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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 08.04.2008
Aktenzeichen: 14 PS 1/08
Rechtsgebiete: VwGO


Vorschriften:

VwGO § 99
VwGO § 99 Abs. 2
Eine Sperrerklärung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO, die sich auf Verwaltungsvorgänge mit einer Vielzahl von ersichtlich unerheblichen Daten über Dritte bezieht, ist ermessensfehlerhaft.
Gründe:

Der von dem Kläger gestellte Antrag ist begründet, da die angegriffene Sperrerklärung des Beklagten vom 17. Oktober 2006 ermessensfehlerhaft ist und insoweit gegen § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO verstößt.

Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden im Verwaltungsrechtsstreit u. a. zur Vorlage von Akten und zu Auskünften verpflichtet. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn die Auskunftserteilung - wie hier - selbst Gegenstand des Rechtsstreits ist. In diesem Fall beschränkt sich die Vorlagepflicht nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht von vornherein nur auf diejenigen Akten, die bei der Behörde erst aus Anlass des aktuellen Streits entstanden sind. Vielmehr gehören zu den vorzulegenden Unterlagen grundsätzlich auch die behördlichen Akten, in die Einblick zu nehmen die Fachbehörde unter Berufung auf etwaige im jeweiligen Fachgesetz normierte Gründe abgelehnt hat (BVerwG, Beschl. v. 13.6.2006 - 20 F 5/05 -, DVBl. 2006, 1245 f.). Nur unter den Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO, d.h. wenn das Bekanntwerden des Inhalts der Akten dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Erteilung der begehrten Aktenvorlage oder Auskunft auch insoweit verweigern. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO stellt sich im Verhältnis zu den fachgesetzlich geregelten Auskunftsansprüchen, vorliegend also im Verhältnis zum Auskunftsanspruch nach § 13 NVerfSchG, als prozessrechtliche Spezialnorm dar. Nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO besteht die Ermächtigung der obersten Aufsichtsbehörde zur Ermessensentscheidung also auch dann, wenn der Vorgang nach einem Gesetz geheim gehalten werden muss. Das bedeutet, dass der obersten Aufsichtsbehörde auch in den Fällen Ermessen zugebilligt ist, in denen ihr das Fachgesetz an sich kein Ermessen einräumt (BVerwG, Beschl. v. 1.8.2007 - 20 F 10/06 -, m. Anm. Kugele, jurisPR-BVerwG 22, 2007 Anm. 4). Durch die Eröffnung eines Ermessens nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO soll der Aufsichtsbehörde die Möglichkeit gegeben werden, dem Interesse an der Wahrheitsfindung in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess den Vorrang vor dem Interesse an der Geheimhaltung der Schriftstücke zu geben (BVerwG, Beschl. v. 13.6.2006, a. a. O., m. w. N.).

Diese Ermessensentscheidung nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO muss sich - soweit hier erheblich - auf den Inhalt einer "Akte" beziehen. Dieser Begriff ist gesetzlich nicht näher definiert. Nach dem Sinn und Zweck der Bestimmung sind nur solche Verwaltungsvorgänge vorlagepflichtige "Akten" i. S. des § 99 VwGO, deren Inhalt der umfassenden Sachaufklärung durch das Gericht der Hauptsache dienen kann (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24.11.2003 - 20 F 13/03 -, NVwZ 2004, 485 f.), also für die Entscheidung nicht ersichtlich unerheblich ist. Nur so kann das in § 99 Abs. 2 VwGO vorgesehene Zwischenverfahren sachgerecht durchgeführt werden. Dieses Zwischenverfahren setzt einen entsprechenden Antrag eines Beteiligten und in der Regel ergänzend einen Beschluss des Gerichts der Hauptsache voraus. Darin hat das Gericht der Hauptsache die Entscheidungserheblichkeit der zurückgehaltenen Akten zu prüfen und zu bejahen; der Fachsenat ist an diese Rechtsauffassung grundsätzlich gebunden (vgl. zuletzt BVerwG, Beschl. v. 21.2.2008 - 20 F 2/07 -, juris, m. w. N.).

Im früher eigenständigen Landesamt für Verfassungsschutz, das seit August 2007 Bestandteil des Beklagten ist und dort gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 NVerfSchG eine gesonderte Abteilung bildet, werden die Akten nach Vorgaben geführt, die von einem normalen Verwaltungsverfahren abweichen. Insbesondere gibt es dort keine personenbezogenen Akten, wie man dies etwa aus polizeilichen Ermittlungsakten kennt. Das Ordnungssystem, nach dem die Verfassungsschutzabteilung stattdessen ihre Akten führt, erschließt sich dem Senat allenfalls ansatzweise. Immerhin scheint es so zu sein, dass Vorgänge, Ereignisse und Informationen nach ganz unterschiedlichen Kriterien und Merkmalen erfasst und registriert werden. Diese Art der Aktenführung mag fachgesetzlich nicht zu beanstanden sein, da das Niedersächsische Verfassungsschutzgesetz eine personenbezogene Aktenführung nicht vorschreibt. Jedenfalls handelt es sich bei den Vorgängen aber nicht um Akten im klassischen Sinne. Deshalb ist spätestens anlässlich eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, in dem - wie vorliegend im Verfahren zur Hauptsache - von einer Privatperson gemäß § 13 NVerfSchG Auskunft begehrt wird und ergänzend gemäß §§ 10, 11 NVerfSchG Berichtigungs- bzw. Löschungsanträge gestellt werden, eine Sichtung und sachgerechte Zusammenfassung der vorhandenen und im Einzelfall relevanten Aktenstücke erforderlich, um daraus eine Akte im Sinne des § 99 Abs. 1 VwGO entstehen zu lassen. Eine Sperrerklärung, die sich nicht auf eine Akte im Sinne des § 99 Abs. 1 VwGO bezieht, wird hingegen diesen Maßstäben nicht gerecht und ist deshalb ermessensfehlerhaft.

