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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 11.01.2008
Aktenzeichen: 11 ME 418/07
Rechtsgebiete: ARB 1/80, AufenthG, AuslG


Vorschriften:

ARB 1/80 Art. 7
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 5 Abs. 2
AufenthG § 32
AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6
AuslG § 44 Abs. 1 Nr. 2
1. Das aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers erlischt außer in den Fällen des Art. 14 ARB 1/80 nur, wenn der Aufenthaltsberechtigte den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (wie EuGH, Urt. v. 18.7.2007 - C-325/05 -, Derin).

2. Die Auslegung, unter welchen Voraussetzungen von einem Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe auszugehen ist, hat sich am Regelungszweck des Art. 7 ARB 1/80 zu orientieren, dem türkischen Arbeitnehmer die Aufrechterhaltung seiner familiären Bande im Aufnahmemitgliedstaat zu ermöglichen und die dauerhafte Eingliederung der Familie zu fördern (Erlöschen des assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts und der nach nationalem Recht erteilten Aufenthaltserlaubnis hier bejaht bei einem nahezu dreieinhalbjährigen Internatsaufenthalt in Jordanien).


Gründe:

Der am 10. März 1991 im Bundesgebiet geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. Sein Vater reiste im Jahre 1980 im Alter von 16 Jahren in das Bundesgebiet ein und ist seit August 1990 im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung, die nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortwirkt (§ 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die Mutter des Antragstellers lebt nach der Eheschließung mit dem Vater des Antragstellers seit dem Jahre 1990 im Bundesgebiet und erhält seither jeweils befristete Aufenthaltserlaubnisse. Der Antragsteller hat einen im Juli 1992 geborenen Bruder und eine im November 1993 geborene Schwester. Am 12. Januar 1998 erhielt der Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis mit Geltungsdauer bis zum 9. März 2007. Zum 24. August 2003 meldete ihn sein Vater melderechtlich nach Jordanien ab, wo er gemeinsam mit seinem Bruder ein Internat besuchte. Der Vater des Antragstellers gab gegenüber der Antragsgegnerin an, seine Söhne sollten nicht in Deutschland zur Schule gehen, sondern in Jordanien eine moslemische Schule besuchen, um die arabische Sprache und den Islam zu erlernen. Nach knapp dreieinhalb Jahren kehrte der Antragsteller am 19. Februar 2007 in das Bundesgebiet zurück und beantragte am 26. Februar 2007 bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

Mit Bescheid vom 29. Juni 2007 lehnte die Antragsgegnerin die Erteilung eines Aufenthaltstitels ab und forderte den Antragsteller unter Androhung der Abschiebung in die Türkei auf, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats zu verlassen. Dagegen hat der Antragsteller Klage erhoben (5 A 203/07), über die noch nicht entschieden ist. Seinen zugleich gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage lehnte das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19. September 2007 ab. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.

Die Beschwerde des Antragstellers ist teilweise begründet. Das Verwaltungsgericht hat zwar zutreffend entschieden, dass ein aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Antragstellers und die nach nationalem Recht am 12. Januar 1998 erteilte Aufenthaltserlaubnis nach der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes lediglich möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erloschen sind. Da aber die (Neu-)Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug in Betracht kommen könnte, hält es der Senat für geboten, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 123 VwGO) zu verpflichten, die Abschiebung des Antragstellers bis zu einer Entscheidung der Antragsgegnerin darüber, ob von der Durchführung des Visumverfahrens abgesehen wird, auszusetzen.

Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, auf den Antrag des Antragstellers die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 29. Juni 2007 anzuordnen. Der auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO gerichtete Antrag des Antragstellers ist hinsichtlich der Ablehnung der Erteilung eines Aufenthaltstitels unstatthaft. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO hinsichtlich der Ablehnung der Erteilung eines Aufenthaltstitels nur statthaft, wenn der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels die Fiktion des erlaubten bzw. geduldeten Aufenthalts gemäß § 81 Abs. 3 AufenthG oder des Fortbestehens des erteilten Aufenthaltstitels gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG ausgelöst hat. Hierauf wird Bezug genommen. Der vom Antragsteller bei der Antragsgegnerin am 26. Februar 2007 gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vermochte eine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG nicht auszulösen, denn der Antragsteller hat sich im Zeitpunkt der Beantragung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis weder rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten (§ 81 Abs. 3 AufenthG) noch war er im Besitz eines Aufenthaltstitels, dessen Verlängerung möglich gewesen wäre (§ 81 Abs. 4 AufenthG). Dem Verwaltungsgericht ist darin zu folgen, dass ein aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Antragstellers und die nach nationalem Recht am 12. Januar 1998 erteilte Aufenthaltserlaubnis bereits vor der Rückkehr des Antragstellers in das Bundesgebiet erloschen waren. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt insoweit eine andere Beurteilung nicht.

