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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 10.11.2006
Aktenzeichen: 4 ME 188/06
Rechtsgebiete: SGB VIII, VwGO, AO, NKAG, NVwVG


Vorschriften:

SGB VIII §§ 91 ff.
SGB VIII § 92 Abs. 2
SGB VIII § 92 Abs. 5 Satz 1
VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 1
VwGO § 80 Abs. 5 Satz 1
VwGO § 80 Abs. 6 Satz 1
VwGO § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2
AO § 227 Abs. 1
NKAG § 11 Abs. 1 Nr. 5 a)
NVwVG § 3 Abs. 1 Nr. 3
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
NIEDERSÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT LÜNEBURG BESCHLUSS

Aktenz.: 4 ME 188/06

Datum: 10.11.2006

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 6. Kammer - vom 7. August 2006 geändert.

Der Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30. März 2006 anzuordnen, wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss festgestellt, dass die Klage des Antragstellers in dem Verfahren 6 A 104/06 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30. März 2006 aufschiebende Wirkung hat. Mit diesem Bescheid hat der Antragsgegner gegenüber dem Antragsteller einen Beitrag gemäß §§ 91 ff. SGB VIII zu den Kosten der seinem Sohn in Form von Heimerziehung gewährten Jugendhilfe festgesetzt. Das Verwaltungsgericht ist davon ausgegangen, dass dieser Kostenbeitrag nicht zu den öffentlichen Abgaben und Kosten zählt, bei deren Anforderung gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die aufschiebende Wirkung der Klage entfällt.

Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers festgestellt, da der vom Antragsgegner mit Bescheid vom 30. März 2006 festgesetzte Kostenbeitrag nach §§ 91 ff. SGB VIII zu den öffentlichen Abgaben und Kosten i.S.d. § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gehört (1.). Der mithin nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zu beurteilende Antrag des Antragstellers auf Anordnung der nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entfallenden aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen diesen Kostenbeitragsbescheid ist unzulässig (2.).

1. Die Klage des Antragstellers gegen den Kostenbeitragsbescheid des Antragsgegners gemäß §§ 91 ff. SGB VIII vom 30. März 2006 hat nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO keine aufschiebende Wirkung. Nach dieser Vorschrift entfällt die aufschiebende Wirkung bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten.

Unter dem Begriff der öffentlichen Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind alle hoheitlich geltend gemachten öffentlich-rechtlichen Geldforderungen zu verstehen, die den Zweck haben, den Finanzbedarf des Hoheitsträgers für die Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben zu decken. Die Abgabe muss jedoch nicht allein oder primär der Finanzierung dienen, sondern kann daneben - mit gleichem Stellenwert - auch eine Lenkungs-, Antriebs-, Zwangs- oder Straffunktion besitzen (BVerwG, Urteil vom 17.12.1992 - 4 C 30/90 -, NVwZ 1993, 1112; Sodan / Ziekow, VwGO, Kommentar, 2. Aufl. 2006, § 80 Rdnrn. 56-58; Kopp / Schenke, VwGO, Kommentar, 14. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 57), solange die Finanzierungsfunktion gegenüber den übrigen Zwecken der Abgabe nicht in den Hintergrund tritt und nur noch als Nebeneffekt erscheint (Nds. OVG, Beschluss vom 24.6.1996 - 10 M 944/96 -, NVwZ-RR 1997, 655; Sodan / Ziekow, a.a.O., § 80 Rdnr. 58).

