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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 27.04.2005
Aktenzeichen: 4 LC 343/04
Rechtsgebiete: SGB VIII


Vorschriften:

SGB VIII § 10 I
SGB VIII § 35a
1. Wird der Hilfebedarf seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher durch z. B. Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht voll gedeckt, muss ergänzend dazu die Jugendhilfe eintreten.

2. Die ergänzende Leistungspflicht der Jugendhilfe besteht auch in den Fällen, in denen durch die "Gesundheitsreform" Leistungen der Krankenkassen zur Kostenersparnis eingeschränkt worden sind (z. B. durch die Regelungen der Zuzahlungspflicht).

3. Der Anspruch von Kindern und Jugendlichen auf Gewährung von Jugendhilfe bei drohender oder bestehender seelischer Behinderung kann nicht nur eine ambulante Psychotherapie umfassen, sondern auch ergänzende Leistungen, die die tatsächliche Durchführung der sonst von der gesetzlichen Krankenversicherung oder anderweitig finanzierten eigentlichen Leistung erst ermöglichen - hier: Kosten für die Fahrten zu den psychotherapeutischen Behandlungsterminen -.


Tatbestand:

Die Beteiligten streiten (nur noch) um die Verpflichtung des Beklagten, die angemessenen Kosten für Fahrten und Begleitung der Kinder A. und C. zu psychotherapeutischen Behandlungen zu erstatten.

Herr B. ist der Vater der Kinder A., geboren am 22. April 1993, und der Zwillinge C. und E., geboren am 18. Februar 1995, und ihr gesetzlicher Vertreter. Er hat von dem beklagten Landkreis zunächst im Rahmen der Jugendhilfe die Übernahme von Kosten beansprucht, die für Fahrten und Begleitung seiner Kinder zur Schule und zu psychotherapeutischen Behandlungen entstanden sind. Soweit es um die Übernahme der Beförderungskosten für die Fahrten des Sohnes A. zur Schule ging, haben die Beteiligten den Rechtsstreit im Erörterungstermin vor dem Verwaltungsgericht übereinstimmend für erledigt erklärt, nachdem der Beklagte den Vater der Kläger in dem Verfahren 3 A 131/03 des Verwaltungsgerichts, in dem um Schülerbeförderungsleistungen für A. gestritten wurde, klaglos gestellt hatte.

Mit Schreiben seines Verfahrensbevollmächtigten vom 26. Februar 2002 ... beantragte Herr B., im Rahmen der Jugendhilfe die Kosten für die Fahrten und die Begleitung seiner Kinder zur Schule und zu Therapien zu übernehmen. Er gab an, dass A. eine Schule in F. (Anfahrtsweg 13 km) und C. und E. einen integrativen Kindergarten in F. (Anfahrtsweg 10 km) besuchten. Außerdem müssten A. und C. zu den verordneten psychotherapeutischen Behandlungen gefahren werden (Anfahrtsweg 14 km). Zur Notwendigkeit der Behandlungen wurde eine Bescheinigung des C. behandelnden Arztes für Kinderheilkunde und psychotherapeutische Medizin G. vom 30. Januar 2002 vorgelegt. Danach liegt bei C. eine globale Entwicklungsverzögerung bei einer emotionalen Problematik vor. Es wurde bestätigt, dass C. ähnlich wie ein Kindergartenkind im öffentlichen Straßenverkehr Begleitung benötige von einer Person, die die Übersicht über die Verkehrssituation habe. Bezüglich A. wurde eine Bescheinigung der behandelnden Psychotherapeutin H. vom 30. Januar 2002 vorgelegt, mit der bescheinigt wurde: A. zeige sich durch die vergangenen familiären Ereignisse schwer belastet. Er habe emotionale Störungen entwickelt, die u.a. in verschiedenen Entwicklungsdefiziten sichtbar würden. Da bei A. Desorientierung und Konzentrationsprobleme im Alltag zu bemerken seien, benötige er auch im aktuellen Alter Begleitung im Straßenverkehr. Insgesamt müsse man bei ihm von einer Bindungsstörung ausgehen.