In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass ein türkischer Staatsangehöriger ein als Kind eines türkischen Arbeitnehmers aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitetes Aufenthaltsrecht außer in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit nur verliert, wenn er den Aufnahmemitgliedstaat für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe verlassen hat (vgl. zuletzt: EuGH, Urt. v. 18.7.2007 - C-325/05 -, Derin, InfAuslR 2007, 326 ff.; Urt. v. 16.2.2006 - C-502/04 -, Torun, NVwZ 2006, 556 ff.; Urt. v. 7.7.2005 - C-373/03 -, Aydinli, NVwZ 2005, 1292 ff.; ebenso: BVerwG, Urt. v. 9.8.2007 - 1 C 47/06 -, InfAuslR 2007, 431 ff.; Urt. v. 28.6.2006 - 1 C 4/06 -, Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 47). Nähere Ausführungen zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen von einem Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe auszugehen ist, lassen sich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts allerdings nicht entnehmen. Die Auslegung hat sich nach Auffassung des Senats in erster Linie am Regelungszweck des Art. 7 ARB 1/80 zu orientieren. Die Vorschrift bezweckt, die Beschäftigung und den Aufenthalt des türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, dadurch zu fördern, dass ihm in diesem Staat die Aufrechterhaltung seiner familiären Bande ermöglicht wird. Zur Förderung der dauerhaften Eingliederung der Familie des türkischen Arbeitnehmers gewährt die Vorschrift den Familienangehörigen des Arbeitnehmers nicht nur ein Aufenthaltsrecht, sondern überdies nach einer bestimmten Zeit das Recht, im Aufnahmemitgliedstaat eine Beschäftigung auszuüben. Die fortschreitende persönliche Integration des türkischen Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat soll erleichtert und gefördert werden (vgl. EuGH, Urt. v. 17.4.1997 - C-351/95 -, Kadiman, juris). Unter Berücksichtigung dieser Zielsetzung können Abwesenheiten vom Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ihrem Zeitraum nach jedenfalls dann nicht mehr als unerheblich angesehen werden, wenn sie der Verfestigung der persönlichen Integration des aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen entgegenstehen. Die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat darf sich nicht auf einen derart langen Zeitraum erstrecken, dass sie dem Regelungszweck des Art. 7 ARB 1/80, dem türkischen Arbeitnehmer die Aufrechterhaltung seiner familiären Bande im Aufnahmemitgliedstaat zu ermöglichen und die dauerhafte Eingliederung der Familie zu fördern, zuwiderläuft.

Diese Auslegung bedeutet nicht, dass es dem nach Art. 7 ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen gänzlich verwehrt wäre, den Aufnahmemitgliedstaat zu verlassen. So hat der Europäische Gerichtshof in anderem Zusammenhang ausgeführt, dass sich der Betroffene aus berechtigten Gründen für einen angemessenen Zeitraum vom gemeinsamen Wohnsitz entfernen dürfe, z. B. um Urlaub zu machen oder seine Familie im Heimatland zu besuchen. Solche kurzzeitigen Unterbrechungen der Lebensgemeinschaft, die ohne die Absicht erfolgten, den gemeinsamen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat in Frage zu stellen, seien den Zeiten gleichzustellen, während deren der betroffene Familienangehörige tatsächlich mit dem türkischen Arbeitnehmer zusammengelebt habe (EuGH, Urt. v. 17.4.1997, a. a. O., Rdnr. 48). Auch wenn diese Entscheidung zu der Frage ergangen ist, ob ein ununterbrochener dreijähriger gemeinsamer Wohnsitz als Voraussetzung für die Entstehung der Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 vorgelegen hat, können diese Ausführungen auch für die vorliegend zu entscheidende Frage herangezogen werden.