Der nach § 92 Abs. 2 SGB VIII i. d. F. des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe - KICK - vom 8. September 2005 (BGBl. I S. 2729) ausschließlich durch Leistungsbescheid festzusetzende Kostenbeitrag nach §§ 91 ff. SGB VIII dient der Finanzierung der öffentlichen Jugendhilfe und ist damit nach obiger Definition eine Abgabe im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Der Kostenbeitrag ist hinsichtlich seines Zwecks zu unterscheiden von der Jugendhilfe, zu deren Finanzierung dieser Beitrag erhoben wird. Während die öffentliche Jugendhilfe nicht fiskalischen Interessen dient, hat der Kostenbeitrag in den Fällen, in denen er erhoben wird, zumindest primär Finanzierungsfunktion. Eine besondere Lenkungs-, Zwangs- oder gar Straffunktion dieses Beitrags ist nicht ersichtlich. Dass in bestimmten Fällen unter Berücksichtigung der Zwecke der Jugendhilfe von der Erhebung des Kostenbeitrags abzusehen ist, wie beispielsweise im Falle der Schwangerschaft der Jugendlichen (§ 92 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII) oder wenn sonst Ziel und Zweck der Jugendhilfeleistung gefährdet würden oder sich aus der Heranziehung eine besondere Härte ergeben würde (§ 92 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII), ändert nichts daran, dass der Kostenbeitrag der Finanzierung der öffentlichen Jugendhilfe dient mit der Folge, dass Widerspruch und Klage gegen einen Kostenbeitragsbescheid nach §§ 91 ff. SGB VIII keine aufschiebende Wirkung haben (so auch ausdrücklich die Gesetzesbegründung, BT-Drucksache 15/3676, Seite 41).

Eine Härtefallregelung, wie sie sich in § 92 Abs. 5 Satz 1 SGB III findet, ist entgegen der Meinung des Verwaltungsgerichts dem Abgabenrecht auch keineswegs fremd. So kann nach § 227 Abs. 1 AO, der nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 a) NKAG auch auf kommunale Abgaben anzuwenden ist, ein Anspruch aus dem Abgabenschuldverhältnis ganz oder teilweise erlassen werden, wenn dessen Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Härtefallregelung in § 92 Abs. 5 Satz 1 SGB VIII lässt den Finanzierungszweck des Kostenbeitrages nach §§ 91 ff. SGB VIII daher und aus den oben genannten Gründen ebenso wenig in den Hintergrund treten (a. A. - zur alten Rechtslage - OVG Greifswald, Beschluss vom 3.3.1999 - 1 M 4/99 -, NVwZ-RR, 2000, 63) wie der weitere vom Verwaltungsgericht angeführte Umstand, dass die Festsetzung dieses Kostenbeitrages eine individuelle Berechnung (nach § 93 SGB VIII) erfordert. Denn eine solche individuelle Berechnung ist für die Erhebung von Abgaben typisch. Deshalb ist die Annahme von Kunkel (SGB VIII, Kommentar, 3. Aufl. 2006, § 92 Rdnr. 11 und Anhang Verfahren Rdnr. 58), mit öffentlichen Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO seien nur solche Geldleistungen gemeint, die sich "nach leicht erkennbaren Merkmalen ermitteln lassen" und keine individuelle Berechnung im Einzelfall erfordern, nicht zutreffend. Die zweifelsfrei dem Bereich der öffentlichen Abgaben zugehörigen Straßenausbau- oder Erschließungsbeiträge lassen sich beispielsweise auch nicht "nach leicht erkennbaren Merkmalen ermitteln", sondern erfordern vielmehr eine oft schwierige individuelle Berechnung im Einzelfall.

2. Der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entfallenden aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen den Kostenbeitragsbescheid des Antragsgegners vom 30. März 2006 nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist unzulässig.

Der Antragsteller hat wörtlich beantragt, die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners von 30. März 2006 "wieder herzustellen". Da hier jedoch der Sofortvollzug nicht angeordnet worden ist, weil die aufschiebende Wirkung von Gesetzes wegen entfällt, ist der Antrag entsprechend dem Rechtsschutzziel des Antragstellers dahin gehend auszulegen, dass er gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage begehrt.

Ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 dieser Vorschrift nach Absatz 6 Satz 1 nur zulässig, wenn die Behörde zuvor einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat.

Einen solchen Antrag nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO hat der Antragsteller beim Antragsgegner nicht gestellt.

Er hat lediglich in Bezug auf die Mahnung des Antragsgegners vom 26. Mai 2006 in dem Schreiben vom 9. Juni 2006 die Meinung vertreten, dass seine Klageerhebung aufschiebende Wirkung haben dürfte, so dass er bis zum rechtskräftigen Ausgang des Klageverfahrens keine Kostenbeiträge leisten müsste. Aus diesem Grunde sollte der Antragsgegner bestätigen, dass er von Vollstreckungsmaßnahmen Abstand nehme, da er - der Antragsteller - ansonsten beim Verwaltungsgericht um Vollstreckungsschutz nachsuchen müsse. Daraufhin hat der Antragsgegner dem Antragsteller mit Schreiben vom 16. Juni 2006 mitgeteilt, dass die Klage nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO keine aufschiebende Wirkung habe.

