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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 24.01.2006
Aktenzeichen: 11 ME 20/06
Rechtsgebiete: GG, StGB, VersG


Vorschriften:

GG Art. 5
GG Art. 8
StGB § 130
VersG § 15 I
1. Die öffentliche Ordnung i.S.d. § 15 Abs. 1 VersG kann verletzt sein, wenn Rechtsextremisten am 28. Januar, also in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Holocaust-Gedenktag des 27. Januar, einen Aufzug mit Provokationswirkung durchführen wollen. In einem solchen Fall kommt ein Versammlungsverbot in Betracht, wenn es unter Berücksichtigung des Art. 8 GG zum Schutz elementarer Rechtsgüter angemessen ist und Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen (hier bejaht).

2. Zu den rechtlichen Folgen der Verweigerung eines Kooperationsgespräches durch den Versammlungsveranstalter.


Gründe:

Mit Schreiben vom 13./16. Januar 2006 meldete der Antragsteller für Sonnabend, den 28. Januar 2006, einen Aufzug mit Kundgebung in Lüneburg unter dem Thema "Keine Demonstrationsverbote - Meinungsfreiheit erkämpfen" in der Zeit von 12.00 bis 18.00 Uhr an. Nach Angaben des Antragstellers werden 200 Teilnehmer erwartet. Mit Verfügung vom 19. Januar 2006 verbot die Stadt Lüneburg - Antragsgegnerin - die geplante Versammlung und ordnete die sofortige Vollziehung an. Die Begründung der Anordnung des Sofortvollzuges wurde am 20. Januar 2006 neu gefasst. Der Antragsteller hat am 19. Januar 2006 Klage erhoben (3 A 23/06). Den gleichzeitig gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 20. Januar 2006 abgelehnt. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.

Die Beschwerde ist nicht begründet. Die von dem Antragsteller dargelegten Gesichtspunkte, die im Beschwerdeverfahren allein zu prüfen sind (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigen nicht eine Abänderung des angefochtenen Beschlusses.

Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass die auf § 15 Abs. 1 VersG gestützte Verbotsverfügung offensichtlich rechtmäßig ist und an ihrem Sofortvollzug ein besonderes öffentliches Interesse besteht. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Bei Durchführung der angemeldeten Versammlung wäre die öffentliche Ordnung unmittelbar gefährdet. Der geplante Aufzug mit Kundgebungen würde einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag eine nicht hinnehmbare Provokation der grundlegenden sittlichen, sozialen und ethischen Anschauungen der Bevölkerung in Deutschland bedeuten. Der Antragsteller, der als bundesweit agierender Rechtsextremist bekannt sei, und seine Anhänger gehörten zum neonazistischen Spektrum. Die Versammlung habe auch einen rechtsextremen Inhalt. Unter dem Slogan "Keine Demonstrationsverbote - Meinungsfreiheit erkämpfen" gehe es - gleichsam spezifizierend - um das Motto "Weg mit § 130 StGB". Dies sei von der Antragsgegnerin in der Verbotsverfügung unter Hinweis auf verschiedene Internetseiten im einzelnen belegt worden. § 130 StGB stelle die Volksverhetzung unter Strafe. Durch die Forderung nach Abschaffung dieser Vorschrift solle der Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft der Weg bereitet und so der öffentliche Frieden in der Gesellschaft gefährdet und gestört werden. Dies sei in direktem Anschluss an den 27. Januar als besonderem Feiertag, der der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust diene, nicht hinnehmbar. Des weiteren habe der 28. Januar auch schon einen zeitlichen Bezug zu dem ebenfalls nationalsozialistisch besetzten 30. Januar. Jedenfalls sei eine Ausstrahlung des 27. Januar auf den nächsten Tag mit der Folge, dass Versammlungen von Rechtsextremisten eine die öffentliche Ordnung störende Provokationswirkung hätten, im vorliegenden Fall auch deshalb anzunehmen, weil in Lüneburg am 28. Januar besondere Veranstaltungen stattfänden, die in würdevoller Weise mit dem Holocaust-Gedenktag des 27. Januar verbunden seien. Demgegenüber seien Auflagen hier nicht geeignet, die Gefährdung und Störung der öffentlichen Ordnung auszuschließen oder erheblich zu vermindern. Entscheidend sei, dass der Antragsteller und seine Anhänger als Mitglieder des rechtsextremen Spektrums eine Veranstaltung in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Holocaust-Gedenktag veranstalten wollten. Eine derartige Entscheidung sei vom Selbststimmungsrecht des Veranstalters umfasst, so dass weder die Versammlungsbehörde noch das Gericht ihm die Möglichkeit nehmen könnten, selbst einen anderen Versammlungszeitpunkt auszuwählen.