Mit Bescheid vom 11. Juni 2002 lehnte der Beklagte die beantragte Übernahme der Fahrtkosten zur Schule und zu den Therapien der Kinder ab. Zur Begründung führte er aus: Nach § 39 Abs. 1 SGB VIII sei auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder des Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen, sofern eine Hilfe nach den §§ 32 bis 35 oder nach § 35 a SGB VIII gewährt werde. Da für die Familie jedoch keine dieser Leistungen gewährt werde, komme eine Übernahme der Fahrtkosten nicht in Betracht.

Herr B. legte hiergegen mit Schriftsatz vom 16. Juli 2002 Widerspruch ein und führte aus: Er habe einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 1 SGB VIII. Die Hilfe zur Erziehung sei gemäß § 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII "insbesondere" nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII zu gewähren. Das mache deutlich, dass die Aufzählung der in §§ 28 bis 35 SGB VIII genannten Maßnahmen nicht abschließend sei. Die Hilfe zur Erziehung umfasse gemäß § 27 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII auch ausdrücklich die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Da die Kinder sich gemäß den vorgelegten ärztlichen bzw. kinderpsychologischen Bescheinigungen bereits in psychotherapeutischer Behandlung befänden, konkretisiere sich der Anspruch hinsichtlich der Hilfe zur Erziehung durch Gewährung therapeutischer Leistungen auch auf die Übernahme der Fahrtkosten.

Mit Widerspruchbescheid vom 30. August 2002 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück: Zwar umfasse nach § 27 Abs. 3 SGB VIII die Hilfe zur Erziehung insbesondere auch die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Bei den entstandenen Fahrtkosten handele es sich jedoch weder um pädagogische noch um therapeutische Leistungen. Vielmehr solle durch die beantragte Übernahme der Fahrtkosten die Teilnahme an den Therapien sichergestellt werden. Dabei handele es sich ausschließlich um Aufgaben der Krankenkassen, die nach § 10 Abs. 1 SGB VIII vorrangig vor der Jugendhilfe von diesen Trägern zu gewähren seien. Sofern eine Hilfe nach §§ 32 bis 35 SGB VIII oder nach § 35 a SGB VIII gewährt werde, sei gemäß § 39 Abs. 1 SGB VIII als Annexleistung auch der notwendige Lebensunterhalt sicherzustellen, zu dem auch die Fahrtkosten gehörten. Da die Familie jedoch keinerlei derartige Hilfe erhalten habe bzw. erhalte, sei auch nicht der notwendige Lebensunterhalt sicherzustellen. Die Übernahme der Fahrtkosten aus Mitteln der Jugendhilfe sei jedenfalls nicht möglich.

Mit der gegen diese Bescheide erhobenen Klage hat der Vater der Kläger sein bisheriges Vorbringen wiederholt und ergänzend vorgetragen: Soweit der Beklagte auf einen Nachrang der Jugendhilfe verweise, führe das nicht zu seiner Leistungsfreiheit. Dies ergebe sich schon aus der Regelung des § 43 Abs. 1 SGB I. Er, Herr B., habe bei seiner Krankenkasse ... die Übernahme der Fahrtkosten zu den Therapien der Kinder beantragt. Die Krankenkasse habe jedoch eine Fahrtkostenerstattung abgelehnt. Nach Mitteilung der Krankenkasse komme zwar im Rahmen des § 60 SGB V eine Erstattung von Fahrtkosten zu einer ambulanten Behandlung grundsätzlich in Betracht, jedoch nur in Verbindung mit einer Befreiung von den Zuzahlungen nach § 61 SGB V. Da er, der Vater der Kläger, aber aufgrund seines Einkommens die Befreiungsvoraussetzungen nicht erfülle, komme eine Erstattung der Fahrtkosten der Kinder zu den Therapien durch die Krankenkasse nicht in Betracht.

Nachdem der Rechtsstreit im Übrigen (hinsichtlich des Streits um die Übernahme der Fahrtkosten für den Schulbesuch) für erledigt erklärt worden ist, hat der Vater der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 11. Juni 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. August 2002 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Kosten für Fahrten und Begleitung seiner Kinder A. und C. zu den Therapien zu erstatten.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hat zur Begründung auf seine Ausführungen im Verwaltungsverfahren verwiesen und diese vertieft.

