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Gericht: Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht
Urteil verkündet am 12.09.2007
Aktenzeichen: 8 LB 34/06
Rechtsgebiete: AufenthG, EMRK, VwGO


Vorschriften:

AufenthG § 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
EMRK Art. 8
VwGO § 114
VwGO § 161 Abs. 2
Grundsätze für die Ermesssensausübung nach § 52 I 1 Nr. 4 AufenthG.
NIEDERSÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT LÜNEBURG URTEIL

Aktenz.: 8 LB 34/06

Datum: 12.09.2007

Gründe:

Die Kläger zu 1) bis 4) wenden sich gegen den von der Beklagten auf § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG gestützten Widerruf der ihnen erteilten Niederlassungserlaubnisse.

Der Kläger zu 1) wurde am 13. Oktober 1970 in der Gemeinde C. (Kosovo), heutiges Serbien, als damaliger jugoslawischer Staatsangehöriger geboren. Er ist nach seinen Angaben albanischer Volkszugehöriger und besitzt die islamische Religionszugehörigkeit. Bei den weiteren Klägern handelt es sich um seine am 21. Januar 1973 in der gleichen Gemeinde wie der Kläger zu 1) geborene Ehefrau (Klägerin zu 2)) sowie ihre gemeinsamen, zwischen 1993 und 1996 in Hannover geborenen Kinder, die Kläger zu 3) bis 5).

Die Kläger zu 1) und 2) stellten im Jahr 1992 Asylanträge. In diese Asylverfahren wurden die Kläger zu 3) und 4) nach ihrer Geburt einbezogen. Auf Grund verwaltungsgerichtlicher Verpflichtung erkannte das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Kläger zu 1) bis 4) mit Bescheid vom 6. März 1995 als Asylberechtigte und Flüchtlinge (§ 51 Abs. 1 AuslG) an. Die Kläger zu 1) bis 4) erhielten daraufhin am 6. April 1995 unbefristete Aufenthaltserlaubnisse. Die Asylberechtigung der Kläger zu 1) bis 4) und ihre Flüchtlingsanerkennung wurden im Hinblick auf die geänderte Lage von albanischen Volkszugehörigen aus dem Kosovo mit Bescheid des Bundesamtes vom 23. Oktober 2003 widerrufen; zugleich wurde festgestellt, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Der Bescheid wurde am 11. November 2003 bestandkräftig.

Mit Schreiben vom 2. Dezember 2004 hörte die Beklagte die Kläger zu 1) bis 4) zu dem beabsichtigen Widerruf der ihnen erteilten Aufenthaltserlaubnisse an. Sie teilte den Klägern mit, dass sie alle ihnen günstigen Umstände darzulegen hätten und dass hierzu insbesondere auch alle für die Integration erbrachten Leistungen zählten. Auf die Möglichkeit, nachträgliches Vorbringen gemäß § 70 AuslG unberücksichtigt zu lassen, wurden die Kläger ausdrücklich hingewiesen. Die Kläger zu 1) und 2) legten daraufhin Bescheinigungen über ihre Erwerbstätigkeit vor. Der zum damaligen Zeitpunkt als "Trockenbauer" selbständige Kläger zu 1) bezog sich auf eine von seiner Steuerberaterin erstellte "kurzfristige Erfolgsrechnung" zum November 2004, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Für die Klägerin zu 2) wurden ein Arbeitsvertrag sowie Lohnabrechnungen für eine Tätigkeit als Raumpflegerin eingereicht, aus der sie monatlich schwankend durchschnittlich ca. 450,- EUR und maximal bis zu 500, - EUR erzielte. Für die Kläger zu 3) bis 5) wurden Schulbescheinigungen (Grund-, Haupt- und Realschule) vorgelegt.

