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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Beschluss verkündet am 13.08.2009
Aktenzeichen: 8 LA 105/09
Rechtsgebiete: AufenthG, FreizügG/EU, VwGO


Vorschriften:

AufenthG § 11
FreizügG/EU § 2
FreizügG/EU § 5
FreizügG/EU § 6
FreizügG/EU § 7
VwGO § 124a Abs. 4 S. 4
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Die Anträge auf Zulassung der Berufung haben keinen Erfolg.

Der 1966 geborene Kläger, albanischer Staatsangehöriger, wurde nach Begehung zahlreicher Straftaten, darunter auch wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, am 11. März 1996 ausgewiesen. Er hat das Bundesgebiet aber bislang nicht verlassen. Seit Januar 2000 ist der Kläger mit einer griechischen Staatsangehörigen verheiratet. Die Eheleute haben zwei gemeinsame Kinder. Gestützt auf § 11 AufenthG befristete die Beklagte mit Bescheid vom 23. November 2007 i. d. F. vom 9. September 2008 die Wirkungen der Ausweisung auf sechs Jahre. Am 30. Mai 2008 erteilte die Beklagte dem Kläger im Hinblick auf die im Bundesgebiet geführte familiäre Lebensgemeinschaft eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Mit weiterem Bescheid vom 27. November 2008 lehnte die Beklagte die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU ab, da die Voraussetzungen dafür nicht vorlägen.

Der Kläger hat im ersten Rechtszug die Verpflichtung der Beklagten begehrt, die Wirkungen seiner Ausweisung mit sofortiger Wirkung zu befristen, hilfsweise über seinen Befristungsantrag erneut zu entscheiden, und ihm eine Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU auszustellen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage hinsichtlich des ersten Hauptantrages abgewiesen, dem Hilfsantrag jedoch entsprochen. Der Kläger sei im Jahre 1996 ausgewiesen worden, also vor dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes im Januar 2005. Es handele sich deshalb also um eine sog. Altausweisung. Eine solche Altausweisung gelte nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der die Kammer folge, unverändert fort und stehe heute der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 6 FreizügG/EU gleich. Die Wirkungen der Altausweisung seien auch nicht durch die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG vollständig entfallen. Über die Befristung der Wirkungen der demnach in eingeschränktem Umfang weiterhin wirksamen Altausweisung sei in entsprechender Anwendung des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU zu entscheiden. Danach stehe dem Kläger zwar kein Anspruch auf einen sofortigen Wegfall der verbliebenen Wirkungen der Altausweisung zu. Die Beklagte müsse ihn insoweit aber neu bescheiden. Denn sie habe über die Befristung auf der Grundlage des § 11 AufenthG und damit auf einer für den Kläger im Verhältnis zu der richtigen Rechtsgrundlage des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU ungünstigeren Rechtsgrundlage entschieden. Da der Kläger wegen der als Verlustfeststellung i. S. d. § 6 FreizügG/EU fortwirkenden Altausweisung nicht freizügigkeitsberechtigt sei, könne auch seinem weiteren Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU nicht entsprochen werden.

Der gegen dieses Urteil gerichtete Zulassungsantrag des Klägers hat keinen Erfolg, weil der Antrag nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entspricht. Wird - wie hier - ein Urteil angegriffen, das auf mehrere Hauptanträge und einen Hilfsantrag ergangen ist, so erfordert die nach § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO erforderliche Darlegung der Zulassungsgründe, dass aus dem Zulassungsvorbringen erkennbar ist, welcher der in § 124 Abs. 2 VwGO genannten Zulassungsgründe hinsichtlich welches Antrages vorliegen soll (vgl. Senatsbeschl. v. 24.5.2006 - 8 LA 139/05 -, GewArch 2009, 212 ff.). Diesen Anforderungen wird der Zulassungsantrag des Klägers nicht gerecht. Schon der Zulassungsgrund wird nicht genannt. Im Übrigen folgen nach einer kurzen Wiedergabe des Sachverhaltes sprunghafte Ausführungen, die keinem der genannten Klageanträge zugeordnet werden und teilweise sogar im Widerspruch zu den in erster Instanz gestellten Anträgen stehen. So beruft sich der Kläger darauf, dass sich die Wirkungen der Ausweisung durch die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis insgesamt erledigt haben. In diesem Falle bedürfte es aber des von ihm in erster Instanz vorrangig gestellten Antrages auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung gar nicht mehr.