Die dem Fachsenat im Zwischenverfahren vorgelegte Beiakte C ist eine Ansammlung ganz unterschiedlicher Dokumente und enthält insbesondere über dritte Personen eine Vielzahl von Daten, deren Fallrelevanz auch nicht ansatzweise ersichtlich ist. Aus Gründen der Geheimhaltung (§ 99 Abs. 2 Satz 10 Halbsatz 2 VwGO), die gerade auch der Offenlegung des Inhalts von Verwaltungsvorgängen des Verfassungsschutzes entgegenstehen können (vgl. Senatsbeschl. v. 9.6.2005 - 14 PS 1/05 -, NVwZ-RR 2005, 819 f.; BVerwG, Beschl. v. 1.8.2007, a. a. O., m. w. N.), kann dies hier im Detail nicht näher ausgeführt werden. Zur Verdeutlichung kann jedoch auf den Inhalt des sog. Aktenstücks mit der Nummer 473 verwiesen werden, das bereits vom Beklagten im Verfahren der Hauptsache vor dem Verwaltungsgericht weitgehend offengelegt worden ist. Es enthält eine Liste mit den Namen von 845 ganz überwiegend natürlichen Personen, deren Daten während diverser Protestaktionen anlässlich des Transports des "Castor" im Jahre 2003 überprüft worden sind. Auf dieser Liste findet sich auch der Name des Klägers. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass allein deshalb vorliegend auch die Namen und Daten aller übrigen dort erfassten Personen im Hauptsacheverfahren von Bedeutung sein können. Denn für den vorrangig geltend gemachten Auskunftsanspruch nach § 13 NVerfSchG kommt es auf den Kenntnisstand des Verfassungsschutzes hinsichtlich sonstiger Personen ersichtlich nicht an. Ebenso wenig ist zu erkennen, warum der gesamte in dieser Liste erfasste Datenbestand für den zusätzlich geltend gemachten Löschungs- bzw. Berichtigungsanspruch benötigt wird. Möglicherweise will der Beklagte die hier u. a. umstrittene Einschätzung, der Kläger sei "militant und es lägen extremistische Erkenntnisse über ihn vor", dadurch belegen, dass der Kläger näheren Kontakt zu anderen, ihrerseits als "militant" und/oder "extremistisch" eingestuften und auf der Liste erfassten Personen hat. Dann ließe sich der Inhalt der vorzulegenden Akte aber zumindest auf Erkenntnisse zu diesen "Kontaktpersonen" beschränken. Die Akte darf aber jedenfalls nicht auch Daten von solchen Personen enthalten, zu denen der Kläger ersichtlich gar keinen Kontakt hat oder die auch aus Sicht des Beklagten nicht dem "militanten" bzw. "extremistischen" Spektrum zuzurechnen sind. Bezieht sich somit die Sperrerklärung vom 17. Oktober 2006 auf einen Verwaltungsvorgang, der über die allein relevanten Aktivitäten des Klägers weit hinausgeht, so ist sie ermessensfehlerhaft und danach rechtswidrig.

Der Beklagte wird deshalb erneut über den Antrag des Klägers auf Aktenvorlage unter Beachtung der Rechtsausfassung des Fachsenats zu befinden haben (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.6.2006, a. a. O.). Vor Erlass einer neuen Sperrerklärung ist jedoch die Beiakte C nach den aufgezeigten Vorgaben erheblich "auszudünnen" und daraus eine "Akte" im Sinne des § 99 Abs. 1 VwGO zu erstellen. Dabei bietet es sich an, sich an dem Inhalt der Blätter 1 bis 37 der Beiakte C zu orientieren, diesen Inhalt noch stärker zu konzentrieren, insbesondere die auch darin noch enthaltenen Wiederholungen zu vermeiden, jeweils ein Exemplar der in Bezug genommenen Erkenntnisse, etwa von Zeitschriften oder Flugblättern, als Beleg beizufügen und schließlich - soweit sich dies nicht bereits unmittelbar aus dem Akteninhalt selbst erschließt - ggf. ergänzend durch Vermerke darzulegen, inwieweit sich aus entsprechenden Belegen die hier umstrittenen Einstufungen des Klägers ergeben sollen.

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