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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 23.06.2008
Aktenzeichen: 7 ME 58/08
Rechtsgebiete: AufenthG, AuslG, GG


Vorschriften:

AufenthG § 27
AufenthG § 28
AuslG § 17 Abs. 1
AuslG § 23 Abs. 1
GG Art. 6 Abs. 1
Die nach deutschem Recht aufhebbare Zweitehe kann ausländerrechtlich einer bloßen "Scheinehe" nicht gleichgestellt werden, da das maßgebliche Differenzierungskriterium für den Zuzugsanspruch, die eheliche Lebensgemeinschaft, hier nicht fehlt (a.A. VGH Mannheim, Beschl. v. 15.8.2005 - 13 S 951/04 - juris).

Es kann offenbleiben, ob und unter welchen Vorausetzungen sich der "de facto-Vater" auf Art. 6 GG berufen kann (verneinend VGH Mannheim, Beschl. v. 22.11.2006 - 13 S 2157/06 - juris), da die von der Ausländerbehörde in ihre Ermessenserwägungen einzustellenden Belange des Ausländers auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) nicht Verfassungsrang haben müssen.


Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den im Tenor bezeichneten Beschluss des Verwaltungsgerichts, mit dem es seinen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Rücknahme seines Aufenthaltstitels und die Ausweisung aus dem Bundesgebiet abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.

Die vom Antragssteller dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 3 und 6 VwGO), rechtfertigen eine Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht.

Die Rücknahme- und Ausweisungsverfügung des Antragsgegners beruht auf einer ausreichenden Sachverhaltsermittlung und einer im Kern tragfähigen Ermessensausübung.

Nach den vom Antragsgegner durchgeführten Ermittlungen ist davon auszugehen, dass der Antragsteller bei seiner Eheschließung mit der deutschen Staatsangehörigen C. B., geb. D., am 23. Juni 2000 bereits verheiratet war. Die vertrauensanwaltlichen Ermittlungen in Algerien haben insoweit ergeben, dass im Heiratsregister der Gemeinde E. F. unter der Nr. 115 für den 25. August 1993 eine Eheschließung des Antragstellers mit einer Frau "G. H." verzeichnet ist und auch im Geburtsregister der Gemeinde sowohl bei der Geburtsurkunde des Antragstellers wie auch bei der von Frau H. die Heirat vermerkt ist. "Durchgreifende Zweifel" daran, dass es sich bei der am 23. Juni 2000 im Bundesgebiet geschlossenen Ehe um eine bigamische Ehe gehandelt hat, bestehen daher - entgegen der Auffassung des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers - nicht. Die Behauptung, dem Vertrauensanwalt hätten die vom Antragsteller selbst beschafften Dokumente nicht vorgelegen, wird durch den Akteninhalt nicht bestätigt. Es fällt in den Verantwortungsbereich des Antragstellers, um dessen Personenstandsverhältnisse es geht, die - nach seiner Behauptung - unrichtigen Registereintragungen von seinen Heimatbehörden korrigieren zu lassen. Derartige Bemühungen sind indes nicht erkennbar und auch nicht vorgetragen. Bei dieser Sachlage erscheint die Beweiskraft der vom Vertrauensanwalt ermittelten Registereintragungen ausreichend, um den vom Antragsgegner gezogenen Schluss auf das Bestehen einer Doppelehe im Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse an den Antragsteller zu tragen, auch wenn das an die Deutsche Botschaft gerichtete Schreiben einer Frau "B. I." vom 19. Juni 2005 von "... drei Jahren Ehelebens" spricht, was in Bezug auf den beurkundeten Eheschließungszeitpunkt am 25. August 1993 und den über 11jährigen Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland Fragen offen lässt.

