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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 01.04.2004
Aktenzeichen: 14 Sa 1513/03
Rechtsgebiete: TVG


Vorschriften:

TVG § 4 V
Eine für den Arbeitnehmer ungünstigere Vereinbarung kann als andere Abmachung i.S.v. § 4 TVG auch schon vor dem Ablauf eines Tarifvertrages abgeschlossen werden, wenn den Parteien beim Abschluss der Vereinbarung ein konkret bevorstehender Ablauf des Tarifvertrages und der Beginn des Nachwirkungszeitraumes bekannt gewesen ist und sie die Vereinbarung auch für den bevorstehenden Nachwirkungszeitraum abschließen wollten. In diesem Fall wird die Vereinbarung mit dem Beginn des Nachwirkungszeitraums wirksam.
Landesarbeitsgericht Niedersachsen IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

14 Sa 1513/03

Verkündet am: 01.04.2004

In dem Rechtsstreit

hat die 14. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 22.01.2004 durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Dr. Plathe und die ehrenamtlichen Richter Grotheer und Garbes

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 10.04.2003 Az.: 2 Ca 427/02 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revison wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger ist seit 1969 bei der Beklagten als Auslieferungsfahrer beschäftigt.

Der Kläger ist seit 1994 Mitglied der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG).

Die Beklagte ist bis zum 28.02.2002 Mitglied des tarifschließenden Verbandes deutscher Großbäckereien e. V. (Arbeitgeberverband) gewesen.

Mit Wirkung ab 01.03.2002 wird die Mitgliedschaft der Beklagten ausweislich eines Schreibens des Arbeitgeberverbandes vom 25.02.2002 "tariflos in der entsprechenden Verbandsgruppe geführt".

Dementsprechend hat die Beklagte auf das Arbeitsverhältnis der Parteien den Manteltarifvertrag für die Brot und Backwarenindustrie Niedersachsen / Bremen vom 21.05.1997 (MTV) und den Lohn- und Gehaltstarifvertrag für die Brot- und Backwarenindustrie Niedersachsen Bremen zuletzt vom 03.04.2001 (LGTV 2001) angewandt.

Der LGTV 2001 ist zum 31.03.2002 gekündigt gewesen. Der ab 01.04.2002 in Kraft getretene LGTV 2002 ist am 17.05.2002 abgeschlossen worden.

Aus dem LGTV 2001 ergibt sich für den Kläger ein Bruttomonatsentgelt von 2008,35 €.

Am 19.02.2002 fand im Betrieb der Beklagten eine Besprechung statt, an der auch der Kläger, der seinerzeit Betriebsratsmitglied gewesen ist, teilgenommen hat. Bei dieser Besprechung teilte die Beklagte mit, dass sie aus dem tarifschließenden Arbeitgeberverband vor dem 31.03.2003 austreten werde, um an den zu erwartenden Tariflohnerhöhungen im LGTV 2002 ab 01.04.2002 nicht teilnehmen zu müssen. Weiter erklärte die Arbeitgeberin, dass es aus wirtschaftlichen Gründen notwendig sei, das Entgeltniveau der Arbeitnehmer auch unter die Beträge, die sich aus dem LGTV 2001 ergeben, abzusenken.

Dementsprechend schloss die Beklagte mit einer Vielzahl von Arbeitnehmern, darunter auch mit dem Kläger am 20.02.2002 die folgende Vereinbarung:

Änderungsvereinbarung

Der zwischen der

und

Herrn

bestehende Arbeitsvertrag wird wie folgt geändert:

1.

Der Monatslohn beträgt ab dem 01.03.2002 1.706,67 €.

Mit der Novemberabrechnung wird eine Sonderzahlung von 300,00 € gezahlt. Sollte ein Weihnachtsgeld gezahlt werden, wird diese Sonderzahlung verrechnet.

3.

Insolvenzsicherung

Für den Fall, dass nach Stellung eines Insolvenzantrags das Gericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt, gilt als vereinbart, dass die Haustarife rückwirkend außer Kraft gesetzt werden und ebenfalls rückwirkend die bestehenden Flächentarifverträge wieder in Kraft gesetzt werden.