Die Beklagte widerrief mit Bescheid vom 28. Januar 2005, nach Aktenlage abgesandt am 2. Februar 2005, die den Klägern zu 1) bis 4) erteilten Aufenthaltserlaubnisse, die gemäß § 101 Abs. 1 AufenthG ab dem 1. Januar 2005 als Niederlassungserlaubnisse fortgalten. Mangels fortbestehenden Aufenthaltstitels seiner Eltern wurde zugleich die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis für den Kläger zu 5) abgelehnt, für den kein Asylverfahren durchgeführt und dem nach seiner Geburt im Jahr 1996 eine bis zum Oktober 2004 befristet geltende Aufenthaltserlaubnis erteilt worden war. Den ausgesprochenen Widerruf stützte die Beklagte auf § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG. Diese Bestimmung lasse nach dem - vorliegend bestandkräftig erfolgten - Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigte und der Flüchtlingsanerkennungen auch den Widerruf der darauf beruhenden Aufenthaltstitel zu. Ob ein solcher Widerruf erfolge, stehe im Ermessen der Ausländerbehörde, sofern dem Betroffenen nicht ein Anspruch auf eine asylunabhängige Niederlassungserlaubnis zustehe. Letzteres sei vorliegend nicht der Fall. Damit bestehe bereits grundsätzlich der Vorrang des öffentlichen Interesses am Widerruf der Niederlassungserlaubnisse. Bei der Entscheidung über den Widerruf sei im Rahmen des pflichtgemäßen Ermessens das öffentliche Interesse an dem Widerruf gegenüber dem privaten Interesse an dem Bestand der Niederlassungserlaubnisse abzuwägen. Zwar hielten sich die Kläger zu 1) und 2) schon etwa 13 Jahre im Bundesgebiet auf; dies stelle jedoch an sich noch keine Integrationsleistung dar. Zudem sei der Kläger zu 1) mehrfach strafgerichtlich verurteilt worden, u. a. wegen des Erschleichens von Leistungen, wegen Betruges sowie wegen gefährlicher Körperverletzung. Weiterhin wurde von der Beklagten bezweifelt, dass der Kläger zu 1) aus der von ihm im Januar 2004 aufgenommenen selbständigen Erwerbstätigkeit im Bereich Trocken- und Innenausbau den Lebensunterhalt der Familie sichern könne. Die dazu vorgelegten Unterlagen seien unzutreffend. Der Klägerin zu 2) wurden ihre trotz langjährigen Aufenthalts nur unzureichenden Kenntnisse der deutschen Sprache vorgehalten. Dass die Kläger zu 4) und 5) die Grund- bzw. Realschule besuchten, sei keine besondere Integrationsleistung, sondern normales Alltagsgeschehen. Andere Integrationsleistungen, etwa besondere Tätigkeiten im öffentlichen Interesse, lägen bei den Klägern nicht vor. Sie seien zudem in einem Alter, in dem ihnen die Wiedereingliederung in die Verhältnisse ihres Heimatlandes durchaus zugemutet werden könne. Im Ergebnis müsse daher das private Interesse an dem weiteren Bestand der Niederlassungserlaubnisse hinter dem öffentlichen Interesse am Widerruf zurücktreten.

Die Kläger haben daraufhin am 2. März 2005 Klage erhoben. Mit ihrer Klagebegründung haben sie sich vorrangig gegen die Annahme der Beklagten gewandt, sie (die Kläger zu 1) und 2)) könnten den Lebensunterhalt der Familie nicht aus eigenen Mitteln sicherstellen. Dazu haben sie weitere Unterlagen der Steuerberaterin des Klägers zu 1) sowie Gehaltsbescheinigungen für die Klägerin zu 2) vorgelegt.

Sie haben beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die dem Kläger zu 5) erteilte Aufenthaltserlaubnis zu verlängern.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie über die Ausführungen im angefochtenen Bescheid hinaus darauf verwiesen, dass gegen den Kläger zu 1) ein weiteres Strafverfahren anhängig sei, nämlich wegen Veruntreuung von Arbeitsentgelt.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben. Der Widerruf der Niederlassungserlaubnisse sei ermessensfehlerhaft erfolgt. Die Beklagte habe ihrer Entscheidung einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt. Sie hätte auf die aktuelle Einkommenslage der Kläger im Entscheidungszeitpunkt der Behörde, d. h. am 28. Januar 2005, abstellen müssen, habe dies jedoch zumindest hinsichtlich der aktuellen Bilanz für den damaligen Betrieb des Klägers zu 1) nicht getan. Ferner fehle es bei der Ermessensentscheidung an der notwendigen Abwägung der eingestellten Belange, insbesondere hinsichtlich der dem Kläger zu 1) vorgehaltenen Straftaten. Eine bloße Wiederholung des Strafregisterauszugs reiche dazu nicht. Notwendig sei eine Gewichtung, an der es vorliegend mangele. Da die Kläger zu 1) und 2) somit weiterhin im Besitz von Niederlassungserlaubnissen seien, sei auch dem Kläger zu 5) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, und zwar nach § 34 Abs. 1 AufenthG.

