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Beginn der Entscheidung

Gericht: Landesarbeitsgericht Nürnberg
Beschluss verkündet am 27.04.2006
Aktenzeichen: 5 TaBV 11/05
Rechtsgebiete: BetrVG


Vorschriften:

BetrVG § 19
BetrVG § 38 Abs. 2
Für eine gerichtliche Entscheidung über einen konkreten betriebsverfassungsrechtlichen Vorgang besteht kein Rechtsschutzbedürfnis mehr, wenn der Vorgang abgeschlossen ist und keine Rechtsfolgen mehr erzeugt (hier: Durchführung einer erneuten Wahl aller freizustellenden Betriebsratsmitglieder mit der Stimmenmehrheit des § 27 Abs. 1 Satz 5 BetrVG nach Anfechtung einer vorausgegangenen Freistellungswahl). Sind konkrete Streitfälle Ausdruck einer generellen Streitfrage, die immer wieder zu ähnlichen Auseinandersetzungen führen kann, kann ein berechtigtes Interesse daran gegeben sein, über den konkreten Anlass hinaus eine Entscheidung über eine betriebsverfassungsrechtliche Grundsatzfrage zu erlangen. In solchen Fällen muss ein Antrag gestellt werden, der die vom Anlassfall losgelöste allgemeine Frage hinreichend deutlich umschreibt und zum Verfahrensgegenstand macht (im Anschluss an BAG vom 20.04.1999, AP Nr. 43 zu § 81 ArbGG 1979).
LANDESARBEITSGERICHT NÜRNBERG BESCHLUSS

5 TaBV 11/05

Verkündet am 27. April 2006

in dem Beschlussverfahren

wegen Sonstiges

Die 5. Kammer des Landesarbeitsgerichts Nürnberg hat durch den Vorsitzenden Richter am Landesarbeitsgericht Malkmus und der ehrenamtlichen Richter L. Meyer und Ott aufgrund der mündlichen Anhörung vom 23. März 2006

für Recht erkannt:

Tenor:

1. Es wird festgestellt, dass die freizustellenden Mitglieder des Antragsgegners und Beteiligten zu 2. nicht gesondert für abweichend vom Sitz des Betriebsrats festgelegte Freistellungsorte im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 des Zuordnungstarifvertrags für die B... AG vom 15. Mai 2003 zu wählen sind, sondern einheitlich in einem einzigen Wahlgang.

2. Im Übrigen ist das Verfahren erledigt.

3. Die Rechtsbeschwerde wird hinsichtlich der in Ziffer 1. getroffenen Feststellung zugelassen.

Gründe:

I.

Gegenstand des Verfahrens war zunächst die Frage der Wirksamkeit der Wahl der freizustellenden Mitglieder des Antragsgegners und Beteiligten zu 2. vom 19.05.2004.

Der Antragsteller und Beteiligte zu 1. ist Betriebsratsmitglied des Antragsgegners und Beteiligten zu 2. und als Kandidat für den Wahlvorschlag der Liste 2 in den Betriebsrat gewählt worden. Der Antragsgegner und Beteiligte zu 2. ist der bei der Beteiligten zu 3. bestehende Betriebsrat, der sich aus insgesamt 25 Mitgliedern zusammensetzt. Davon sind 23 Betriebsratsmitglieder über die Liste 1 (Gewerkschaft ver.di) und 2 Betriebsratsmitglieder über die Liste 2 (Gewerkschaft DBVKOM) in den Betriebsrat gewählt worden. Der Beteiligte zu 4. ist ebenfalls über die Liste 2 in den Betriebsrat gewählt worden.

Für den Bereich der Beteiligten zu 3. gilt ein Zuordnungstarifvertrag für die B... AG vom 15. Mai 2003 (Zuordnungs-TV); dieser Tarifvertrag enthält u.a. Regelungen hinsichtlich der Zuordnung von Betriebsteilen sowie Regelungen, den Freistellungsumfang (§ 5) sowie die Bildung von Freistellungsorten (§ 4 Abs. 2) betreffend. Gemäß Zuordnungs-TV sind für den Bereich der Beteiligten zu 3. 16 Betriebsratsmitglieder freizustellen im Sinne des § 38 Abs. 1 BetrVG.