A......, 20.02.2002

(Arbeitgeber) (Arbeitnehmer).

Die in dieser Vereinbarung vorgesehene Ziffer 2 mit dem Wortlaut

2.

Die Arbeitsvertragsparteien sind sich darüber einig, dass auf das Arbeitsverhältnis keine tarifvertraglichen Bestimmungen Anwendung finden.

strich der Kläger vor Unterzeichnung der Änderungsvereinbarung durch.

Im Zeitpunkt des Abschlusses der Vereinbarung sind den Parteien die Kündigung des LGTV 2001 zum 31.03.2002 und der bevorstehende Austritt der Beklagten aus dem tarifschließenden Verband vor dem 31.03.2002 bekannt gewesen.

Ab 01.03.2002 zahlte die Beklagte an den Kläger monatlich 1.766,90 €.

Den Differenzbetrag zwischen dieser Summe und dem Entgelt aus dem LGTV 2001 für März 2002 hat die Beklagte nachgezahlt, nachdem der Kläger seine Mitgliedschaft in der NGG nachgewiesen hat (Az. 1 Ca 242/02 Arbeitsgericht Hameln). Über die Differenzbeträge für die Monate April bis Juli 2002 hat der Kläger ein obsiegendes Urteil des Arbeitsgerichts Hameln Az. 1 Ca 296/02 erwirkt, gegen das die Beklagte kein Rechtsmittel eingelegt hat.

Mit der vorliegenden Klage nimmt der Kläger die Beklagte auf Zahlung von 1.690,15 € brutto an Differenzbeträgen für die Monate August 2002 bis Februar 2003 in Anspruch.

Weiterhin hat der Kläger die Beklagte auf Zahlung von 1.809,60 € brutto an restlicher Jahressonderzahlung gemäß § 13 MTV in Anspruch genommen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage hinsichtlich der Jahressonderzahlung stattgegeben und sie hinsichtlich der verlangten Vergütungsdifferenzen mit der Begründung abgewiesen, dass die Vereinbarung vom 20.02.2002 für den Klagzeitraum wirksam geworden sei, da der LTV 2001 zum 31.03.2002 beendet wurde und die Mitgliedschaft der Beklagten im tarifschließenden Arbeitgeberverband bereits zuvor beendet worden sei; dies führe dazu, dass die Vereinbarung vom 20.02.2002 für den Klagzeitraum als andere Abmachung im Sinne von § 4 V TVG anzusehen sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers.

Der Kläger macht weiterhin geltend:

Die Vereinbarung vom 20.02.2002 sei in Übereinstimmung mit dem Urteil des Arbeitsgerichts Hameln Az. 1 Ca 296/02, das den Zeitraum von April bis Juli 2002 betrifft, gemäß § 4 III TVG insgesamt unwirksam, da sie im Zeitraum und für die Zeit des noch geltenden LGTV 2001 abgeschlossen worden ist.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hameln vom 10.04.2003 Az. 2 Ca 427/02 teilweise abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger weitere 1.690,15 € brutto zu zahlen nebst Zinsen in Höhe von jeweils 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 12.11.02 auf 724,35 €, seit 03.12.02 auf weitere 241,35 €, seit 09.01.03 auf weitere 241,35 €, seit 17.02.03 auf weitere 241,35 € sowie seit 06.03.03 auf weitere 241,35 €.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil und meint weiterhin, dass die Vereinbarung vom 20.02.2002 wegen der Beendigung des LGTV 2001 zum 31.03.2002 für den Klagzeitraum als andere Abmachung wirksam geworden sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die im Berufungsrechtszug gewechselten Schriftsätze verwiesen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist nicht begründet.

Die Klage ist hinsichtlich der Differenzbeträge zwischen der gezahlten Vergütung und der Vergütung nach den Sätzen des LGTV 2001 für die Monate August 2002 bis Februar 2003 in Höhe von insgesamt 1.690,15 € brutto nicht begründet.

Dem Kläger steht für diesen Zeitraum ein Anspruch auf Vergütungszahlung nach den Sätzen des LGTV 2001 nicht zu, da dieser Tarifvertrag im Verhältnis zwischen den Parteien allenfalls nachwirkt und für den Klagzeitraum durch die Vereinbarung vom 20.02.2002 ersetzt worden ist, 3 4 V TVG.