Nach diesen Maßstäben ist das aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht des Antragstellers, von dessen Entstehen der Senat zugunsten des Antragstellers im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes trotz langjähriger Arbeitslosigkeit des Vaters des Antragstellers ausgeht, erloschen. Die lediglich durch Besuchsaufenthalte in den Ferien unterbrochene Abwesenheit des Antragstellers vom Bundesgebiet über einen Zeitraum von nahezu dreieinhalb Jahren hinweg kann weder als eine einem Urlaubsaufenthalt oder einem Familienbesuch im Heimatland vergleichbare lediglich kurzzeitige Unterbrechung des Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat angesehen werden noch ist sie durch berechtigte Gründe getragen. Für die Zeit seines Internatsbesuchs hatte der Antragsteller seinen Lebensmittelpunkt im Bundesgebiet durch den zeitlich weit überwiegenden Aufenthalt in Jordanien aufgegeben. Schon dieser Umstand entspricht nicht der Zielsetzung des Art. 7 ARB 1/80, die Aufrechterhaltung der familiären Bande im Aufnahmemitgliedstaat zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass auch der Zweck des Aufenthalts in Jordanien, der nach den Vorstellungen des Vaters des Antragstellers darin lag, die arabische Sprache und den Islam zu erlernen, dem Anliegen des Art. 7 ARB 1/80 widerspricht, die dauerhafte Eingliederung des Familienangehörigen türkischer Staatsangehörigkeit im Aufnahmemitgliedstaat zu fördern. Entgegen dieser Zielsetzung führte der überwiegende Aufenthalt des Antragstellers in Jordanien als einem gänzlich anderen Sprach- und Kulturkreis vielmehr dazu, dass die bis in das 13. Lebensjahr des Antragstellers hinein erfolgte Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse in einer für die soziale Prägung des Antragstellers wesentlichen Entwicklungsphase über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren hinweg unterbrochen wurde. Eine derart lange Zeit des überwiegenden Aufenthalts außerhalb des Bundesgebiets kann hinsichtlich der Aufrechterhaltung des aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts nicht mehr als unerheblich betrachtet werden. Aus der dem Regelungszweck des Art. 7 ARB 1/80, die Aufrechterhaltung der familiären Bande im Aufnahmemitgliedstaat zu ermöglichen und die dauerhafte Eingliederung der Familie zu fördern, zuwiderlaufenden Wirkung der mehrjährigen überwiegenden Abwesenheit des Antragstellers vom Bundesgebiet folgt zugleich, dass als schutzwürdig anzuerkennende berechtigte Gründe für das Verlassen des Bundesgebiets nicht gegeben sind. Das Erlernen der arabischen Sprache ist entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht geeignet, eine sich über mehrere Jahre erstreckende Abwesenheit vom Bundesgebiet zu rechtfertigen, zumal die arabische Sprache auch ohne Gefährdung der erfolgten Integration im Inland erlernt werden kann. Soweit der Antragsteller anführt, er habe der Entscheidung seiner Eltern, ein Internat in Jordanien zu besuchen, folgen müssen, und damit sinngemäß geltend macht, es habe sich nicht um einen freiwilligen Entschluss gehandelt, muss er sich die Entscheidung seiner sorgeberechtigten Eltern zurechnen lassen.

