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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschluss verkündet am 29.07.2008
Aktenzeichen: 1 TaBV 47/08
Rechtsgebiete: ArbGG, BetrVG


Vorschriften:

ArbGG § 98
BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 2
Eine bestehende Betriebsvereinbarung zum Regelungsgegenstand steht im Rahmen der "Offensichtlichkeitsprüfung" des § 98 ArbGG einer Anrufung der Einigungsstelle nur dann nicht entgegen, wenn sie bereits gekündigt ist und Verhandlungen zwischen den Betriebspartnern keine Ergebnisse zeitigen oder die geschlossene Betriebsvereinbarung nicht abschließend und ergänzungsbedürftig ist.
LANDESARBEITSGERICHT NIEDERSACHSEN IM NAMEN DES VOLKES BESCHLUSS

1 TaBV 47/08

In dem Beschlussverfahren

hat die 1. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen aufgrund der Anhörung am 29. Juli 2008 durch den Präsidenten des Landesarbeitsgerichts Prof. Dr. Lipke beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde des Betriebsrats und Bet. zu 2) gegen den am 15. April 2008 verkündeten Beschluss des Arbeitsgerichts Lüneburg - 3 BV 1/08 - wird zurückgewiesen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob eine Einigungsstelle zur Regelung der Arbeitszeit der in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer in der Filiale der Arbeitgeberin und Beteiligten zu 1) in L. einzusetzen ist. Der Betriebsrat und Beteiligte zu 2) vertritt den Rechtsstandpunkt, dass die von der Arbeitgeberin und Beteiligten zu 1) am 22. September 2006 zum 31. Dezember 2006 gekündigte Betriebsvereinbarung über die Jahresarbeitszeit- und Freizeitmodelle (Bl. 4 bis 6, 8 d. A.) auf Grund einer ergänzenden Vereinbarung vom 20. November 2006 (Bl. 53 d. A.) fortgelte. Damit sei - mangels einer erneuten Kündigung der Arbeitgeberin - die angerufene Einigungsstelle wegen einer bestehenden Arbeitszeitregelung offensichtlich unzuständig sei.

Auf die Anhörung vom 2. April 2008 hat das Arbeitsgericht Lüneburg am 15. April 2008 einen Beschluss verkündet, wonach dem arbeitgeberseitigen Antrag entsprechend eine Einigungsstelle über "Verhandlung und Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Regelung der Arbeitszeit der in Vollzeit beschäftigten Arbeitnehmer/innen des Betriebs L. einschließlich Gastronomie mit Ausnahme Abteilungsleiter, Assistenten und Auszubildenden" einzusetzen ist. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, dass eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle im Blick auf das Bestehen einer Betriebsvereinbarung nicht anzunehmen sei, wenn deren Wirksamkeit - wie vorliegend die Vereinbarung vom 20. November 2006 -, angezweifelt werde. Gegen die Qualität dieser Vereinbarung als Betriebsvereinbarung spreche, dass sie nicht in der gehörigen Form abgefasst worden sei und eine körperliche Verbindung mit der vermeintlich wieder in Kraft gesetzten Betriebsvereinbarung vom 31. Dezember 2005 fehle. Dem sei aber nicht weiter nachzugehen, da es nicht die Aufgabe des Gerichts sei hierüber abschließend zu befinden. Die aufgezeigten Zweifel könnten jedenfalls eine offensichtliche Unzuständigkeit der beantragten Einigungsstelle nicht zur Folge haben. Im Interesse der zügigen Einsetzung der Einigungsstelle müsse diese selbst überprüfen, ob eine bestehende Betriebsvereinbarung der Regelung der Arbeitszeit im Wege stünde. Zur Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung im Einzeln und zum Vorbringen der Beteiligten im ersten Rechtszug wird auf Blatt 67 bis 72 der Gerichtsakten sowie auf den Berichtigungsbeschluss zur Rechtsmittelbelehrung (Bl. 84 d. A.) verwiesen.

Der am 15. April 2008 verkündete Beschluss des Arbeitsgerichts ist mit berichtigter Rechtsmittelbelehrung dem Betriebsrat und Beteiligten zu 2) am 25. April 2008 zugestellt worden (Bl. 86 d. A.). Der Betriebsrat hat hiergegen Beschwerde nebst Begründung zum Landesarbeitsgericht am 5. Mai 2008 eingelegt (Bl. 89 d. A.).