Dabei bedarf es keiner Entscheidung der Frage, ob der LGTV 2001 ab 01.04.2002 gemäß 5 4 V TVG nachwirkt, obwohl die Beklagte zum 28.02.2002 aus dem tarifschließenden Arbeitgeberverband ausgetreten ist (so BAG Urteil vom 18.03.92 Az. 4 AZR 339/91 = AP Nr. 13 zu § 3 TVG mit ablehnender Anmerkung von Löwisch und Rieble unter Hinweis auf das Fehlen einer Legitimation für den Beginn der Nachwirkung eines Tarifvertrages, wenn die Mitgliedschaft im tarifschließenden Verband bereits vor dem Ablauf des Tarifvertrages beendet worden ist).

Auch wenn man mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eine Nachwirkung des LGTV 2001 annimmt, ist diese für den Klagzeitraum durch die Vereinbarung vom 20.02.2002 ersetzt worden.

Die Vereinbarung vom 20.02.2002 verstößt, soweit sie im Zeitraum 2002 betrifft, gegen § 4 1, III TVG, da sie von den Regelungen des bis zum 31.03.2002 geltenden LGTV 2001 zu Lasten des Arbeitnehmers abweicht.

Ob dieser Verstoß gegen die zwingende Wirkung des Tarifvertrages die Vereinbarung lediglich verdrängt (so BAG Urteil v. 14.02.91 Az. 8 AZR 166/90 = AP Nr. 10 zu § 3 TVG) oder sie vernichtet (so Frölich NZA 92, 1105 ff., 1110), was als Frage eines Anwendungsvorrangs oder einer vernichtenden Konkurrenz (vergl. dazu Wank in Wiedemann TVG 6. Aufl. 1999 Rd-Nr. 370 zu § 4 m.w.Nachw.) bedarf hier ebenfalls keiner abschließenden Entscheidung.

Auch wenn man eine Nichtigkeit der Vereinbarung vom 20.02.2004 gem. N 134 BGB annehmen wollte, wie das Arbeitsgericht Hameln es in der Entscheidung 1 Ca 296/02 für den dortigen Klagzeitraum April bis. Juli 2002 getan hat, würde der Nichtigkeitsgrund sich lediglich auf den Zeitraum März 2002 bis zum Ablauf des LGTV 2001 zum 31.03.2002 beziehen. Dies würde gemäß § 139 BGB lediglich zu einer entsprechenden Teilnichtigkeit der Vereinbarung für die Zeit bis zum 31.03.2002 und einer Wirksamkeit ab 01.04.2002 führen. Da die Parteien nach ihrem erklärten Willen, der sich in der Regelung der Insolvenzsicherung wie auch der hier inhaltlich nicht interessierenden Regelung über eine Sonderzahlung im November 2002 zeigt, eine Regelung für einen längeren, über den 31.03.2002 hinausgehenden Zeitraum treffen wollten, ist anzunehmen, dass sie bei Kenntnis einer Nichtigkeit für den Monat März 2002 die Vereinbarung mit Wirkung ab 01.04.2002 abgeschlossen hätten. Die Voraussetzungen für eine Zulässigkeit eines unter den Sätzen des LGTV 2001 liegenden Arbeitsentgelts ab 01.04.2002, die sich aus der Kündigung des LGTV 2001 zum 31.03.2002 und einem Verbandsaustritt der Beklagten vor dem 31.03.2002 ergeben, sind den Parteien am 20.02.2002 bekannt gewesen.

Gegen die entsprechenden Feststellungen des Urteils erster Instanz erhebt die Berufungsbegründung auch keine Einwendungen.

Durch die Vereinbarung vom 20.02.2002 ist die ab 01.04.2002 im Verhältnis der Parteien eingetretene Nachwirkung des LGTV 2001 gemäß § 4 V TVG ersetzt worden, obwohl diese Vereinbarung bereits vor dem Beginn des Nachwirkungszeitraums abgeschlossen worden ist und, wie bereits dargestellt worden ist, für die Zeit bis zum 31.03.2002 rechtliche Wirkungen nicht entfalten konnten.