Auf den Antrag der Beklagten hat der Senat mit Beschluss vom 17. März 2006 die Berufung gegen das vorbezeichnete Urteil des Verwaltungsgerichts gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen. Nach Zustellung dieses Beschlusses am 23. März 2006 ist die Berufung am 21. April 2006 unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Zulassungsantrag begründet worden. Die Beklagte wendet sich darin insbesondere gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, in dem angefochtenen Bescheid sei die wirtschaftliche Lage der Kläger im Entscheidungszeitpunkt unzureichend gewürdigt worden. Dazu müsse nicht geklärt werden, ob die vom Kläger zu 1) jeweils vorgelegten Erfolgsrechnungen inhaltlich richtig gewesen seien oder nicht. Jedenfalls sei ihre diesbezügliche Kernannahme zutreffend, dass im Entscheidungszeitpunkt nicht die notwendige Prognose habe abgegeben werden können, der Lebensunterhalt der klägerischen Familie sei aus eigenen Mitteln gesichert. Hierfür spreche auch, dass der Kläger zu 1) das von ihm noch zum Jahresbeginn 2005 ausgeübte Gewerbe als Trockenbauer bereits im Oktober 2005 wieder abgemeldet habe. Diese selbständige Tätigkeit habe also offenbar gerade keine dauerhafte Sicherung des Lebensunterhalts der Familie ermöglicht. Sie - die Beklagte - habe auch nicht lediglich Umstände zusammengetragen, sondern darüber hinaus abgewogen. Dass das von ihr in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht angeführte Ermittlungsverfahren gegen den Kläger zu 1) wegen Veruntreuung von Arbeitsentgelt zwischenzeitlich nach § 153 StPO eingestellt worden sei, sei unerheblich.

Die Kläger sind im Oktober 2006 in den Landkreis D. am Bodensee verzogen. Dort sind den Klägern zu 2) bis 5) im Juli 2007 bis zum Januar 2008 befristete Aufenthaltserlaubnisse erteilt worden. Daraufhin haben die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung den Rechtsstreit hinsichtlich des Klägers zu 5) übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt.

Die Beklagte beantragt,

das auf die mündliche Verhandlung vom 30. September 2005 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 10. Kammer (Einzelrichter) - zu ändern, soweit es die Kläger zu 1) bis 4) betrifft, und deren Klage abzuweisen.

Die Kläger zu 1) bis 4) beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie machen sich die Begründung des verwaltungsgerichtlichen Urteils zu Eigen und weisen ferner auf die Einstellung des gegen den Kläger zu 1) zwischenzeitlich geführten Ermittlungsverfahrens hin. Ergänzend haben sie Bescheinigungen der Klassenlehrer der Kläger zu 3) und 4) vom Mai 2006 vorgelegt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der Beiakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich des Klägers zu 5) in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren insoweit in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen und das Urteil des Verwaltungsgerichts gemäß § 173 VwGO i. V. m. § 269 Abs. 3 Satz 1 ZPO analog für unwirksam zu erklären.

Im Übrigen ist die Berufung der Beklagten gegen das die Kläger zu 1) bis 4) betreffende Urteil des Verwaltungsgerichts zwar zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt und durch die Bezugnahme auf die Begründung des Zulassungsantrags auch ordnungsgemäß begründet worden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 4.5.2006 - 6 B 77/05 -, Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 31, m. w. N.). Die Berufung ist aber unbegründet, da das Verwaltungsgericht der von den Klägern zu 1) bis 4) erhobenen Anfechtungsklage im Ergebnis zu Recht stattgegeben hat.

Als Rechtsgrundlage für den Widerruf der den Klägern zu 1) bis 4) noch unter Geltung des Ausländergesetzes erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnisse, die nach Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes gemäß dessen § 101 Abs. 1 Satz 1 als Niederlassungserlaubnisse fortgelten, kommt nur § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in Betracht. Mit dem bestandskräftigen Widerruf der Anerkennung der Kläger zu 1) bis 4) als Asylberechtigte und ihrer Rechtsstellung als Flüchtlinge sind die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm gegeben. Der Beklagten ist auch in der Annahme zu folgen, dass den Klägern zu 1) bis 4) kein Anspruch auf Erteilung einer anderweitigen, asylunabhängigen Niederlassungserlaubnis zusteht.

Der Widerruf der Niederlassungserlaubnis steht somit im Ermessen der Beklagten. Die Beklagte hat dieses Ermessen fehlerhaft ausgeübt und dadurch die Kläger zu 1) bis 4) in ihren Rechten verletzt.