Die nach deutschem Recht aufhebbare Zweitehe kann ausländerrechtlich zwar einer bloßen "Scheinehe" nicht gleichgestellt werden (a.A. VGH Mannheim, Beschl. v. 15.8.2005 - 13 S 951/04 -, juris), worauf der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers insoweit zutreffend hinweist, da das maßgebliche Differenzierungskriterium für den Zuzugsanspruch, die eheliche Lebensgemeinschaft (vgl. §§ 23 Abs. 1, 17 Abs. 1 AuslG, jetzt: §§ 27, 28 AufenthG), hier - anders als bei der "Scheinehe" - nicht fehlt. Für die polygame Ehe hat die höchstrichterliche Rechtsprechung und ihr folgend das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht es bisher offen gelassen, ob diese dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG unterfällt (BVerfG, Beschl. v. 12.5.1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1 ff m.w.N.; BVerwG,Urt. v. 30.4.1985 - 1 C 33.81 -, BVerwGE 71, 228; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.11.2005 - 10 LB 84/05 -, juris; OVG Koblenz, Urt. v. 12.3.2004 - 10 A 11717/03 -, InfAuslR 2004, 294 ff. m.w.N.). Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts umfasst der Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG über inlandsbezogene Ehen hinaus grundsätzlich eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet wurden und ob die Rechtswirkung des ehelichen oder familiären Bandes nach deutschem oder ausländischem Recht zu beurteilen ist, solange die Gemeinschaft nicht dem das Grundgesetz beherrschenden Bild von Ehe und Familie widerspricht (BVerfG, a.a.O.).

Hieraus kann der Antragsteller indes für seine Rechtsposition nichts herleiten. Den Umstand, dass die von ihm mit der deutschen Staatsangehörigen C. B., geb. D., am 23. Juni 2000 geschlossene Ehe eine bigamische Ehe war, hätte er der Ausländerbehörde bei der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis nach der Heirat nicht verschweigen dürfen. Denn dieser Gesichtspunkt war jedenfalls im Hinblick auf den "ordre public"-Vorbehalt für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis von integrationspolitischer Bedeutung (vgl. BVerwG, a.a.O.), da dem Antragsteller der begehrte Aufenthaltstitel für den Zuzug zu seiner deutschen Ehefrau bei Kenntnis dieses Umstandes wohl nicht - jedenfalls nicht ohne weiteres - erteilt worden wäre. Bei Erteilung der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis durch den Landkreis J. am 27. Oktober 2003 galt die am 21. Januar 2003 geborene Tochter seiner Ehefrau - minderjährige deutsche Staatsangehörige - zwar noch als eheliches Kind (das Urteil des Amtsgerichts Wolfsburg zur Vaterschaftsfeststellung erging erst am 2.8.05 - rechtskräftig seit dem 3.2.06) und der - damals noch - personensorgeberechtigte Antragsteller lebte mit ihr in einer gemeinsamen Wohnung, so dass - zu diesem Zeitpunkt - die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 des inzwischen außer Kraft getretenen Ausländergesetzes - im Folgenden: AuslG a.F.- in Betracht gekommen wäre. Eine Aufenthaltserlaubnis auf dieser Grundlage hätte indes nicht als unbefristete erteilt werden können (§§ 23 Abs. 2, 24 Abs. 1 AuslG a.F.), so dass die Rechtswidrigkeit der am 27. Oktober 2003 in Unkenntnis der bigamischen Ehe nach §§ 23 Abs. 1 Nr. 1, 25 Abs. 3 AuslG a.F. erfolgten unbefristeten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nicht in Frage steht.