In der konstituierenden Sitzung des Beteiligten zu 2. am 19.05.2004 wurde zunächst der Beschluss gefasst, dass für die Freistellungen so genannte Betreuungsbereiche gemäß § 4 Abs. 2 Zuordnungs-TV gebildet werden. Die anschließend durchgeführten Wahlen der freizustellenden Betriebsratsmitglieder wurden sodann für jeden einzelnen Betreuungsbereich durchgeführt. Ergebnis dieser Freistellungswahlen war, dass nur Betriebsratsmitglieder, welche über die Liste 1 in den Betriebsrat gewählt worden waren, freigestellt worden sind.

Der Antragsteller und Beteiligte zu 1. ist der Ansicht, die vorherige Bildung von Betreuungsbereichen und die getrennt für jeden einzelnen Betreuungsbereich durchgeführte Freistellungswahl sei rechtswidrig, insbesondere werde der sich aus § 38 BetrVG ergebende Minderheitenschutz untergraben.

Das Arbeitsgericht hat die Freistellungswahlen vom 19.05.2004 für unwirksam erklärt. Der vom Antragsgegner und Beteiligten zu 2. durchgeführte Wahlvorgang habe sowohl gegen den Zuordnungstarifvertrag als auch gegen § 38 Abs. 2 BetrVG verstoßen. § 38 Abs. 2 BetrVG lasse keine vom Gesetz abweichende Regelung über das Wahlverfahren zu; § 38 Abs. 2 BetrVG sehe keine Regelung vor, wie sie in § 38 Abs. 1 Satz 5 BetrVG enthalten sei. Auch der Zuordnungstarifvertrag gehe in § 4 davon aus, dass vor Festlegung der Betreuungsorte die Wahl der Freistellungen bereits stattgefunden habe.

In der Folge hat der Antragsgegner und Beteiligte zu 2. am 29.09.2005 sowie am 14.12.2005 erneute Wahlen jeweils zur Bestimmung aller freizustellenden Betriebsratsmitglieder durchgeführt. Beiden Wahlen hat der Antragsgegner und Beteiligte zu 2. seine Rechtsauffassung zugrunde gelegt, wonach die Freistellungswahl gesondert für jeden Betreuungsbereich stattzufinden habe.

Im Beschwerdeverfahren stimmten alle Beteiligten darin überein, dass sich die bis dahin gestellten Anträge durch die mittlerweile durchgeführten Neuwahlen hinsichtlich der freigestellten Betriebsratsmitglieder erledigt hätten. Der Antragsteller hat daraufhin folgenden geänderten Antrag gestellt:

Es wird festgestellt, dass die freizustellenden Mitglieder des Antragsgegners und Beteiligten zu 2. nicht gesondert für abweichend vom Sitz des Betriebsrats festgelegte Freistellungsorte im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 des Zuordnungstarifvertrags vom 15. Mai 2003 zu wählen sind, sondern einheitlich in einem einzigen Wahlgang.

Der Antragsgegner und Beteiligte zu 2. stellt den Antrag:

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Wegen des Vortrags der Beteiligten im Einzelnen wird auf den Inhalt der im arbeitsgerichtlichen sowie im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

II.

Das zunächst den Gegenstand der Beschwerde bildende Verfahren wurde von allen Beteiligten für erledigt erklärt. Der vom Antragsteller und Beteiligten zu 1. daraufhin im Einvernehmen mit allen Beteiligten geänderte Antrag ist zulässig und begründet.

Dem zuletzt gestellten Antrag fehlt nicht das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis; die Antragsänderung ist auch sachdienlich, um die zwischen den Beteiligten bei der Durchführung der Freistellungswahlen kontrovers beurteilte rechtliche Lage zu klären.

Zwar besteht für eine gerichtliche Entscheidung über einen konkreten Vorgang kein Rechtsschutzbedürfnis mehr, wenn dieser Vorgang abgeschlossen ist und keine Rechtsfolgen mehr erzeugt (BAG vom 20.04.1999, AP Nr. 43 zu § 81 ArbGG 1979). Gerichte sollen nicht für Entscheidungen in Anspruch genommen werden, die nach ihrem Ausspruch für die Beteiligten ohne rechtliche Auswirkung sind (BAG vom 29.07.1982, AP Nr. 5 zu § 83 ArbGG 1979).

