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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urteil verkündet am 16.11.2007
Aktenzeichen: 3 Sa 9/07
Rechtsgebiete: TVÜ-VKA


Vorschriften:

TVÜ-VKA § 11 Abs. 1
Kinderbezogene Entgeltbestandteile sind gem. § 11 Abs. 1 TVÜ-VKA als Besitzstandszulage auch an denjenigen Elternteil zu zahlen, der sich im September 2005 in Elternzeit befand und deshalb in diesem Monat keine Bezüge erhielt.
LANDESARBEITSGERICHT NIEDERSACHSEN IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

3 Sa 9/07

In dem Rechtsstreit

hat die 3. Kammer des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung vom 16. November 2007 durch

den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Vogelsang, den ehrenamtlichen Richter Herrn Brunn, den ehrenamtlichen Richter Herrn Nehrig für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 16.11.2006 - 6 Ca 227/06 Ö - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin kinderbezogene Entgeltbestandteile in Höhe von monatlich 180,-- € ab Februar 2006 zu zahlen.

Die Klägerin ist seit dem 01.09.1999 bei der Beklagten als Angestellte beschäftigt. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes am 00.00.2005 befand sie sich vom 00.00.2005 bis zum 00.00.2006 in der Elternzeit. Auf das Arbeitsverhältnis waren zunächst die Bestimmungen des BAT anwendbar, nunmehr gilt der Tarifvertrag TVöD, der die Zahlung von kinderbezogenen Entgeltbestandteilen nicht mehr vorsieht. Mit Schreiben vom 07.03.2006 machte die Klägerin nach Wiederaufnahme der Tätigkeit Zahlung von kinderbezogenen Entgeltbestandteilen in Höhe von 90,-- € pro Kind geltend. Die Beklagte wies dieses Begehren mit Schreiben vom 10.03.2006 zurück.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, dem Anspruch auf Zahlung von kinderbezogenen Entgeltbestandteilen stehe die Regelung in § 11 Abs. 1 S. 1 TVÜ-VKA nicht entgegen. Die Regelung in Abs. 1 S. 3 mache deutlich, dass es unschädliche Ausnahmen gebe, die den Besitzstand wahrten. Dabei sei die in dieser Bestimmung enthaltene Aufzählung als nicht abschließend anzusehen. Ansonsten wäre nämlich die Regelung in § 11 TVÜ-VKA verfassungswidrig, weil sie gegen Artikel 6 GG verstieße. Darüber hinaus läge in diesem Fall ein Verstoß gegen den arbeitsgerichtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz vor und der Vertrauensschutz wäre nicht gewahrt.

Die Klägerin hat beantragt,

1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin die kinderbezogenen Entgeltbestandteile in Höhe von 180,00 € für die Monate Februar, März und April 2006 für die Kinder A.,, geboren am 00.00.1998 und A., geboren am 00.00.2005 zu zahlen.

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, diese Entgeltbestandteile auch künftig an die Klägerin zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, dem geltend gemachten Anspruch stehe der eindeutige Wortlaut des TVÜ-VKA entgegen.

Durch Urteil vom 16.11.2006 hat das Arbeitsgericht dem Klagebegehren der Klägerin entsprochen und der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits auferlegt. Wegen der Begründung wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (Blatt 43/44 d. A.) Bezug genommen. Das Urteil ist der Beklagten am 04.12.2006 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 03.01.2007 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 05.03.2007 am 05.03.2007 begründet.

Die Beklagte ist der Ansicht, aus dem Wortlaut und dem Regelungszusammenhang des § 11 Abs. 1 TÜV-VKA ergebe sich, dass nur die in Abs. 1 S. 3 genannten Unterbrechungen unschädlich seien. Eine Diskriminierung im Vergleich zu Wehrpflichtigen etc. scheide aus, weil die obligatorische Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten nicht mit der freiwillig eingegangenen Elternzeit zu vergleichen sei.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach dem Schlussantrag der Beklagten in 1. Instanz zu erkennen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, Elternteile, die ihre Elternzeit in Anspruch nähmen, sollten vor Besitzverlust geschützt werden und keinen Rechtsnachteil erleiden. Diesem Ziel liefe eine auf den Wortlaut beschränkte Auslegung von § 11 TVÜ-VKA entgegen. Die Formulierung in § 11 Abs. 1 S. 1 TVÜ-VKA "in der für September 2005 zustehenden Höhe" sei dahingehend auszulegen, dass die Höhe gemeint sei, die sich ergeben hätte, wenn die Vergütung ohne eine Unterbrechung durch die Elternzeit gezahlt worden wäre.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist statthaft, sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit insgesamt zulässig (§§ 66, 64 ArbGG, 519, 520 ZPO).