Mit Urteil vom 30. Juni 2004 hat das Verwaltungsgericht das Verfahren im Umfang der Erledigung eingestellt und im Übrigen den Beklagten verpflichtet, dem Vater der Kläger, Herrn B., die angemessenen Kosten für Fahrten und Begleitung seiner Kinder A. und C. zu den in der Zeit vom 28. Februar 2002 bis zum 30. August 2002 erhaltenen psychotherapeutischen Behandlungen zu erstatten. Die angefochtenen Bescheide hat es insoweit zugleich aufgehoben. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Der Leistungsanspruch bestehe nur für die Zeit vom 28. Februar 2002 (Eingang des Antrags bei dem Beklagten) bis zum 30. August 2002 (Erlass des Widerspruchsbescheides), da im Jugendhilferecht ebenso wie im Sozialhilferecht der Sachverhalt nur in den zeitlichen Grenzen der verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliege, die der Beginn des bekannt gegebenen Bedarfs und der Erlass des Widerspruchsbescheides zögen (Regelungszeitraum).

Der Anspruch auf Kostenerstattung für Fahrten und Begleitung der Kinder A. und C. zu den im genannten Zeitraum erhaltenen Therapien folge aus § 35 a SGB VIII in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1998 (BGBl. I S. 3546), zuletzt geändert durch das 10. Euro-Einführungsgesetz vom 15. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3762). Nach § 35 a Abs. 1 und 2 Nr. 1 SGB VIII hätten Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweiche und daher ihre Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sei oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei. Nach den vorgelegten Bescheinigungen seien im streitbefangenen Zeitraum bei den Kindern C. und A. diese Voraussetzungen erfüllt gewesen. Der Anspruch auf Eingliederungshilfe umfasse auch die hier in Rede stehenden Fahrtkosten zu den ambulanten Therapien der Kinder. Das gelte unabhängig davon, ob der Beklagte ihnen im maßgeblichen Zeitraum entsprechende Jugendhilfeleistungen tatsächlich gewährt habe. Auch wenn die Fahrtkosten nicht unmittelbar § 35 a Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII unterfielen, stünden sie damit jedoch in unmittelbarem Zusammenhang. Das Gleiche gelte für die geltend gemachten Kosten der Begleitung der Kinder zu den Therapien. Auch diese Begleitungen seien erforderlich gewesen. Wegen des engen sachlichen Zusammenhangs mit der eigentlichen Maßnahme, den Therapien für die Kinder, seien auch diese Kosten nach § 35 a SGB VIII erstattungsfähig.

Der Nachrang der Jugendhilfe gemäß § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII stehe dem Erstattungsanspruch nicht entgegen. Der Bedarf des Vaters bzw. der Kinder sei nicht durch einen Träger anderer sozialer Leistungen (hier durch die Krankenkasse) im streitbefangenen Zeitraum gedeckt worden. Deshalb sei der Bedarf im Rahmen der Jugendhilfe zu decken.

Im Übrigen gehe das Gericht zugunsten von Herrn B. davon aus, dass er den Leistungsanspruch der Kinder als zum damaligen Zeitpunkt allein personensorgeberechtigter Vater gegenüber dem Beklagten geltend gemacht habe. Die Höhe der tatsächlich entstandenen Kosten sei nicht Streitgegenstand, so dass die nur auf eine Grundentscheidung gerichtete Klage begründet sei.

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Verwaltungsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Auslegung von § 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zugelassene Berufung des Beklagten. Dieser führt zur Begründung aus: Die tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch nach § 35 a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII seien nicht erfüllt. Die Kinder seien zwar zweifelsfrei auf die Durchführung psychotherapeutischer Maßnahmen angewiesen (gewesen). Das begründe aber nicht einen Anspruch auf Bewilligung von Jugendhilfeleistungen nach § 35 a SGB VIII. Denn eine Psychotherapie sei etwas anderes als eine Eingliederungshilfemaßnahme, die der Jugendhilfeträger im Rahmen des Angebots nach § 35 a SGB VIII erbringen könne. Wenn Herr B. seine Kinder auf eigene Kosten zu den Therapiesitzungen fahre, sei das auch nicht eine im Zusammenhang mit einer Eingliederungshilfemaßnahme stehende Handlung. Deshalb könne eine Fahrtkostenerstattung als Annex zu einer jugendhilferechtlichen Maßnahme nicht in Betracht kommen.