Dieses Schreiben des Antragstellers vom 9. Juni 2006 genügt nicht dem - streng zu handhabenden - Antragerfordernis nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO. Das Ziel des Gesetzgebers, den Vorrang der verwaltungsinternen Kontrolle zu stärken und die Verwaltungsgerichte zu entlasten (Begründung des 4. VwGOÄndG, BT- Drucksache 11/7030, Seite 24), kann nur erreicht werden, wenn die Behörde auf Grund eines besonderen, dahin gehenden Vorbringens des Abgabenschuldners veranlasst wird, zu prüfen und zu entscheiden, ob sie unter dem Gesichtspunkt ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes oder wegen einer mit der Vollziehung des Abgabenbescheides verbundenen unbilligen Härte (§ 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO) die kraft Gesetzes gegebene sofortige Vollziehbarkeit des Abgabenbescheides ganz oder teilweise aussetzt (OVG Saarlouis, Beschluss vom 22.6.1992 - 1 W 29/92 -, NVwZ 1993, 490). Der Antragsteller hat jedoch keine Entscheidung der Behörde über die Aussetzung der durch das Gesetz eröffneten Vollziehung begehrt, vielmehr hat er in dem Schreiben vom 9. Juni 2006 die Auffassung vertreten, dass seine Klage ohnehin aufschiebende Wirkung habe und die Behörde aus diesem Grunde von Vollstreckungsmaßnahmen absehen und ihm gegenüber dies bestätigen solle. Dementsprechend hat der Antragsgegner auch keine Entscheidung nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO unter Beachtung der Maßstäbe nach Absatz 4 Satz 3 dieser Vorschrift getroffen, sondern lediglich auf die nach § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO maßgebliche Rechtslage hingewiesen.

Das Antragserfordernis entfällt hier auch nicht nach § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO, wonach ein Antrag nach Satz 1 dieser Vorschrift nicht erforderlich ist, wenn eine Vollstreckung droht.

Eine Vollstreckung droht im Sinne des § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO nicht bereits dann, wenn die Forderung fällig und der Vollstreckungsschuldner - als weitere Voraussetzung für den Beginn der Vollstreckung gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 3 NVwVG - gemahnt worden ist, da andernfalls das Antragserfordernis nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO nahezu leer liefe. Eine Vollstreckung droht im Sinne dieser Vorschrift vielmehr nur dann, wenn der Beginn von Vollstreckungsmaßnahmen von der Behörde für einen unmittelbar bevorstehenden Termin angekündigt ist oder konkrete Vorbereitungen der Behörde für eine alsbaldige Vollstreckung vorliegen (OVG Saarlouis, Beschluss vom 22.6.1992, a.a.O.; Kopp / Schenke, a.a.O. § 80 Rdnr. 186).

Hier hat der Antragsgegner die Begleichung der Kostenbeitragsforderung aus dem Beitragsbescheid vom 30. März 2006 lediglich angemahnt (Mahnung vom 26. Mai 2006). Darüber hinaus hat der Antragsgegner weder den Beginn von konkreten Vollstreckungsmaßnahmen für einen unmittelbar bevorstehenden Termin angekündigt noch konkrete Vorbereitungen für eine alsbaldige Vollstreckung getroffen. Mit Schriftsatz vom 4. Juli 2006 hat der Antragsgegner gegenüber dem Verwaltungsgericht vielmehr zugesichert, bis zur Entscheidung über den Eilantrag keine Vollstreckungsmaßnahmen zu treffen. Gegenüber dem Berichterstatter des Senats hat eine Mitarbeiterin des Antragsgegners am 9. November 2006 telefonisch bestätigt, dass die Vollstreckung zur Zeit nicht betrieben werde.

Ende der Entscheidung

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