Für die Auslegung, nach der das Verlassen des Bundesgebiets für mehr als drei Jahre bei der hier gegebenen Situation zum Erlöschen des Aufenthaltsrechts nach Art. 7 ARB 1/80 führt, spricht auch ein Vergleich mit der für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen geltenden sog. Unionsbürgerrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG vom 29.4.2004, ABl. EG Nr. L 158 S. 77, ber. ABl. Nr. L 229 S.35). Soweit danach Unionsbürger und ihre Fami-lienangehörigen, die sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben, ein Daueraufenthaltsrecht erwerben (Art. 16 Abs. 1 und 2 RL 2004/38/EG), bestimmt Art. 16 Abs. 4 RL 2004/38/EG, dass (nur) die Abwesenheit vom Aufnahmemitgliedstaat, die zwei aufeinander folgende Jahre überschreitet, zu einem Verlust des Rechts führt. Wenn der Antragsteller durch den mehr als drei aufeinander folgende Jahre währenden weit überwiegenden Aufenthalt in Jordanien aber schon ein nach der Unionsbürgerrichtlinie begründetes Recht auf Daueraufenthalt verloren hätte, so ist die lange Zeit der Abwesenheit vom Bundesgebiet erst recht als der Aufrechterhaltung eines aus Art. 7 ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts hinderlich anzusehen, das jedenfalls keine günstigere Rechtsstellung vermittelt als sie freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nach der Unionsbürgerrichtlinie genießen (vgl. zur Auslegung unter Berücksichtigung der Unionsbürgerrichtlinie auch: VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 31.7.2007 - 11 S 723/07 -, InfAuslR 2007, 373 f.). Bei dieser Sachlage bedarf keiner Entscheidung, ob sich auch assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige auf die ausdrücklich nur für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen geltenden Regelungen der Richtlinie 2004/38/EG berufen können, denn ein etwaiges Recht des Antragstellers auf Daueraufenthalt wäre jedenfalls nach Art. 16 Abs. 4 der Richtlinie erloschen (vgl. zu der vom Senat bislang offen gelassenen Frage der Anwendbarkeit von Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG bei der Ausweisung von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen m. w. N. zum Meinungsstand: Beschl. des Senats v. 5.10.2005 - 11 ME 247/05 -, InfAuslR 2005, 453, v. 11.6.2007 - 11 ME 166/07 -, V. n. b., und v. 8. 1. 2008 - 11 ME 277/07 -).

Die dem Antragsteller nach nationalem Recht am 12. Januar 1998 erteilte Aufenthaltserlaubnis ist nach § 44 Abs. 1 Nr. 2 AuslG bzw. der inhaltsgleichen Vorschrift des § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG erloschen, denn der Antragsteller ist im August 2003 aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund ausgereist. Der Senat nimmt insoweit auf die zutreffenden Erwägungen des erstinstanzlichen Beschlusses Bezug (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Im Hinblick auf das Beschwerdevorbringen ist hervorzuheben, dass eine Ausreise aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grund nicht nur dann gegeben ist, wenn der Ausländer das Bundesgebiet auf Dauer verlässt. Auch wenn der Ausländer das Bundesgebiet wegen eines begrenzten Zwecks mit der Absicht der späteren Rückkehr verlässt, ist der Grund der Ausreise seiner Natur nach nicht lediglich vorübergehend, wenn sich der Zweck nicht auf einen überschaubaren Zeitraum bezieht, sondern langfristig und zeitlich völlig unbestimmt, also auf unabsehbare Zeit ausgerichtet ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.12.1988 - 1 B 135/88 -, InfAuslR 1989, 114 f.; Beschl. v. 4.5.1993 - 1 B 220/93 -, juris, jeweils zu der inhaltsgleichen Vorschrift des § 9 Abs. 1 Nr. 3 AuslG 1965; GK-AuslG, Stand: Dezember 2004, § 44 Rdnr. 32; Hailbronner, AuslR, Stand: Dezember 2007, § 51 AufenthG, Rdnr. 17). Dass der Antragsteller - wie von ihm geltend gemacht - von vornherein die Absicht hatte, nach dem Internatsbesuch in Jordanien als einem Land, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, in das Bundesgebiet zurückzukehren, steht dem Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis deshalb nicht entgegen. Nachdem der Antragsteller bzw. seine Eltern seinerzeit keinerlei Angaben zum Zeitpunkt der Rückkehr in das Bundesgebiet gemacht hatten und der Besuch des Internats sowohl ein als auch mehrere Schuljahre dauern konnte, war es in objektiv nachprüfbarer Weise nicht absehbar, wann der Antragsteller in das Bundesgebiet zurückkehren würde. Nach den Gesamtumständen erschien die Dauer des Auslandsaufenthalts damit unabsehbar, zumal nicht ausgeschlossen werden konnte, dass der Antragsteller auch seine weitere Ausbildung nach Erwerb eines Schulabschlusses im Ausland fortsetzen würde. Dass der Antragsteller den Kontakt zu seiner Familie im Bundesgebiet aufrechterhalten und diese nach seinem Vorbringen jeweils vor Ablauf von sechs Monaten in den Schulferien besucht hat, vermag bei dieser Sachlage eine andere Beurteilung nicht zu rechtfertigen. Der Ausländer kann das Erlöschen der Aufenthaltserlaubnis insbesondere nicht dadurch vermeiden, dass er jeweils kurz vor Ablauf von sechs Monaten als der in § 44 Abs. 1 Nr. 3 AuslG bzw. § 55 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG festgelegten Höchstgrenze mehr oder weniger kurzfristig in das Bundesgebiet zurückkehrt (BVerwG, Beschl. v. 30.12.1988, a. a. O.; Beschl. des Senats v. 15.5.2000 - 11 L 1278/00 -, juris). Auf die melderechtliche Abmeldung, die dem Umstand entsprach, dass der Antragsteller seinen Lebensmittelpunkt bei zeitlich weit überwiegendem Aufenthalt im Ausland nicht mehr im Bundesgebiet hatte, kommt es in diesem Zusammenhang nicht mehr entscheidend an.