Zum anderen stehe einem Leistungsanspruch der Nachrang der Jugendhilfe entgegen. Dass die Krankenkasse Zahlungen für die verauslagten Fahrtkosten nicht erstattet habe, liege daran, dass Herr B. insoweit von der Verpflichtung zur Zuzahlung zu den medizinischen Leistungen nicht befreit gewesen sei. Es sei ihm zuzumuten (gewesen), diese Kosten selbst zu tragen. Das heiße, dass er hinsichtlich der Fahrtkosten nicht finanziell bedürftig gewesen sei im Sinne der Vorschriften für diese Sozialleistungen, also nicht Bedarf auf Zahlung von Krankenkassenleistungen gehabt habe. Das bedeute nicht, dass er dann einen Anspruch auf Fahrtkostenerstattung durch den Jugendhilfeträger habe. Wenn eine Leistung, die grundsätzlich zum Leistungsspektrum der Krankenkasse gehöre, nach den für diese geltenden Bestimmungen aus wirtschaftlichen Gründen nicht als Bedarf gewertet werde, sei auch bei der Prüfung des Nachrangs der Jugendhilfeleistungen (§ 10 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) von einer vollständigen Bedarfsdeckung auszugehen.

Letztlich gehe es um die Frage, ob der Jugendhilfeträger die Kosten zu übernehmen habe, die durch die Gesundheitsreform (Stichwort: Zuzahlungspflicht) bei den Krankenkassenleistungen eingespart würden. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts laufe darauf hinaus, dass der Jugendhilfeträger in allen Fällen, in denen sich die finanzielle Situation des Krankenversicherten so darstelle, dass ihm eine Zuzahlung zu den Krankenkassenleistungen nicht zuzumuten sei, diese Kosten zu tragen habe. Da eine Heranziehung der Eltern für ambulante Maßnahmen nach § 35 a SGB VIII nicht vorgesehen sei, fehle dem Jugendhilfeträger auch die Möglichkeit für eine Refinanzierung.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück vom 30. Juni 2004 zu ändern und die Klage, soweit das Verfahren nicht bereits erledigt ist, abzuweisen.

Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung das Rubrum des Verfahrens umgestellt und führt nunmehr die Kinder A. und C. an Stelle ihres Vaters als Kläger. Sie stellen keinen Antrag.

...

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Beklagten ist nicht begründet.

Der Senat meint ebenso wie das Verwaltungsgericht, dass die Kläger gemäß § 35 a SGB VIII einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für Fahrten und Begleitung zu den im hier maßgeblichen Zeitraum erhaltenen Therapien dem Grund nach haben (a) und dass dem Anspruch nicht der Nachrang der Jugendhilfe entgegen steht (b).

a) Nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf die Gewährung von Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist. Nach den vorliegenden Stellungnahmen des behandelnden Arztes und der Psychotherapeutin waren in dem hier zu betrachtenden Zeitraum zwischen der Antragstellung und dem Erlass des Widerspruchsbescheides diese Voraussetzungen bei den Klägern A. und C. erfüllt. Das wird auch von dem Beklagten nicht bestritten und bedarf deshalb nicht weiterer Vertiefung.