Diese Begründung des Verwaltungsgerichts macht sich der Senat im wesentlichen zu eigen (vgl. § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Die Einwände des Antragstellers im Beschwerdeverfahren vermögen eine abweichende Beurteilung nicht zu rechtfertigen.

Der Antragsteller begründet seine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Beschlusses vor allem damit, dass dieser von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (wie etwa Beschl. v. 14.5.1985, BVerfGE 69, 315, 353; Beschl. v. 1.5.2001, DVBl. 2001, 1134) abweiche. Danach sei eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung regelmäßig kein Grund für ein Versammlungsverbot nach § 15 Abs. 1 VersG; vielmehr sei ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit erforderlich. Des weiteren habe sich das Verwaltungsgericht zu Unrecht auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 2001 - 1 BvQ 9/01 - (NJW 2001, 1409, 1410) berufen. Dieser beziehe sich ausschließlich auf den 27. Januar, nicht aber auf den hier streitigen folgenden Tag. Sollte man der Argumentationslinie des Verwaltungsgerichts folgen, hieße das, dass letztlich fast eine ganze Woche im Jahr keine Demonstration von politisch radikal rechts oder rechtsextrem ausgerichteten Personen erfolgen dürfte. Das sei im Lichte der Versammlungsfreiheit nicht hinnehmbar. Ferner werde das vom Verwaltungsgericht bestätigte Versammlungsverbot gerade nicht durch den genannten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 2001 gedeckt. Das Bundesverfassungsgericht habe stattdessen allein eine Auflage, nämlich eine Verschiebung der geplanten Versammlung vom 27. Januar auf den 28. Januar 2001 für zulässig gehalten. Weshalb eine zeitliche Verschiebung der Versammlung als milderes Mittel nicht möglich sein sollte, habe das Verwaltungsgericht nicht begründet. Der Senat vermag jedoch nicht festzustellen, dass sich die Auffassung des Verwaltungsgerichts im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts befindet.

Zwar trifft es zu, dass das Bundesverfassungsgericht eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung im allgemeinen nicht als ausreichend ansieht, um eine geplante Versammlung zu verbieten (vgl. etwa BVerfGE 69, 315, 353; Beschl. v. 26.1.2001, a.a.O.). Der Antragsteller übersieht aber, dass das Bundesverfassungsgericht seine Auffassung im - bereits vom Verwaltungsgericht erwähnten - Senatsbeschluss vom 23. Juni 2004 (NJW 2004, 2814) wie folgt präzisiert hat:

"Die öffentliche Ordnung kann auch verletzt sein, wenn Rechtsextremisten einen Aufzug an einem speziell der Erinnerung an das Unrecht des Nationalsozialismus und den Holocaust dienenden Feiertag so durchführen, dass von seiner Art und Weise Provokationen ausgehen, die das sittliche Empfinden der Bürgerinnen und Bürger erheblich beeinträchtigen (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 26. Januar 2001 - 1 BvQ 9/01 -, DVBl 2001, S. 558). Gleiches gilt, wenn ein Aufzug sich durch sein Gesamtgepräge mit den Riten und Symbolen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft identifiziert und durch Wachrufen der Schrecken des vergangenen totalitären und unmenschlichen Regimes andere Bürger einschüchtert (vgl. BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 5. September 2003 - 1 BvQ 32/03 -, NVwZ 2004, S. 90 <91>). In solchen Fällen ist unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu klären, durch welche Maßnahmen die Gefahr abgewehrt werden kann. Dafür kommen in erster Linie Auflagen in Betracht. Reichen sie zur Gefahrenabwehr nicht aus, kann die Versammlung verboten werden (vgl. BVerfGE 69, 315 <353>)."