Ist der auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO gerichtete Antrag des Antragstellers damit unstatthaft, versteht der Senat das Begehren des Antragstellers unter Berücksichtigung seiner Interessenlage dahingehend, dass es zumindest hilfsweise auch auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO auf Absehen von der Abschiebung und weiteren vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet gerichtet ist. Mit diesem Begehren hat die Beschwerde in dem im Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

Der Antragsteller hat das Vorliegen eines auf § 60a Abs. 2 AufenthG gestützten Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht. Er erfüllt die Voraussetzungen für die (Neu-)Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis soweit, dass es ihm nicht zugemutet werden kann, dass Bundesgebiet zu verlassen, bevor die Antragsgegnerin über seinen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung darüber, ob auf die Durchführung des Visumverfahrens verzichtet wird, entschieden hat.

Für den Antragsteller liegen die Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 bzw. Abs. 3 AufenthG für die Erteilung einer Aufenthalthaltserlaubnis zum Familiennachzug vor. Dabei kann offen bleiben, ob es für die Berechnung der Altersgrenze der Vollendung des 16. Lebensjahres bei dem im Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis am 26. Februar 2007 noch nicht 16 Jahre alten Antragsteller auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Senats oder den Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis ankommt (vgl. zu Letzterem: BVerwG, Urt. v. 30.4.1998 - 1 C 12/96 -, NVwZ-RR 1998, 677 f.; Hailbronner, a. a. O., § 32 AufenthG, Rdnr. 17 ff.; Ziff. 32.0.4 Vorl. Nds. VV-AufenthG, Stand: 30.6.2007). Der Antragsteller, dessen Eltern im Besitz einer Niederlassungserlaubnis bzw. einer Aufenthaltserlaubnis sind und zu dessen Gunsten jedenfalls im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes entsprechend seinem Vorbringen angenommen wird, dass er die deutsche Sprache beherrscht, erfüllt sowohl die Voraussetzungen des § 32 Abs. 2 als auch des § 32 Abs. 3 AufenthG.

Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht nicht entgegen, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts wegen des Bezuges von Leistungen nach dem SGB II durch die Eltern des Antragstellers nicht erfüllt ist, denn insoweit rechtfertigt es die Beschwerdebegründung, für den Antragsteller das Vorliegen eines Ausnahmefalls anzunehmen, der das sonst ausschlaggebende Gewicht der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beseitigt. Ein solcher Ausnahmefall kann etwa dann vorliegen, wenn die Versagung der Aufenthaltserlaubnis mit höherrangigem Recht, insbesondere mit verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen nicht vereinbar ist. Dazu gehört vor allem der grundrechtlich gebotene Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG (vgl. BVerwG, Beschl. v. 26.3.1999 - 1 B 18/99 -, NVwZ-RR 1999, 610; Beschl. des Senats vom 29.11.2006 - 11 ME 127/06 -, abrufbar in der Rechtsprechungsdatenbank der Nds. Verwaltungsgerichtsbarkeit im Internet unter "www.dbovg.niedersachsen.de"). Sind die Grundrechte aus Art. 6 GG berührt, ist aufgrund einer Abwägung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu entscheiden, ob die gegen den Aufenthalt sprechenden öffentlichen Interessen so gewichtig sind, dass sie die bei Ablehnung der Erteilung der Erlaubnis zu erwartende Beeinträchtigung der Familie des Ausländers eindeutig überwiegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.3.1999, a.a.O.; Urt. v. 27.8.1996 - 1 C 8/94 -, BVerwGE 102, 12 ff. = NVwZ 1997, 1116 ff.). Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zu Recht ausgeführt, dass die Integration des Antragstellers in die hiesigen Lebensverhältnisse durch den annähernd dreieinhalbjährigen Internatsaufenthalt in Jordanien unterbrochen worden ist. Auch handelte es sich dabei um eine bewusste Entscheidung des Antragstellers bzw. seiner Eltern, die damit grundsätzlich die Folgen negativer Auswirkungen auf die aufenthaltsrechtliche Stellung zu tragen haben. Andererseits ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller minderjährig ist und noch nicht die volle rechtliche Selbständigkeit erlangt hat. Den Bindungen eines minderjährigen Kindes zu seinen Eltern ist im Vergleich zu denen eines volljährigen Kindes ein höheres Gewicht beizumessen (vgl. zum geringeren Gewicht der Bindungen eines volljährigen Kindes zu seinen Eltern: Nds. OVG, Beschl. v. 29.6.2007 - 10 MC 147/07 -, AuAS 1007, 197). Hinzu kommt, dass der Antragsteller mit den Verhältnissen in der Türkei nicht vertraut ist. Mit Ausnahme des Aufenthalts in Jordanien ist er im Bundesgebiet aufgewachsen. Seine Eltern leben seit dem Jahre 1980 bzw. 1990 rechtmäßig im Bundesgebiet. Besuchsaufenthalte des Antragstellers in der Türkei sind nach der in der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin enthaltenen Kopie des Passes nicht erkennbar. Der Antragsteller selbst macht geltend, in der Türkei keine Verwandten zu haben, an die er sich wenden könne. Nachdem er in Jordanien ein Internat besucht hat, kann nicht ohne Weiteres angenommen werden, er habe in dieser Zeit selbständig gelebt und sei deshalb auch in der Türkei nicht auf Beistand angewiesen. Des Weiteren ist hervorzuheben, dass es sich nicht um eine Sachlage handelt, bei der ein Ausländer zum ersten Mal den Familiennachzug begehrt. Der Antragsteller hat sich bereits lange Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Zwar kommt eine Begleitung des Antragstellers durch eines seiner Elternteile oder die Rückkehr der gesamten Familie in die Türkei in Betracht. Die damit verbundenen Folgen sowohl für die sich langjährig rechtmäßig im Bundesgebiet aufhaltenden Eltern als auch für die - soweit ersichtlich - nur mit den Verhältnissen im Bundesgebiet vertraute 14-jährige Schwester des Antragstellers stehen aber außer Verhältnis zu den beeinträchtigten öffentlichen Interessen. Auch wenn die Sicherung des Lebensunterhalts eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet ist (vgl. etwa Renner, AuslR, 8. Aufl., § 5 AufenthG Rdnr. 13), hat dieses gewichtige öffentliche Interesse deshalb hier ausnahmsweise hinter den grundrechtlich gebotenen Schutz der Familie zurücktreten, solange der Antragsteller noch minderjährig ist. Mit dem Eintritt der Volljährigkeit sind demgegenüber nach gegenwärtiger Sachlage keine Gründe gegeben, die es rechtfertigen könnten, weiterhin von der Sicherung des Lebensunterhalts abzusehen.

