In diesem Falle war nämlich das BAG der Auffassung, dass es dem Arbeitgeber zumutbar ist, die Weiterbeschäftigung eines Musiklehrers, eventuell auch durch einen Gestellungsvertrag, bei einem Übernehmer der Musikschule sicherzustellen.

Das Berufungsgericht kommt somit zu der Wertung, dass die außerordentliche Kündigung vom 28.8.2002 wegen Verstoßes gegen das Ultima Ratio Prinzip nicht gerechtfertigt ist und das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet hat.

4. Das klageabweisende Schlussurteil des Arbeitsgerichtes München vom 6.5.2003 war somit abzuändern und der Klage stattzugeben.

Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreites zu tragen, § 91 Abs. 1 ZPO.

Gegen dieses Urteil kann der Beklagte Revision zum Bundesarbeitsgericht einlegen.

Für den Kläger ist gegen dieses Urteil kein Rechtsmittel gegeben.

Ende der Entscheidung

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