Ob das Bundesverfassungsgericht - wie weite Teile des Schrifttums annehmen (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, 14. Aufl., § 15 VersG RdNr. 61; Scheidler, BayVBl 2005, 453, 455) - mit dieser Klarstellung zugleich seine bisherige Rechtsprechung relativiert hat, mag dahinstehen. Aus den zitierten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts geht jedenfalls hervor, dass ausnahmsweise auch ein Versammlungsverbot in Betracht kommt, wenn es unter Berücksichtigung des Art. 8 GG zum Schutz elementarer Rechtsgüter angemessen ist und Auflagen zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass hier ein solcher Ausnahmefall vorliegt. Die dagegen erhobenen Bedenken des Antragstellers greifen nicht durch.

Der Antragsteller macht geltend, es mangele an einem Nachweis oder wirklich nachvollziehbaren Gründen, dass mit einer Versammlung zum Thema "Gegen Demonstrationsverbote - Meinungsfreiheit erkämpfen" eine Abschaffung des kompletten § 130 StGB oder nur eines besonders umstrittenen Teils, wie beispielsweise des seit dem 1. April 2005 geltenden Abs. 4, gemeint sei. Bei der vom Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang zitierten Internetseite "www.aaka.linke-seiten.de/reader" handele es sich um eine linksextreme Quelle. Äußerungen auf einer ihm feindlich gegenüberstehenden Internetseite müsse er sich nicht vorhalten lassen. Das Verwaltungsgericht habe insofern seine Amtsermittlungspflicht verletzt, was Zweifel an seiner Unvoreingenommenheit begründe. Diese Angriffe des Antragstellers gehen ins Leere.

Es ist nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht zur Beurteilung der Frage, welcher Zweck mit der geplanten Veranstaltung beabsichtigt ist, auch auf Informationen aus dem Internet zurückgegriffen hat. Die von ihm angeführte Internetseite ist auch verwertbar, weil die darin wiedergegebenen Informationen den Angaben in anderen Internetquellen entsprechen, die dem Antragsteller politisch nahe stehen. Dies hat die Antragsgegnerin im einzelnen in der Verbotsverfügung belegt, worauf das Verwaltungsgericht sich ergänzend bezogen hat. Der Senat hat am 23. Januar 2006 eigene Recherchen im Internet angestellt und dabei folgendes ermittelt:

Auf der Internetseite "www.widerstandnord.com" finden sich Links zum "Aktionsbüro Norddeutschland". Unter der Rubrik "Aktuelle Infos" wird mit Datum vom 16. Januar 2006 zu einer Demonstration in Lüneburg aufgerufen. Die Überschrift lautet: "Am 28. Januar gemeinsam ein Zeichen setzen gegen staatliche Repression - den § 130 kippen!" Der anschließende Text führt u.a. aus:

"Die für den 28. Januar geplante und angekündigte Demonstration in Celle bleibt unanfechtbar verboten ...

Es wurde daher umgehend in einer anderen niedersächsischen Stadt für den 28. Januar eine Demonstration gegen staatliche Repression angemeldet, nämlich in Lüneburg! So bleiben die geografische und politische Marschrichtung für diesen Tag voll erhalten.

Alle Kräfte aus Nord- und Mitteldeutschland werden gebeten, für den 28.01. nach Lüneburg zu mobilisieren und zahlreich dort zu erscheinen! Wir wollen an diesem Tag auch in Lüneburg - zeitgleich mit den Demos in Dortmund und Karlsruhe - ein sichtbares Zeichen gegen staatliche Repression setzen!"

Auf der Internetseite "www.widerstandnord.com/aktionsbuero/action/demo280106.htm" heißt es in einer Mitteilung vom 22. Januar 2006 unter dem Titel "Gegen staatliche Repression - den § 130 kippen":

"Die Demonstration in Lüneburg ist eine Kampagnendemo und somit Teil eines größer angelegten Protestes gegen staatliche Repression. Am 28.01. finden zeitgleich auch Protestmärsche in Dortmund und Karlsruhe statt.

Der Protest gegen staatliche Repression ist für den nationalen Widerstand eine grundlegende Angelegenheit. Uns ist bewusst, dass dieses System uns ebenso ablehnt, wie wir dieses System. Denn dieses System ist nicht Deutschland! Die Zustände hierzulande sind für uns unerträglich. Von der gemeinschaftsfeindlichen Ellenbogengesellschaft bis hin zur kulturzerstörenden Massenzuwanderung. Wir stellen uns mit unseren weltanschaulichen Grundsätzen von einer nationalen und sozialistischen Volksgemeinschaft ganz bewusst außerhalb der herrschenden Gesellschaftsordnung. Dass dies unweigerlich eine politische Verfolgung durch staatliche Sicherheitsorgane nach sich zieht, liegt in der Natur der Sache und als politische Freiheitskämpfer nehmen wir das in Kauf. Dennoch halten wir es für angebracht, auch der Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit mit Protesten deutlich zu machen, dass es hierzulande keine wirkliche Meinungsfreiheit gibt, dafür aber eine immer faschistischer werdende Verfolgung Andersdenkender!