Der Betriebsrat und Beteiligte zu 2) wiederholt und vertieft mit der Beschwerde sein erstinstanzliches Vorbringen. Eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle sei gegeben, wenn es zum Regelungsgegenstand eine noch geltende, ungekündigte Betriebsvereinbarung gäbe. Mit der Vereinbarung vom 20. November 2006 sei für 2007 die Betriebsvereinbarung vom 31. Oktober 2005 mit Änderungen wieder in Kraft gesetzt worden. Deshalb sei - auch im Blick auf das in ein Kalenderjahr ausgelegte roulierende Arbeitszeitsystem - eine neue Verhandlung mit Einsetzung der Einigungsstelle nur möglich, wenn gemäß Ziffer 5 der noch geltenden Betriebsvereinbarung die Arbeitszeitregelung mit 3monatiger Kündigungsfrist zum Jahresende gekündigt werde, was - insoweit unstreitig - nicht geschehen sei. Die Frage, ob eine Betriebsvereinbarung noch existiere oder nicht, könne das Arbeitsgericht im Einigungsstelleneinsetzungsverfahren nicht dahinstehen lassen; andernfalls könnte jede Betriebspartei nach Abschluss einer Betriebsvereinbarung sofort wieder die Einigungsstelle anrufen. Bewerte man die Vereinbarung vom 22. November 2006 nur als Übergangsregelung, sei auf Grund der Nachwirkung der Betriebsvereinbarung eine frühstmögliche Ablösung der Betriebsvereinbarung zum 1. Januar 2009 möglich, da alle Mitarbeiter bereits für 2008 ihren Freizeitkalender erhalten hätten, der sich auch auf die Urlaubsplanung auswirke. Der Betriebsrat sei ansonsten bereit über Änderungen der Betriebsvereinbarung zu verhandeln.

Der Betriebsrat und Beteiligte zu 2) stellt den Antrag,

den angefochtenen Beschluss des Arbeitsgerichts Lüneburg - 3 BV 1/08 - abzuändern und die Anträge der Arbeitgeberin zurückzuweisen.

Die Arbeitgeberin und Beteiligte zu 1) stellt den Antrag,

die Beschwerde des Betriebsrats und Beteiligten zu 2) zurückzuweisen.

Sie folgt den Gründen des Arbeitsgerichts und vertritt den Rechtsstandpunkt, dass die Einigungsstelle zu überprüfen habe, ob eine Betriebsvereinbarung noch gegeben sei, die einer erneuten Regelung im Wege stünde. Es sei offen, ob die Regelung vom 20. November 2006 angesichts der Begriffe "Anlage" und "ergänzende Vereinbarung" als neue Betriebsvereinbarung zu bewerten sei. Der Freizeitkalender für das Kalenderjahr 2008 schaffe für die Belegschaftsmitglieder keinen Vertrauensschutz vor Veränderungen, da in dem Begleitschreiben der Arbeitgeberin vom 31. Dezember 2007 dieser ausdrücklich als "vorläufig" bekanntgemacht wurde (Bl. 122 d. A.).

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze vom 5. Mai und 22. Mai 2008 nebst Anlagen Bezug genommen.

II.

1.

Die Beschwerde des Betriebsrats und Beteiligten zu 2) ist zulässig und fristgemäß innerhalb von 2 Wochen nach Zustellung des Beschlusses mit berichtigter Rechtsmittelbelehrung erhoben worden (§ 98 Abs. 2 S. 2 ArbGG; BAG vom 13. April 2005 - 5 AZB 76/04 = EzA § 9 ArbGG Nr. 16 mwN).

2.

Das Arbeitsgericht hat in der Sache zutreffend entschieden, so dass die Beschwerde des Betriebsrats und Beteiligten zu 2) zurückzuweisen war.

a)

Im Ansatz zutreffend geht der Betriebrat davon aus, dass die Einrichtung einer Einigungsstelle an deren offensichtlichen Unzuständigkeit scheitert, wenn das Mitbestimmungsrecht durch Abschluss einer wirksamen, ungekündigten Betriebsvereinbarung bereits ausgeübt worden ist und eine abschließende ungekündigte Regelung auf Betriebsebene besteht (vgl. LAG Düsseldorf vom 9. September 1977 - 8 TaBV 27/77 = EzA § 76 BetrVG 1972 Nr. 19; Germelmann/Matthes/Prütting/Müller-Glöge ArbGG 6. Aufl. § 98 Rz. 9; GK-ArbGG/Leinemann § 98 Rz. 34; Schwab/Weth ArbGG 2. Aufl. § 98 Rz. 37).

b)

Demgegenüber wird vertreten, dass auch bei ungekündigter Betriebsvereinbarung die Einigungsstelle angerufen werden kann und bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs kein Fall der offensichtlichen Unzuständigkeit vorliegt, wenn eine Betriebspartei die teilweiser Änderung einer ungekündigten Betriebsvereinbarung mit Arbeitszeitregelung auf Grund nachträglicher Entwicklung erreichen will (LAG Köln vom 23. Januar 2007 - 9 TaBV 66/06). Darüber hinausgehend will die 4. Kammer des Landesarbeitsgerichts Köln mit Beschluss vom 6. September 2005 (LAGE § 98 ArbGG Nr. 44 a) zulassen, dass die Ablösung einer bestehenden Betriebsvereinbarung auch während ihrer Laufzeit über eine Einigungsstellenanrufung erzwungen werden kann. Von daher verbiete sich, hier eine offensichtliche Unständigkeit der Einigungsstelle an der noch bestehenden Regelung festzumachen, jedenfalls dann wenn sie keinen "abschließenden Charakter" habe.