Nach § 35 a Abs. 2 SGB VIII wird die Hilfe "nach dem Bedarf im Einzelfall geleistet". In Betracht kommt eine Hilfeleistung in ambulanter Form (Abs. 2 Nr. 1). Das erfasst nach Meinung des Senats im Einzelfall auch eine Psychotherapie einschließlich der notwendigen Kosten für die Fahrten zu den Behandlungsterminen. Denn nach § 35 a Abs. 3 SGB VIII richten sich Aufgabe und Ziel der Hilfe und der Art der Leistungen nach den - soweit hier einschlägig - §§ 39 Abs. 3 und 40 BSHG, soweit diese Bestimmungen auch auf seelisch behinderte oder von einer solchen Behinderung bedrohte Personen Anwendung finden. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es nach § 39 Abs. 3 BSHG, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Eben dies war Zweck der für die Kinder hier erbrachten psychotherapeutischen Leistungen einschließlich der Fahrten zu den Therapieterminen. Das Gleiche gilt für die Begleitung der Kinder im öffentlichen Straßenverkehr. Zwar nennt § 40 Abs. 1 bei der Aufzählung der Leistungen der Eingliederungshilfe derartige Leistungen nicht. Die Aufzählung in § 40 Abs. 1 BSHG ist aber auch nicht abschließend, wie sich aus den Worten "Leistungen der Eingliederungshilfe sind vor allem" ergibt. Ausschlaggebend ist für die Eingliederungshilfe im Leistungsbereich der Jugendhilfe gemäß § 35 a Abs. 2 SGB VIII, dass die Hilfe "nach dem Bedarf im Einzelfall" zu leisten ist und die hier erbrachten Leistungen zu diesem Bedarf gehörten (vgl. zur psychotherapeutischen Behandlung im Rahmen der Eingliederungshilfe: BVerwG 5. Senat, Urt. vom 13.09.1984 - BVerwG 5 C 118.83 -, BVerwGE 70, 121; VGH BW, Urt. v. 21.12.1983 - 6 S 801/82 -, JURIS). In Betracht kommen deshalb auch vom Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht umfasste ergänzende Leistungen, die die tatsächliche Durchführung der von der gesetzlichen Krankenversicherung oder anderweitig finanzierten Hauptleistungen erst ermöglichen wie eben die hier begehrten Hilfen (Senat, Beschl. v. 11.01.2002 - 4 MA 1/02 -, NVwZ 2002, Beilage I 4, 49 = NDV-RD 2002, 65 = FEVS Bd. 53, 447).

b) Entgegen der Meinung des Beklagten steht dem Leistungsanspruch hier nicht der das Verhältnis zu anderen Leistungen und Verpflichtungen regelnde § 10 Abs. 1 SGB VIII entgegen. § 10 Abs. 1 SGB VIII lautet:

"Verpflichtungen anderer, insbesondere Unterhaltspflichtiger oder der Träger anderer Sozialleistungen, werden durch dieses Buch nicht berührt. Leistungen anderer dürfen nicht deshalb versagt werden, weil nach diesem Buch entsprechende Leistungen vorgesehen sind."

Daraus ergibt sich zunächst, dass Leistungspflichten etwa - wie im vorliegenden Fall - der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V unberührt bleiben und nicht versagt werden dürfen mit Blick darauf, dass auch Leistungsansprüche nach dem Jugendhilferecht (SGB VIII) in Betracht kommen. Das besagt allerdings zunächst nur, dass Ansprüche auf Leistungen etwa der Krankenversicherung und der Jugendhilfe nebeneinander bestehen können. Der Nachrang der Jugendhilfe ergibt sich lediglich daraus, dass der Leistungsanspruch entsprechend dem das gesamte fürsorgerische Leistungssystem prägenden Strukturprinzips der Deckung nur des konkreten Hilfebedarfs das Bestehen einer Notwendigkeit, Hilfe zu leisten, voraussetzt. Wird der Bedarf durch eine andere Sozialleistung gedeckt, entfällt der Leistungsanspruch.

Von besonderer Bedeutung ist diese systematische Abgrenzung dann, wenn die Leistung eines anderen Sozialleistungsträgers für den konkret bestehenden Bedarf, der sonst nach Jugendhilferecht zu decken wäre, diesen nicht in vollem Umfang deckt. Denn von der Systematik her kann der Nachrang der Jugendhilfe nur dann wirksam werden, wenn vorrangige andere Verpflichtungen und Leistungen demselben Zweck wie die Jugendhilfe dienen und den Bedarf auch voll decken, ohne dass es auf günstigere Einzelheiten in der Bedarfsdeckung entscheidend ankäme (BVerwG, Urt. v. 23.11.1995 - BVerwG 5 C 13.94 -, BVerwGE 100, 50, 55; LPK Kinder- und Jugendhilfe, 2. Aufl. 2003, Anm. 3 zu § 10 SGB VIII; Wiesner/ Mörsberger/Oberloskamp/Struck, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, Anm. 8 zu § 10; Frankfurter Kommentar zum KJHG/SGB VIII, 3. Aufl. 1998, Anm. 5 zu § 10). Leistungen Dritter schließen deshalb die Jugendhilfe nur insoweit aus, als sie denselben Zweck haben und (mindestens) den gleichen Umfang haben wie die Leistungen der Jugendhilfe (Schellhorn, SGB VIII, 2. Aufl. 2000, Rdnr. 10 zu § 10). Auch muss die von einem anderen Sozialleistungsträger zu erbringende Leistung tatsächlich verwirklicht werden können (VGH Bad.-Württ., Urt. v. 9.12.1999 - 2 S 27737/98 -, FEVS Bd. 52 S. 225). Wird also etwa durch Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung der Hilfebedarf seelisch behinderter Kinder und Jugendlicher nicht voll gedeckt, vor allem im Bereich therapeutischer und pädagogischer Leistungen, muss ergänzend dazu die Jugendhilfe eintreten (Schellhorn, a.a.O., Rdnr. 25 zu § 35 a SGB VIII).