Alle norddeutschen Aktivisten des Widerstandes sind aufgerufen, am 28.01. in Lüneburg ein Zeichen gegen Repression und Verfolgung zu setzen!"

Damit steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die geplante Demonstration Teil einer Kampagne von rechtsextremistischen Kreisen, in denen der Antragsteller eine maßgebende Rolle spielt, gegen angebliche "Repression und Verfolgung" ist, zu der ganz wesentlich die Abschaffung des § 130 StGB gehört. Zumindest geht aus den vorstehend wiedergegebenen Internetaufrufen nicht hervor, dass der Protest sich lediglich gegen die Verschärfung dieser Vorschrift durch Einfügung des Abs. 4 mit Gesetz zur Änderung des Versammlungsgesetzes und des Strafgesetzbuches vom 24. März 2005 (BGBl I S. 969) richten soll. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass die Forderung nach Straffreiheit der Volksverhetzung in besonderer Weise geeignet ist, den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung in Deutschland zu provozieren. Dass die Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 4 StGB noch nicht abschließend geklärt und wissenschaftlich umstritten ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 16.8.2005, NJW 2005, 3204 = DVBl 2005, 1262), kann selbstverständlich im Rahmen einer Versammlung thematisiert werden. Eine derartige Kritik ist durch die Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit gedeckt. Im vorliegenden Fall darf aber nicht außer Acht bleiben, dass die geplante Demonstration - zeitgleich mit Protestmärschen in Dortmund und Karlsruhe - nur einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag stattfinden soll. Ein derartiger unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang legt aufgrund der besonderen Umstände des Falles die Vermutung nahe, dass der 28. Januar 2006 vom Antragsteller nur aus taktischem Kalkül gewählt worden ist, um einem für den 27. Januar 2006 drohenden Verbot zu entgehen. Die öffentliche Ordnung kann betroffen sein, wenn einem bestimmten Tag ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt, der bei der Durchführung eines Aufzugs an diesem Tag in einer Weise angegriffen wird, dass dadurch zugleich grundlegende soziale oder ethische Anschauungen in erheblicher Weise verletzt werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 26.1.2001, a.a.O.) speziell für den 27. Januar als Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 angenommen und deshalb eine Entscheidung der zuständigen Versammlungsbehörde in Hamburg bestätigt, mit der eine von dem Antragsteller des vorliegenden Verfahrens angemeldete Demonstration vom 27. Januar 2001 auf den 28. Januar 2001 zeitlich verlegt worden war. Das Bundesverfassungsgericht hat aber bisher nicht dazu Stellung genommen, wie die Rechtslage zu beurteilen ist, wenn eine rechtsextremistische Demonstration in zeitlicher Nähe zu derartigen Tagen stattfinden soll. Nach Auffassung des Senats ist in solchen Fällen zu prüfen, ob der Zeitpunkt der geplanten Versammlung nur vorgeschoben ist, um in Wirklichkeit das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus zu entwürdigen. Von einer derartigen Täuschungsabsicht darf die Versammlungsbehörde jedoch nur ausgehen, wenn hierfür nachvollziehbare Anhaltspunkte bestehen (ebenso Hettich, Versammlungsrecht in der kommunalen Praxis, 2003, RdNr. 146). Das ist hier nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren grundsätzlich nur möglichen summarischen Prüfung der Fall.