Zwar spricht der Wortlaut des § 4 V TVG, nach dem die Rechtsnormen des Tarifvertrags weitergelten, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden, eher dafür, dass damit eine künftige und zwar nach Beginn der Nachwirkung zu treffende Vereinbarung gemeint ist (so LAG Berlin Urteil vom 19.10.2000 Az. 6 Sa 64/90 = NZA 91, 278 Frölich a.a.0. S. 1111). Dem entspricht es, wenn in der Entscheidung des 8. Senats des Bundesarbeitsgerichts (Urteil vom 14.02.1991 Az. 8 AZR 166/90 = AP Nr. 10 zu § 3 TVG) die verdrängende Wirkung des Tarifvertrages gegenüber einer ungünstigeren vertraglichen Regelung grundsätzlich auch auf den Zeitraum der Nachwirkung des Tarifvertrages erstreckt wird, während in der Entscheidung des 1. Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 21.09.1989 (AZ. 1 AZR 454/88 = AP Nr. 43 zu § 77 BetrVG 72 unter IV 2 b und 3 der Gründe) ausgeführt ist, dass "viel dafür spricht, dass bei Beendigung der zwingenden Wirkung eines TV eine frühere vertragliche Vereinbarung wieder auflebt und damit die Nachwirkung der Tarifnorm beendet", was allerdings dazu führen würde, dass die Nachwirkung des § 4 V TVG auch durch vertragliche Vereinbarungen praktisch ausgeschlossen werden würde, die ohne Bezug auf einen künftigen Nachwirkungssachverhalt und unter Umständen auch ohne Bezug auf eine spätere Tarifbindung mit anschließender Nachwirkung vor langer Zeit abgeschlossen worden sein können.

Dies bedarf hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung.

Es ist zumindest davon auszugehen, dass die Parteien, die eine andere Abmachung im Sinne von § 4 V TVG zeitlich nach dem Beginn der Nachwirkung ohne weiteres vereinbaren können, dieses aufgrund der Privatautonomie auch bereits vor dem Beginn der Nachwirkung ausdrücklich bezogen auf diesen Zeitpunkt vereinbaren dürfen. Es ist kein Grund ersichtlich, in diesem Bereich schuldrechtliche Vereinbarungen zu untersagen, die ausdrücklich ab einem künftigen Zeitpunkt wirken sollen, wenn dies ab diesem künftigen Zeitpunkt rechtlich möglich ist, vgl. § 271 BGB. Eine solche Regelung wird auch in der bereits genannten Entscheidung des 8. Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 14.02.1991 für möglich erachtet.

Dem ist der hier vorliegende Fall gleichzusetzen, dass die Parteien in Kenntnis der Tatsachen, aus denen sich die Nachwirkung des LGTV 20011 ab dem 01.04.2002 ergibt, eine gegenüber den Regelungen des LGTV 2001 für den Kläger ungünstigerer Vereinbarung treffen, die zwar bereits ab 01.03.2002 gelten soll, die jedoch insgesamt für einen erheblich längeren Zeitraum und damit auch in dem den Parteien bekannten Nachwirkungszeitraum ab 01.04.2004 wirksam sein soll.

Dabei besteht die Kenntnis der zur Nachwirkung führenden Tatsachen aus der Kenntnis der Kündigung des LGTV 2001 zum 31.03.2002 und dem vor diesem Zeitpunkt bevorstehenden Austritt der Beklagten aus dem tarifschließenden Arbeitgeberverband, wodurch eine Tarifbindung der Beklagten hinsichtlich des erwarteten neuen LGTV 2002 verhindert wird. Die beabsichtigte längere Geltungsdauer der Vereinbarung über den 31.03.2002 hinaus ergibt sich, wie bereits dargestellt worden ist, aus den Regelungen der Insolvenzsicherung wie auch aus der hier inhaltlich nicht interessierenden Regelung einer Sonderzahlung im November 2002.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

Die Zulassung der Revision beruht auf § 72 ArbGG.

Der Gegenstandswert für das Berufungsverfahren beträgt 1.690,15 €.

Ende der Entscheidung

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