Konkrete Streitfälle können allerdings oft Ausdruck einer generellen Streitfrage sein, die immer wieder zu ähnlichen Auseinandersetzungen führen kann. In solchen Fällen ist das Vorliegen eines berechtigten Interesses daran, über den konkreten Anlass hinaus eine Entscheidung über eine betriebsverfassungsrechtliche Grundsatzfrage zu erlangen, nicht ausgeschlossen. Die Rechtsprechung verlangt in solchen Fällen einen Antrag, der die vom Anlassfall losgelöste allgemeine Frage hinreichend deutlich umschreibt und zum Verfahrensgegenstand macht (BAG vom 20.04.1999, a.a.O.).

Diesen Voraussetzungen werden die vorliegende Fallgestaltung sowie der zuletzt gestellte Antrag gerecht. Der Antragsgegner und Beteiligte zu 2. hat den bislang durchgeführten Freistellungswahlen wiederholt die Rechtsauffassung zugrunde gelegt, die Wahlen müssten gesondert für jeden einzelnen Betreuungsbereich durchgeführt werden. Im Hinblick auf das Vorbringen im vorliegenden Verfahren ist anzunehmen, dass diese Frage auch zukünftig einen Streitpunkt darstellen wird. Mit der Entscheidung über den geänderten Antrag ist davon auszugehen, dass die umstrittene Frage mit rechtsbefriedender Wirkung zwischen den Beteiligten auch für die Zukunft geklärt wird.

Die Wahl der freizustellenden Betriebsratsmitglieder ist in einem einzigen Wahlgang durchzuführen. Die Freistellungswahl bezieht sich dabei auf den gesamten Bereich, für den der Betriebsrat gewählt worden ist. Freistellungswahlen für einzelne Betriebsteile sieht das Gesetz nicht vor.

An diesem Ergebnis ändert auch nichts die in dem Zuordnungstarifvertrag enthaltenen Regelungen. § 5 Zuordnungs-TV regelt in gemäß § 38 Abs. 1 Satz 5 BetrVG zulässiger Weise lediglich die vom Gesetz abweichende Gesamtzahl der Freistellungen. § 38 Abs. 1 Satz 5 BetrVG lässt demgegenüber nicht die Festlegung eines vom Gesetz abweichenden Freistellungswahlverfahrens zu (Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, BetrVG, 23. Aufl., § 38 RdNr. 29 m.w.N.).

Ein vom Gesetz abweichendes Freistellungswahlverfahren sieht im Übrigen der Zuordnungs-TV nicht vor. Insbesondere die in § 4 Abs. 2 Satz 1 Zuordnungs-TV enthaltene Regelung über die Festlegung von Freistellungsorten lässt das in § 38 Abs. 2 BetrVG vorgesehene Wahlverfahren unberührt. § 4 Abs. 2 Satz 1 Zuordnungs-TV sieht lediglich vor, dass für freigestellte Betriebsratsmitglieder durch Beschluss des Betriebsrats vom Sitz des Betriebsrats abweichende Freistellungsorte festgelegt werden können. Bereits der Wortlaut dieser Bestimmung lässt eindeutig den Willen der Tarifvertragsparteien erkennen, dass zunächst die Freistellungswahl durchzuführen ist, bevor durch Beschluss bestimmte Freistellungsorte festgelegt werden.

Der vom Antragsgegner und Beteiligten zu 2. vorgenommenen, auf die einzelnen Freistellungsorte bezogenen Freistellungswahl entbehrt mithin jeder rechtlichen Grundlage. Freistellungswahlen sind vom Antragsgegner und Beteiligten zu 2. nach den derzeit maßgebenden Rechtsgrundlagen nach dem aus dem Tenor ersichtlichen Verfahren durchzuführen.

Gegen diesen Beschluss kann Rechtsbeschwerde gemäß nachstehender Belehrung eingelegt werden.

Ende der Entscheidung

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