Prüfprogramm der Ermessensentscheidung ist die Frage, ob es im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, auf den es bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei der vorliegenden Anfechtungsklage maßgeblich ankommt, gerechtfertigt gewesen ist, dem Ausländer die asyl- bzw. flüchtlingsbedingt erteilte Niederlassungserlaubnis zu entziehen, oder ob diese Form des Aufenthaltstitels zu belassen war. Eine Zwischenlösung gibt es hingegen nicht. Der Gegenstand des Widerrufs ist nicht teilbar. Der Widerruf kann also nicht dahingehend beschränkt werden, dass dem Ausländer eine Niederlassungserlaubnis entzogen wird, dafür zumindest aber eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis "verbleibt". Über die Erteilung eines solchen, im Verhältnis zur Niederlassungserlaubnis "geringwertigeren" Aufenthaltstitels ist vielmehr in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2003 - 1 C 13/02 -, BVerwGE 117, 380, 391 zu § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG als Vorgängervorschrift des § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG; VGH Mannheim, Urt. v. 26.7.2006 - 11 S 951/06 -, ZAR 2006, 414 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, § 52 AufenthG, Rn. 31; unklar: OVG Saarlouis, Beschl. v. 23.5.2006 - 2 W 9/06 -, sowie Schäfer, in: GK-AufenthG, § 52 AufenthG, Rn. 88, 96). Ob dem betroffenen Ausländer ein Anspruch auf Erteilung einer (im Verhältnis zur Niederlassungserlaubnis geringwertigeren) befristeten Aufenthaltserlaubnis, etwa nach § 25 Abs. 4 oder 5 AufenthG zusteht, ist im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Widerruf der Niederlassungserlaubnis gleichwohl nicht von vornherein vollkommen unerheblich. Vielmehr kann und muss dieser Gesichtspunkt gegebenenfalls in die Ermessensentscheidung über den Widerruf gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG eingestellt werden. Denn es macht insoweit einen Unterschied, ob mit dem Widerruf zugleich zwingend das Verlassen des Bundesgebiets verbunden ist oder der Betroffene im Falle eines Anspruchs auf Erteilung eines geringwertigeren Aufenthaltstitels "nur" seinen höherwertigen Aufenthaltstitel, nicht aber darüber hinausgehend auch das Recht auf Verbleib im Bundesgebiet verliert (so zutreffend VGH Mannheim, a. a. O., sowie OVG Münster, Beschl. v. 7.7.2006 - 18 A 3138/05 -, InfAuslR 2006, 427 ff.).

Darüber hinaus hat der Gesetzgeber das der Behörde nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG eröffnete Widerrufsermessen nicht an ausdrücklich bestimmte Vorgaben geknüpft, sondern ihr insoweit einen weiten Spielraum eröffnet. Die Behörde darf dabei grundsätzlich davon ausgehen, dass in der Regel ein gewichtiges öffentliches Interesse an dem Widerruf des Aufenthaltstitels besteht. Bei ihrer Ermessensausübung muss die Ausländerbehörde allerdings sämtliche Umstände des Einzelfalls und damit auch die schutzwürdigen Belange des Ausländers an einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick nehmen. Dazu gehören insbesondere auch die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2003, a. a. O.). Diese noch zu § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG als Vorgängervorschrift des § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG ergangene Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch auf den Widerruf gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG zu übertragen.

Gemessen an diesen Vorgaben ist die Widerrufsentscheidung der Beklagten ermessensfehlerhaft i. S. v. § 114 Satz 1 VwGO.

Es kann dabei offen bleiben, ob die Beklagte bei ihrer Ermessensentscheidung zu Unrecht von einem grundsätzlichen Vorrang des öffentlichen Interesses am Widerruf der Niederlassungserlaubnisse ausgegangen ist und ihrem Widerruf deshalb schon einen unzutreffenden rechtlichen Ausgangspunkt zu Grunde gelegt hat (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 26.7.2006, a. a. O.; Senatsbeschl. v. 1.12.2006 - 8 LA 127/06 -). Unabhängig davon ist jedenfalls aber die sich daran anschließende Abwägung des öffentlichen Interesses am Widerruf gegenüber dem privaten Interesse der Kläger zu 1) bis 4) am Erhalt der Niederlassungserlaubnisse ermessensfehlerhaft gewesen.