c)

Das Beschwerdegericht hält dem Grundsatz nach daran fest, dass eine bestehende Betriebsvereinbarung die Anrufung der Einigungsstelle nur dann erlaubt, wenn sie bereits gekündigt ist und rechtzeitig geführte Verhandlungen zwischen den Betriebspartnern keine Ergebnisse zeitigen (vgl. Beschlüsse vom 28. Mai 2003 - 1 TaBV 36/03 - und vom 25. Oktober 2005 - 1 TaBV 75/05). Weiterhin dürfte es bei "nichtabschließenden" Betriebsvereinbarungen zulässig sein, zur Vervollständigung der Regelung die Einigungsstelle anzurufen. Eine jederzeitige Anrufung der Einigungsstelle selbst bei einer, abschließenden Regelung in einer ungekündigten Betriebsvereinbarung ist dagegen abzulehnen. Eine Betriebsvereinbarung ist als Institut innerbetrieblicher Rechtssetzung dazu vorgesehen, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden für die Zukunft zu schaffen (§ 77 Abs. 4 Satz 1, Abs. 5 BetrVG). Damit verträgt es sich nicht, ihre friedensstiftende Wirkung durch jederzeit durchsetzbare Einigungsstellenverfahren zum inhaltsgleichen Regelungsgegenstand zu gefährden.

3.

Ausgehend von diesen Grundsätzen, ist dem Betriebsrat zu folgen, wenn er beanstandet, dass das Arbeitsgericht von einer rechtlichen Bewertung der ergänzenden Vereinbarung vom 20. November 2006 (Bl. 53 d. A.) nicht absehen durfte. Der für eine Offensichtlichkeitsprüfung nach § 98 ArbGG erhebliche Sachverhalt ist von Amts wegen nach den allgemeinen Vorschriften über das Beschlussverfahren zu ermitteln und rechtlich zu bewerten (vgl. erkennendes Gericht vom 8. Juni 2007 - 1 TaBV 27/07 = LAGE § 98 ArbGG Nr. 49). Soll das Einigungsstelleneinsetzungsverfahren nicht leer laufen, so darf die Offensichtlichkeitsprüfung nicht in die Einigungsstelle verlagert werden. Die Einigungsstelle prüft in eigener Kompetenz nur ihre Zuständigkeit, nicht dagegen ihre offensichtliche Unzuständigkeit.

4.

Geht man mit der herrschenden Meinung davon aus, dass eine abschließende bestehende und ungekündigte Arbeitszeitregelung der Anrufung einer Einigungsstelle zu demselben Regelungsgegenstand im Wege steht, ist mithin die Vereinbarung vom 20. November 2006 rechtlich zu begutachten. So kann es keine Rolle spielen, dass eine "körperliche Verbindung" zwischen der Vereinbarung und der Ursprungsbetriebsvereinbarung vom 31. Oktober 2005 fehlt. Es ist das Schriftformerfordernis gewahrt (§ 77 Abs. 2 Satz 1 BetrVG) und eine inhaltliche Bezugnahme auf die Betriebsvereinbarung vom 31. Oktober 2005 vorgenommen worden. Außerdem ergibt sich die Verbindung zu der zum 31. Dezember 2006 gekündigten Betriebsvereinbarung vom 31. Oktober 2005 aus dem Umstand, dass die ergänzenden Vereinbarungen ab 1. Januar 2007 in Kraft treten sollen. Die Begrifflichkeiten "Anlage zur Betriebsvereinbarung ... vom 31. Oktober 2005" in der Überschrift und "ergänzende Vereinbarung" am Ende machen für den Leser deutlich, dass hier für den Nachwirkungszeitraum nach Kündigung der Betriebsvereinbarung zum 31. Dezember 2006 Übergangsregelungen getroffen werden sollten. Im Nachwirkungszeitraum kann indessen nach dem Ablösungsprinzip kollektiver Regelungen eine neue Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeitregelung angestrebt werden. Ein Hinderungsgrund ergibt sich ferner nicht aus dem an die Belegschaftsmitglieder verteilten Freizeitkalender. Ob die neue Betriebsvereinbarung mit Hilfe der Einigungsstelle aus Gründen der Zweckmäßigkeit erst ab 1. Januar 2009 oder früher greifen soll, ist Verhandlungssache. Ein Vertrauensschutz für den Betriebsrat oder die Belegschaftsmitglieder greift nicht, da das roulierende Arbeitszeitsystem für 2008 als "vorläufiger Freizeitkalender" verteilt wurde.

5.

Eine Kostenentscheidung ist nach § 2 Abs. 2 GKG nicht zu treffen, da das Beschlussverfahren gerichtskostenfrei ist.

6.

Gegen diese Entscheidung ist nach § 98 Abs. 2 ArbGG ein Rechtsmittel nicht gegeben.

Ende der Entscheidung

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