Die Berufung ist jedoch nicht begründet, weil das Arbeitsgericht der Klage zu Recht stattgegeben hat.

Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist das für den Klageantrag zu 2) gemäß § 256 ZPO erforderliche Feststellungsinteresse gegeben, auch wenn für den zurückliegenden Zeitraum ein Leistungsantrag möglich wäre. Es ist nämlich zu erwarten, dass die Beklagte als Körperschaft des öffentlichen Rechts auf ein rechtskräftiges Feststellungsurteil hin die entsprechende Zahlung leisten wird.

Die Klage ist nach dem unstreitigen Sachvorbringen der Parteien auch begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, an die Klägerin die mit der Klage begehrte Besitzstandszulage zu zahlen. Diese Verpflichtung folgt aus der Auslegung der unstreitig auf das Arbeitsverhältnis der Parteien anwendbaren Tarifnorm des § 11 Abs. 1 S. 1 TVÜ-VKA. Die Bestimmung hat folgenden Wortlaut:

"Für im September 2005 zu berücksichtigende Kinder werden die kinderbezogenen Entgeltbestandteile des BAT/BAT-O oder MTArb/MTArb-O in der für September 2005 zustehenden Höhe als Besitzstandszulage fortgezahlt, solange für diese Kinder Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) oder nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ununterbrochen gezahlt wird oder ohne Berücksichtigung des § 64 oder 65 EStG oder des § 3 oder 4 BKGG gezahlt würde."

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne an Buchstaben zu haften. Soweit der Tarifwortlaut nicht eindeutig ist, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. z. B. BAG, Urteil vom 12.09.1984 - 4 AZR 336/82 - AP 135 zu § 1 TVG Auslegung = NZA 85, 160; BAG, Urteil vom 05.10.1999 - 4 AZR 578/98 - AP 15 zu § 4 TVG Verdienstsicherung = NZA 2000, 268).

Der Wortlaut von § 11 Abs. 1 S. 1 TVÜ-VKA spricht zwar auf den ersten Blick eher für die Auslegung durch die Beklagte, unmissverständlich ist er aber nicht (so aber LAG Köln, Urteil vom 30.11.2006 - 5 Sa 973/06 - ZTR 2007, 196). Abgestellt wird auf kinderbezogene Entgeltbestandteile "in der für September 2005 zustehenden Höhe". Solche Zahlungen standen der Klägerin im Monat September 2005 auf Grund der Elternzeit tatsächlich nicht zu. Es ist aber auch denkbar, dass durch diese Formulierung nicht auf die tatsächlich erfolgten Zahlungen, sondern auf die in damals geltende Tariflage abgestellt werden sollte und ein bestimmter Auszahlungsmonat nur deshalb genannt wurde, um die tatsächliche Höhe der Besitzstandszulage festzuschreiben. In diese Richtung deutet es, wenn die tarifliche Bestimmung nicht von im September 2005 berücksichtigten, sondern von "zu berücksichtigenden" Kindern spricht. Auch die Verwendung des Wortes "fortgezahlt" in § 11 Abs.1 S.1 TVÜ-VKA bedeutet nicht zwingend, dass eine Besitzstandszulage nur in Betracht kommt, wenn sie im September 2005 gezahlt wurde und im Anschluss daran durchgehend fortgewährt wird. Zum einen setzt eine Fortzahlung begrifflich nicht automatisch eine ununterbrochene Fortzahlung voraus, und zum anderen findet eine derartige Fortzahlung auch in § 11 Abs. 1 S. 3 TVÜ-VKA genannten Fällen gerade nicht statt.