Der Senat hat bereits dargelegt, dass der Antragsteller und seine Anhänger nach den bislang erkennbaren Umständen mit der geplanten Demonstration auf die Abschaffung des § 130 StGB abzielen, durch den gerade die Verbreitung, Billigung und Verherrlichung des nationalsozialistischen Gedankenguts bekämpft werden soll. Insbesondere durch die Einfügung des Abs. 4 soll die Würde der Opfer des Holocaust und deren Hinterbliebener besser geschützt werden (vgl. dazu etwa Scheidler, BayVBl. 2005, 453, 454, 456). Wenn die Forderung nach Straffreiheit der Volksverhetzung - wie hier - in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Holocaust-Gedenktag erhoben wird, ist dies ebenfalls geeignet, nicht nur die Ehre der Opfer des Nationalsozialismus zu missachten, sondern das Anstandsgefühl der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland zu verletzen und damit den öffentlichen Frieden gravierend zu stören. Ob und ggf. wie lange eine solche Ausstrahlung des Holocaust-Gedenktages anzunehmen ist, bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles keiner Entscheidung. Denn jedenfalls befindet sich der streitige 28. Januar noch in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Holocaust-Gedenktag.

Dass es dem Antragsteller und seinen Anhängern nicht allein um einen Protest gegen den § 130 StGB am 28. Januar 2006 geht, wird auch daran deutlich, dass er während des gesamten Verfahrens nicht dargelegt hat, worin sein besonderes Interesse an der Durchführung der Versammlung gerade an diesem Tag besteht. Wenn - wie den angeführten Internetmitteilungen zu entnehmen ist - die Demonstration in Lüneburg ebenso wie die angekündigten Protestmärsche in Dortmund und Karlsruhe Teil einer größer angelegten Kampagne gegen staatliche Repression und Verfolgung des "nationalen Widerstands" sein soll, ist es nicht verständlich, warum diese Versammlungen in vergleichbarer Weise nicht zu einem anderen Zeitpunkt durchgeführt werden können, zumal es nicht um einen besonders aktuellen und insofern unwiederbringlichen Anlass geht.

Dass der Antragsteller offensichtlich nicht bereit ist, seine wahren Absichten zu offenbaren, kann auch aus seinem Verhalten im Zusammenhang mit dem von der Antragsgegnerin angebotenen Kooperationsgespräch geschlossen werden. Es ist unstreitig, dass der Antragsteller seine Teilnahme davon abhängig gemacht hat, dass das Gespräch auf Band aufgenommen wird. Nachdem die Antragsgegnerin dies abgelehnt hatte, war der Antragsteller zu einem Kooperationsgespräch nicht bereit. Die Ablehnung einer Tonbandaufnahme durch die Versammlungsbehörde ist aber, wie das Bundesverfassungsgericht im Beschl. v. 1. März 2002, NVwZ 2002, 982, festgestellt hat, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Auch wenn das Beharren des Antragstellers darauf, an einem Kooperationsgespräch nur mit der Möglichkeit einer Tonbandaufnahme teilzunehmen, nicht als Beleg seiner Unzuverlässigkeit als Veranstalter angesehen werden kann, da keine Rechtspflicht zur Kooperation besteht, geht die Verweigerung der Kooperation jedoch zu seinen Lasten mit der Folge, dass die Schwelle für behördliches Eingreifen absinkt (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 1.3.2002, a.a.O.; Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 14 RdNr. 51 - 54 m.w.Nachw.). Die Verweigerung der Kooperation kann außerdem - zusammen mit anderen Umständen - Rückschlüsse auf die eigentlich bezweckten Intensionen des Veranstalters zulassen (vgl. Thür. OVG, Beschl. v. 12.4.2002 - 3 EO 261/02 -, NVwZ 2002, 208). Dies muss besonders dann gelten, wenn - wie hier - Zweifel über den vom Veranstalter angegebenen Zweck der Versammlung bestehen. Denn vom Veranstalter kann eine wahrheitsgemäße Auskunft über die wesentlichen versammlungsbezogenen Fragen erwartet werden (vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 14 VersG RdNr. 53). Zwar ist es grundsätzlich das Recht des Veranstalters, Thema, Ort und Zeitpunkt der Versammlung selbst zu bestimmen. Kollidiert sein Grundrecht der Versammlungsfreiheit aber mit anderen Rechtsgütern, steht ihm nicht auch ein Bestimmungsrecht darüber zu, wie gewichtig diese Rechtsgüter in die Abwägung einzubringen sind und wie die Interessenkollision rechtlich bewältigt werden kann. Insoweit bleibt ihm nur die Möglichkeit, seine Vorstellungen im Zuge einer Kooperation mit der Verwaltungsbehörde einzubringen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.1.2001, a.a.O.). Ist er dazu nicht bereit, scheiden seine Angaben als Grundlage für die von der Behörde vorzunehmende Gefahrenprognose aus, wenn tatsächliche Anhaltspunkte darauf hindeuten, dass der Veranstalter in Wahrheit eine Versammlung plant, die eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedeutet (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 11.4.2002, DVBl. 2002, 970). Die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Antragstellers bestätigt deshalb die aus anderen Anhaltspunkten gewonnene Einschätzung, dass er vorrangig aus taktischen Gründen als Datum für die geplante Demonstration den 28. Januar 2006 gewählt hat. Durch den unmittelbaren zeitlichen Bezug zum vorhergehenden Holocaust-Gedenktag verfolgt er offensichtlich mehrere Zwecke. Einerseits kann er seine Anhänger mobilisieren, öffentliche Aufmerksamkeit erregen und dabei zeitgleich das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus missachten. Andererseits verbindet er damit die Hoffnung, dass ein Verbot nicht ausgesprochen werden wird, weil die Demonstration nicht direkt am Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz stattfinden soll. Ein derartiges Verhalten stellt nach Auffassung des Senats einen offensichtlichen Missbrauch des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit dar.