Selbst wenn man zu Gunsten des Klägers annimmt, er wolle sich auf den Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO berufen, und weiterhin versucht, sein Vorbringen insoweit sachgerecht den in erster Instanz gestellten Anträgen zuzuordnen, so kann seinem Antrag nicht entsprochen werden.

Die Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 2 FreizügG/EU kann dem Kläger nur erteilt werden, wenn die "Altausweisung", die nach den vorherigen Ausführungen grundsätzlich der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 6 FreizügG/EU entspricht, (insgesamt) unwirksam geworden ist. Als Grund für die Unwirksamkeit kommt hier nur die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht. Das Verwaltungsgericht hat unter Bezugnahme auf obergerichtliche Rechtsprechung im Einzelnen begründet, warum durch die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels die Wirkungen der Ausweisung (nach Maßgabe des Aufenthaltsgesetzes) nicht insgesamt erloschen sind. Die Richtigkeit dieser Ausführungen wird nicht allein dadurch ernstlich in Zweifel gezogen, dass der Kläger die gegenteilige Ansicht vertritt und dazu letztlich auf Kommentierungen zur Rechtslage nach dem Ausländergesetz verweist. Weitergehende Gründe, aus denen die Wirkungen der Ausweisung insgesamt erloschen seien, benennt der Kläger nicht. Deshalb ist in diesem Verfahren auch nicht näher der Frage nachzugehen, ob § 6 FreizügG/EU überhaupt den teilweisen Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 FreizügG/EU zulässt, wie stillschweigend vom Verwaltungsgericht angenommen worden ist.

Dem Kläger steht auch nicht der erstinstanzlich vorrangig geltend gemachte, nach seinem Zulassungsvorbringen aber wohl eher nachrangig verfolgte Anspruch zu, die Wirkungen der Altausweisung auf "sofort" zu befristen. Selbst nach der vom Verwaltungsgericht hier für maßgeblich gehaltenen - und für den Kläger günstigeren - Rechtsgrundlage des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU sind die dafür notwendigen Voraussetzungen nicht gegeben. Wie bereits das Verwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 4.9.2007 - 1 C 21/07 -, BVerwGE 129, 243 ff.) ausgeführt hat, ist über die Länge der Sperrfrist nach den aktuellen Verhältnissen zu entscheiden und im Falle einer dauerhaft fortbestehenden Rückfall- bzw. Gefährdungsprognose auch bei Unionsbürgern (und damit auch bei ihren Familienangehörigen) eine längere Sperrfrist nicht ausgeschlossen. Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass der Kläger auch nach seiner Ausweisung wieder straffällig geworden ist. Gegenwärtig ist gegen ihn ein weiteres Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Beteiligung am Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringem Umfang anhängig. Dem Kläger kann daher nicht in der sinngemäßen Annahme gefolgt werden, dass an der Altausweisung bzw. der Verlustfeststellung wegen der nicht mehr bestehenden Wiederholungsgefahr nicht mehr festgehalten werden könne. Ebenso wenig ergibt sich eine solche Rechtsfolge aus einem Vorrang der familiären Interessen gegenüber dem gegenläufigen öffentlichen Interesse. Dazu müsste es sich um einen sog. "Extremfall" handeln (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.9.2007, a. a. O.). Ein solcher ist vorliegend nicht gegeben. Es besteht ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Bekämpfung des illegalen Handels mit Betäubungsmitteln. Zudem ist den familiären Interessen schon durch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG teilweise Rechnung getragen worden.