Aus dieser Bestimmung ergibt sich darüber hinaus auch im übrigen kein eindeutiges Auslegungsergebnis. § 11 Abs. 1 S. 3 TVÜ-VKA lautet wie folgt:

"Unterbrechungen wegen der Ableistung von Grundwehrdienst, Zivildienst oder Wehrübungen sowie die Ableistung eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres sind unschädlich, soweit die unschädliche Unterbrechung bereits im Monat September 2005 vorliegt, wird die Besitzstandszulage ab dem Zeitpunkt des Wiederauflebens der Kindergeldzahlung gewährt."

Diese Formulierung lässt sowohl die Deutung zu, dass nur die hier genannten Unterbrechungen ausnahmsweise unschädlich sein sollen als auch die Deutung, es handele sich nur um eine beispielhafte, nicht abschließende Aufzählung der privilegierten Unterbrechungstatbestände. Für das vom Arbeitsgericht gefundene Auslegungsergebnis spricht demgegenüber die Regelung in § 11 Abs. 3 Buchstabe a) TVÜ-VKA, wonach die Absätze 1 und 2 entsprechend gelten für "zwischen dem 01. Oktober 2005 und dem 31. Dezember 2005 geborene Kinder der übergeleiteten Beschäftigten".

Bei der Betrachtung des tariflichen Gesamtzusammenhangs spricht zudem die Regelung in § 5 Abs. 6 TVÜ-VKA dafür, dass die Tarifparteien nicht auf die tatsächlich im September 2005 bezogenen Vergütungsbestandteile abstellen wollten, sondern auf die Bezüge, die bei einer Vergütungszahlung in diesem Monat erzielt worden wären.

Entscheidend für die Auslegung ist im vorliegenden Fall jedoch der Grundsatz, dass im Zweifel derjenigen Tarifauslegung der Vorzug zu geben ist, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt. Sinn der Tarifvertragsregelung ist es, durch eine Stichtagsregelung klarzustellen, für welche Mitarbeitergruppen eine Besitzstandsregelung gelten soll. Letztlich berücksichtigen die Tarifvertragsparteien auf diese Weise Vertrauensschutzgesichtspunkte. Mitarbeiter, denen bestimmte Bestandteile zum entscheidenden Zeitpunkt bereits zustanden, sollen bessergestellt werden als Mitarbeiter, die erst später eingetreten sind oder bei denen sich die nach den Regelungen des BAT vergütungserhöhenden Umstände erst nach der Tarifüberleitung eingestellt haben. Dieser Wille der Tarifvertragsparteien manifestiert sich auch in der Regelung des § 3 Buchstabe a) TVÜ-VKA. In einer anderen Auslegung würde die Anwendung des § 11 Abs.1 S. 1 TÜV-VKA auch zu eher zufälligen Ergebnissen führen. Das macht folgende Überlegung deutlich:

Wäre die Klägerin beispielsweise erst im Oktober 2005 zum zweiten Mal Mutter geworden - wäre also das entgelterhöhende Ereignis später eingetreten - wäre die Besitzstandszulage gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 i. V. m. § 11 Abs. 3 Buchstabe a) TÜV-VKA unstreitig zu zahlen gewesen. Es ist kein nachvollziehbarer, plausibler Grund erkennbar, warum bei einer Besitzstandsregelung gerade diejenigen Elternteile bevorzugt werden sollen, deren Kinder in dem Zeitraum von Oktober bis Dezember 2005 auf die Welt kommen sollen und nicht solche Elternteile, deren Kinder in dem Zeitraum vor September 2005 auf die Welt gekommen sind und die zu diesem Zeitpunkt Erziehungsurlaub in Anspruch genommen haben.

Schließlich spricht für die vom Arbeitsgericht vorgenommene Auslegung auch, dass Tarifvertragsparteien im Zweifel eine Regelung treffen wollen, die sich nicht der Gefahr aussetzt, wegen unzulässiger mittelbarer Diskriminierung auf Grund des Geschlechts unwirksam zu sein. Eine derartige Gefahr könnte aber im Hinblick darauf, dass zumindest mehr als 90 % der Beschäftigten in Elternzeit Frauen sind, durchaus bestehen (so zutreffend LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.02.2007 - 11 Sa 96/06 -).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1. und 2. ArbGG zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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