Soweit der Antragsteller rügt, dass das Verwaltungsgericht eine Ausstrahlung des 27. Januar 2006 auf den nächsten Tag auch mit besonderen Veranstaltungen in Lüneburg begründet hat, vermag dies der Beschwerde des Antragstellers ebenso wenig zum Erfolg zu verhelfen. Wie aus einer Aufstellung der Antragsgegnerin hervorgeht, sind für den 28. Januar 2006 insgesamt sechs Informationsstände von SPD, Grünen und DGB auf öffentlichen Plätzen zum Thema "61. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz" angemeldet worden, die die Antragsgegnerin nach ihren Angaben im Schriftsatz vom 23. Januar 2006 auch genehmigt hat. Ob diese Informationsstände in den Schutzbereich des Art. 8 GG fallen, was der Antragsteller für fraglich hält, ist unbeachtlich. Jedenfalls ist für die Informationsstände eine wegerechtliche Sondernutzungserlaubnis erteilt worden. Unabhängig hiervon ist das Thema "61. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz" dazu angetan, die Öffentlichkeit anzusprechen und Diskussionen anzuregen, so dass Initiatoren und Besucher auch eine Versammlung i.S.d. Versammlungsgesetzes bilden können (vgl. dazu Dietel/Gintzel/Kniesel, a.a.O., § 1 RdNr.16; Hettich, a.a.O., RdNr. 52).

Was die vom Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang ebenfalls angeführte Demonstration angeht, so ist dem Antragsteller Recht zu geben, dass diese Demonstration entgegen der Darstellung des Verwaltungsgerichts nicht zum Thema "61. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz" angemeldet worden ist. Vielmehr handelt es sich um eine Demonstration des "Lüneburger Netzwerk gegen Rechts" mit dem Thema "Kein Naziaufmarsch in Lüneburg - gemeinsam gegen Rassismus und Faschismus". Dieses Versehen des Verwaltungsgerichts fällt aber nicht entscheidend ins Gewicht. Abgesehen davon, dass es sich bei diesem Argument des Verwaltungsgerichts lediglich um eine Hilfserwägung handelt, ist zu beachten, dass in der Zeit vom 24. bis 30. Januar 2006 weitere Veranstaltungen durchgeführt werden, die dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gewidmet sind (vgl. die Berichte in der Landeszeitung für die Lüneburger Heide vom 21./22.1.2006, S. 11 und vom 23.1.2006, S. 4). Die Antragsgegnerin hat im Schriftsatz vom 23. Januar dazu mitgeteilt, dass während dieses Zeitraums eine bereits seit längerem geplante Ausstellung mit dem Titel "Aus Niedersachsen nach Auschwitz - die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit" stattfindet. Diese Ausstellung wird begleitet von Filmen, Vorträgen und Lesungen sowie am 27. Januar von einem Gedenkgottesdienst. Nach Auffassung des Senats würde es die Öffentlichkeit als erhebliche Provokation empfinden, wenn nur einen Tag nach dem Holocaust-Gedenktag eine Versammlung von Rechtsextremisten stattfinden würde, die - wie im einzelnen ausgeführt - von der Zielsetzung her geeignet ist, die Würde der Opfer des Nationalsozialismus zu verletzen.

Ende der Entscheidung

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