Die übrigen Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG liegen mit Ausnahme der Durchführung des Visumverfahrens (§ 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG) vor. Von der Durchführung des Visumverfahrens kann nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Eine Sondersituation, die sich deutlich von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet und die Durchführung des Visumverfahrens gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. AufenthG unzumutbar erscheinen lassen würde, ist für den Antragsteller in Anbetracht seines Lebensalters und der Möglichkeit, sich zumindest von einem Elternteil begleiten zu lassen, nicht erkennbar und auch nicht glaubhaft gemacht worden. Die mit der Nachholung des Visumverfahrens ggf. verbundene vorübergehende Trennung der Familie erscheint vertretbar. Die mit der Ausreise und einer erneuten Einreise mit dem erforderlichen Visum verbundenen Kosten, Mühen und anderen Unannehmlichkeiten gehören zu dem normalen Risiko der nicht ordnungsgemäßen Einreise (vgl. allgemein zu den Anforderungen an die Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens: Bay. VGH. Beschl. v. 22.8.2007 - 24 CS 07.1495 -, juris; Beschl. des Senats v. 21.12.2007 - 11 ME 412/07 -, V. n. b.; Bäuerle in: GK-AufenthG, Stand: November 2007, § 5 Rdnr. 170 ff.; Renner, a. a. O., Rdnr. 61).

Für den Antragsteller, der die übrigen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt, besteht aber ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 2 1. Alt. AufenthG. Nach weitaus herrschender Meinung muss es sich dabei um einen strikten Rechtsanspruch handeln. Die Vorschrift findet keine Anwendung auf Fälle der Ermessensreduzierung auf Null (vgl. etwa OVG Berlin-Branden-burg, Beschl. v. 6.10.2006 - 7 S 32.06 -, juris; Hailbronner, a. a. O., § 5 AufenthG, Rdnr. 65; Renner, a. a. O., Rdnr. 60; a. A..: VG Freiburg, Beschl. v. 12.4.2005 - 8 A 1275/03 -, InfAuslR 2005, 388). Ein solcher gesetzlicher Anspruch steht dem Antragsteller zu, denn die Voraussetzungen des gesetzlichen Anspruchs nach § 32 Abs. 2 bzw. Abs. 3 AufenthG liegen vor. Das gleiche gilt hinsichtlich der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG, nachdem hinsichtlich der Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) von einem Ausnahmefall auszugehen ist. Ein gesetzlicher Anspruch besteht auch dann, wenn im Hinblick auf die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG wegen eines atypischen Sachverhalts ein Ausnahmefall vorliegt (so auch: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 15.9.2007 - 11 S 837/06 -, juris).

Ist ein gesetzlicher Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels begründet, steht die Entscheidung, ob das Visumverfahren nachzuholen ist, im Ermessen der Ausländerbehörde. Von diesem Ermessen hat die Antragsgegnerin bisher noch keinen Gebrauch gemacht, weil sie in ihrem Bescheid vom 29. Juni 2007 davon ausgegangen ist, mangels Sicherung des Lebensunterhalts fehle es bereits an einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Mit der vorläufigen Aussetzung der Abschiebung des Antragstellers erhält die Antragsgegnerin Gelegenheit, die noch ausstehende Ermessensentscheidung unter Abwägung der Belange des Antragstellers und seiner Familienangehörigen mit den beeinträchtigten öffentlichen Interessen nachzuholen (vgl. zu den bei der Ermessensausübung zu berücksichtigenden Gesichtspunkten etwa: Nds. OVG, Beschl. v. 11.7.2007 - 10 ME 130/07 -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 5.10.2006 - 18 B 1767/06 -, InfAuslR 2007, 56 f.). Eine Sachlage, bei der aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null nur ein Absehen von der Durchführung des Visumverfahrens rechtmäßig wäre, hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht.

Im Hinblick auf die mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 29. Juni 2007 verfügte Abschiebungsandrohung und die gesetzte Ausreisefrist von einem Monat nach Zustellung des Bescheides ist auch ein Anordnungsgrund für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO gegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Antragsteller ist mit den überwiegenden Kosten des Verfahrens zu belasten, weil er mit seiner Rechtsansicht, ein bestehendes Aufenthaltsrecht insbesondere aus Art. 7 ARB 1/80 zu besitzen, nicht durchdringt und sein Rechtsmittel lediglich hinsichtlich einer vorläufigen Aussetzung der Abschiebung bis zu einer Entscheidung der Antragsgegnerin über die Durchführung des Visumverfahrens Erfolg hat.

Ende der Entscheidung

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