Eine fehlerhafte Ermessensbetätigung des Antragsgegners lässt sich im Ergebnis auch nicht daraus, dass der Antragsteller sich bei Erlass der ausländerrechtlichen Verfügung vom 16. Oktober 2007 seit über 11 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhielt, davon rund sieben Jahre mit einer Aufenthaltserlaubnis, er gut fünf Jahre - bis zur Scheidung der Ehe am 8. Februar 2005 - mit der deutschen Staatsangehörigen C. B., geb. D., verheiratet war und die fünfjährige Tochter seiner früheren Ehefrau regelmäßig betreut, die ihn - wie sich aus dem Vermerk des Jugendamtes vom 10. August 2007 ergibt - als ihren Vater betrachtet und dass diese Beziehung im Vermerk des Jugendamtes als "sehr vertrauensvoll, liebevoll und eng" beschrieben sowie als "positiv und zum Wohle des Kindes" bewertet wird ableiten.

In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob und unter welchen Voraussetzungen sich der "de facto-Vater" auf Art. 6 GG berufen kann (verneinend VGH Mannheim, Beschl. v. 22.11.2006 - 13 S 2157/06 -, juris), da die von der Ausländerbehörde in ihre Ermessenserwägungen einzustellenden privaten Belange des Ausländers nicht Verfassungsrang haben müssen. Das Recht auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) umfasst die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt, auch wenn eine schutzwürdige familiäre Beziehung nicht besteht (BVerfG, 2. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 -, InfAuslR 2007, 275 ff unter Hinweis auf EGMR, Urt. v. 9.10.2003 - 48321/99 - "Slivenko", EuGRZ 2006, S. 560f.). Dies lässt im Falle der Ausweisung eines Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles jedenfalls angezeigt erscheinen (vgl. BVerwG, Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10/07 -, NVwZ 2008, 326 m.w.N.).

Diese Gesamtwürdigung fällt indes auch unter Berücksichtigung der o.g. Belange nicht zu Gunsten des Antragstellers aus: Er gehört trotz der Aufenthaltsdauer von mehr als 11 Jahren nicht zum Personenkreis der sog. "faktischen Inländer", auf die die Effektivierung des Schutzes des Privatlebens nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vor allem, allerdings nicht ausschließlich, zielt. Der Antragsteller unterhält nach wie vor Beziehungen zu seiner Heimat, auch zu den Verwandten in seinem Heimatort, den er in der Vergangenheit wiederholt besucht hat. Die Situation einer "faktischen Familie" des Antragstellers mit seiner geschiedenen Ehefrau und deren Tochter besteht nicht. Der Antragsteller wohnt nicht mit ihnen zusammen, K. betreut er lediglich während Abwesenheitszeiten der Mutter und wenn das Kind nicht den Kindergarten besucht. Eine wirtschaftliche Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland fehlt; er ist wiederholt wegen Straftaten u.a. zu Geldstrafen verurteilt worden. Der Antragsteller war in der Vergangenheit zur Sicherung seines Lebensunterhaltes auf die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel angewiesen, derzeit wird er - nach seiner Darstellung - von seiner früheren Ehefrau finanziell unterstützt. Bei dieser Sachlage ist die Einschätzung des Antragsgegners, dass das öffentliche Interesse an einer Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers dessen privates Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, im Ergebnis nicht zu beanstanden.

Zwar erscheint die Setzung einer Ausreisefrist von lediglich einem Monat ab Bekanntgabe der Rücknahme- und Ausweisungsverfügung vom 16. Oktober 2007 unter gleichzeitiger Anordnung des Sofortvollzuges mit Rücksicht auf die Dauer des Aufenthaltes und die Betreuungssituation mit Laila, die ihn für ihren Vater hält, unverhältnismäßig. Die gesetzte Frist ist aber durch Zeitablauf ohnehin gegenstandslos geworden, da der Antragsgegner während des gerichtlichen Verfahrens auf die Vollstreckung seiner Verfügung verzichtet und die Ausreisefrist damit faktisch verlängert hat, so dass sich rechtliche Folgerungen hieraus zu Gunsten des Antragstellers nicht ergeben. Ohnehin werden der Antragsteller und seine geschiedene Ehefrau die Fehlvorstellung des Kindes über seine tatsächliche Abstammung nicht dauerhaft bestehen lassen können.

Ende der Entscheidung

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