Eine - weitgehende oder teilweise - Gleichheit der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen und der Jugendhilfe wird deshalb häufig eine Kombination krankenkassenfinanzierter und jugendhilfefinanzierter Maßnahmen sinnvoll und notwendig machen (Wiesner, a.a.O., Anm. 40 vor § 35 a SGB VIII). Bezogen auf den Fall der Kläger bedeutet das, dass die Kosten für die Fahrten zu den Therapiestunden und für ihre Begleitung, die von der Krankenkasse nicht übernommen worden, aber sachlich notwendig waren, aus Jugendhilfemitteln zu tragen sind. Auf die Gründe, warum die Krankenversicherung diese Kosten nicht übernommen hat, kommt es nicht an, entscheidend ist allein, dass sie von der Krankenversicherung nicht übernommen worden sind und der Vater der Kläger eine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung nicht auf einfache und zumutbare Weise erlangen konnte.

Soweit der Beklagte meint, dass nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts und - wie ausgeführt - auch des Senats der Jugendhilfeträger Kosten zu übernehmen hat, die durch die Gesundheitsreform (Stichwort: Zuzahlungspflicht) bei den Krankenkassenleistungen eingespart werden, ist seine Sorge berechtigt. Es ist so. Das SGB VIII enthält eine z.B. § 38 Abs. 3 BSHG oder jetzt seit dem 1. Januar 2005 § 48 SGB XII entsprechende Regelung nicht, wonach hinsichtlich des Leistungsumfangs der Hilfe bei Krankheit im Rahmen der Sozialhilfe auf den Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung verwiesen wird. Es braucht hier nicht erörtert zu werden, inwieweit die Koppelung der Leistungen der Sozialhilfe - diese dient als "unterstes soziales Netz" der Sicherstellung des sozioökonomischen Existenzminimums insbesondere bei einkommens- und vermögenslosen Personen - und der gesetzlichen Krankenversicherung - zu deren Mitgliedern zählen weitgehend Personen mit über dem Existenzminimum liegenden Einkommens- und Vermögensverhältnissen - sinnvoll ist. Jedenfalls verbietet sich eine solche Verbindung zwischen den Regelungen über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung und den Regelungen der Jugendhilfe. § 1 Abs. 1 SGB VIII hebt hervor, dass jeder junge Mensch ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Zur Verwirklichung eben dieses Rechts dient die Jugendhilfe (§ 1 Abs. 3 SGB VIII). Die Jugendhilfe ist damit eine Investition in die Zukunft der Gesellschaft. Insofern wäre es auch nicht zu rechtfertigen, die Leistungen der Jugendhilfe einzuschränken im Anschluss an Einschränkungen in anderen Sozialleistungsbereichen, die auf Erwägungen beruhen, die der Jugendhilfe fremd sind. Der Beklagte mag zwar damit Recht haben, dass Einschränkungen der Leistungen der Krankenkasse im Einzelfall spiegelbildlich zu Mehrleistungen der Jugendhilfe führen, die der Jugendhilfeträger nicht refinanzieren kann. Eine Lösung für dieses Problem ist aber nicht in einer Einschränkung auch der Jugendhilfeleistungen, sondern in einer Berücksichtigung etwa bei den allgemeinen Finanzzuweisungen für die Gebietskörperschaften zu suchen, die örtliche Träger der Jugendhilfe sind.

Die Berufung des Beklagten ist nach alledem nicht begründet.

Ende der Entscheidung

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