Der Zulassungsantrag der Beklagten hat ebenfalls keinen Erfolg. Die Beklagte wendet sich in der Sache gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, über die Länge der Sperrfrist müsse vorliegend in entsprechender Anwendung des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU und deshalb neu entschieden werden. Die Beklagte hält vielmehr unverändert die von ihr getroffene Entscheidung für zutreffend, die Länge der Sperrfrist nach § 11 AufenthG und den dazu ergangenen Verwaltungsvorschriften zu bemessen. Denn für den Kläger sei nicht das FreizügG/EU einschließlich dessen § 7, sondern das allgemeine Ausländerrecht, also das Aufenthaltsgesetz einschließlich dessen § 11, anzuwenden. Der Beklagten ist zwar im Ansatz ihrer Ausführungen zu folgen, dass auf einen nicht (mehr) freizügigkeitsberechtigten Ausländer - wie gegenwärtig den Kläger - grundsätzlich das Aufenthaltsgesetz anzuwenden ist. Dies ergibt sich unmittelbar aus § 11 Abs. 2 Halbsatz 1 FreizügG/EU, wenn - wie hier - der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt worden ist. Allerdings übersieht die Beklagte den zweiten Halbsatz dieser Bestimmung. Danach gilt die Verweisung nur, soweit das FreizügG/EU keine besonderen Regelungen enthält. Eine solche besondere Regelung für die streitige Befristung der Wirkungen der Feststellung, der Ausländer habe sein Freizügigkeitsrecht verloren, enthält aber gerade § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Wie sich aus § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU ergibt, gilt diese Bestimmung sowohl für Unionsbürger als auch für deren Familienangehörige und zwar gerade auch für den Fall, dass sie nicht mehr freizügigkeitsberechtigt sind. Gegen die Anwendbarkeit des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU kann schließlich auch nicht erfolgreich eingewandt werden, dass diese Bestimmung dem Wortlaut nach eine Verlustfeststellung voraussetze, hier aber keine solche Feststellung, sondern eine davon zu unterscheidende Ausweisung erfolgt sei. Mit diesem Argument hat sich bereits das Bundesverwaltungsgericht (Urt. v. 4.9.2007, a. a. O.) eingehend auseinandergesetzt und ausgeführt, dass § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU deshalb auf "Altausweisungen" nur entsprechende Anwendung finde. Dieser Rechtsprechung ist schon im Interesse der Wahrung des Gemeinschaftsrechts zu folgen. Denn das FreizügG/EU dient der Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG, der sog. Unionsbürgerrichtlinie. Danach genießen unter den darin genannten Voraussetzungen grundsätzlich auch Familienangehörige von Unionsbürgern Freizügigkeit. Eine Beschränkung dieses Rechts ist unter den in Kapitel VI aufgeführten Bedingungen möglich, die innerstaatlich durch §§ 6 und 7 FreizügG/EU umgesetzt worden sind. Die Richtlinie nimmt hingegen nicht - wie dies im Ergebnis von der Beklagten geltend gemacht wird - diejenigen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen dauerhaft von ihrem Schutzbereich aus, die bereits vor dem Inkrafttreten der Richtlinie aus einem Mitgliedstaat ausgewiesen worden sind. Dementsprechend bestimmt Ziffer 11.1.1.2 Satz 1 der Vorläufigen Niedersächsischen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz zutreffend, dass für Unionsbürger und EWR-Bürger sowie deren Familienangehörige § 11 Abs. 1 AufenthG auch nach dem Verlust des Freizügigkeitsrechts nicht gilt.

Schließlich mangelt es dem Kläger auch nicht an dem von der Beklagten bezweifelten Rechtsschutzinteresse für eine erneute Entscheidung über die Länge der Sperrfrist. Insoweit kann offen bleiben, ob sich - wie die Beklagte offenbar annimmt - die Wirkungen der Altausweisung heute in einem Verbot der Wiedereinreise erschöpfen. Selbst wenn man dies für richtig hält, ist nicht zu erkennen, warum der Kläger nicht ein Interesse daran haben sollte, dass dieses Wiedereinreiseverbot nur für eine möglichst kurze Zeit gilt und er das Bundesgebiet dann nur vorübergehend verlassen muss.

Ernstliche Zweifel i. S. d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die Beklagte zur Neubescheidung des Befristungsantrages auf der Grundlage des § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU zu verpflichten, bestehen daher nicht. Schon aus den genannten Gründen kommt insoweit auch keine Zulassung nach § 124 Abs. 2 Nrn. 2 oder 3 VwGO in Betracht.

Ende der Entscheidung

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