Die Beklagte ist entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass der notwendige Lebensunterhalt der Kläger nicht aus eigenen Mitteln im Sinne des § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert war. Für die Kläger ergab sich zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Bescheides vom 28. Januar 2005 ein Gesamtbedarf in Höhe von 1.873,63 EUR. Als insoweit berücksichtigungsfähige dauerhafte Einkünfte standen den Klägern im Januar 2005 das Kindergeld in Höhe von insgesamt 462,- EUR monatlich und die regelmäßigen Einkünfte der Klägerin zu 2) aus ihrer Reinigungstätigkeit zur Verfügung. Selbst ohne zusätzlichen Abzug eines ("Bonus"-)Betrages für Erwerbstätigkeit entsprechend §§ 11, 30 SGB II ergab sich aus der Reinigungstätigkeit der Klägerin zu 2) maximal ein Nettoverdienst von 500,- EUR, zusammengenommen also ein Familieneinkommen von nicht einmal 1.000,- EUR monatlich. Es verblieb ein aus Einkünften des Klägers zu 1) zu deckender monatlicher Restbedarf von mehr als 900,- EUR. Dass er diesen aus seiner damaligen selbständigen Tätigkeit als Trockenbauer (oder anderweitig) verlässlich, also dauerhaft (vgl. Beschl. des 11. Senats des erkennenden Gerichts v. 29.11.2006 - 11 LB 127/06 -, juris, m. w. N.) werde decken können und deshalb das Familieneinkommen i. S. v. § 2 Abs. 3 AufenthG gesichert gewesen sei, hat die Beklagte zu Recht verneint. Die von der Steuerberaterin des Klägers zu 1) vorgelegten Bescheinigungen bzw. Bilanzen über die Einnahmen aus seiner selbständigen Erwerbstätigkeit waren damals vorläufig und in ihrer Aussagekraft beschränkt. Stattdessen hat die Beklagte zu Recht berücksichtigt, dass der Kläger zu 1) seine selbständige Tätigkeit erst vor einem Jahr, nämlich im Januar 2004, aufgenommen hatte, bereits in der Vergangenheit mit einer selbständigen Tätigkeit gescheitert sowie außerdem mehrfach arbeitslos gewesen war und daher nicht angenommen werden konnte, aus dieser selbständigen oder einer abweichenden unselbständigen Erwerbstätigkeit werde der Kläger zu 1) das notwendige Familieneinkommen verlässlich sicherstellen können. Diese Annahme der Beklagten hat sich nachfolgend als richtig erwiesen. Der Kläger zu 1) hat seine selbständige Tätigkeit tatsächlich bereits im Oktober 2005 wieder aufgegeben und ist danach - soweit ersichtlich - arbeitslos gewesen.

Wie bereits in dem Zulassungsbeschluss des Senats dargelegt, ist die Ermessensentscheidung der Beklagten auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil die vom Kläger zu 1) im Bundesgebiet begangenen Straftaten in dem angefochtenen Bescheid nicht noch einmal ausdrücklich gewichtet und zeitlich bewertet worden sind. Der Beklagten lag im Januar 2005 ein Strafregisterauszug vom 30. März 2004 vor, in dem insgesamt acht Verurteilungen des Klägers zu 1), zuletzt aus dem Mai 2000 wegen Betruges, enthalten waren. Die Beklagte hat zudem auf ein weiteres von ihr eingeleitetes und zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung noch laufendes Ermittlungsverfahren wegen Betruges hingewiesen. Dieser Ablauf spricht für sich und gegen den Kläger zu 1). Weiterer Ausführungen zu einer insoweit ersichtlich fehlgeschlagenen Integration des Klägers zu 1) in die Verhältnisse im Bundesgebiet bedurfte es daher nicht. Auf eine evtl. aus diesen Straftaten abzuleitende Wiederholungsgefahr hat die Beklagte nicht abgestellt und sie musste deshalb dazu auch keine näheren Ausführungen in ihren Bescheid aufnehmen.

Ungeachtet dessen ist die Ermessensentscheidung der Beklagten aber deshalb rechtsfehlerhaft, weil die schutzwürdigen Belange der im Bundesgebiet geborenen und hier ausschließlich aufgewachsenen Kläger zu 3) bis 5) unzureichend berücksichtigt worden sind. Zwar haben die Kläger zu 1) und 2) trotz Hinweises auf ihre Mitwirkungsobliegenheiten nach § 70 AuslG bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung im Januar 2005 insoweit lediglich Bescheinigungen über den Schulbesuch ihrer Kinder vorgelegt. Unabhängig davon war der Beklagten aus den Ausländerakten aber bekannt und von ihr daher zu berücksichtigen (vgl. Beschl. des 10. Senats des erkennenden Gerichts v. 5.3.2007 - 10 ME 64/07 -, juris), dass die Kläger zu 3) und 4) ebenso wie der Kläger zu 5) im Bundesgebiet geboren und hier aufgewachsen sind. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Kinder zwischenzeitlich mit ihren Eltern in Serbien oder Montenegro aufgehalten haben, und sei es auch nur urlaubshalber, bestehen nicht. Bei dieser Sachlage musste sich die Beklagte auch ohne ausdrücklichen Vortrag der Kläger im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen mit der Frage beschäftigen, ob und unter welchen Schwierigkeiten den Klägern zu 3) und 4) sowie ihrem Bruder, dem Kläger zu 5), eine Eingliederung (nicht: Wiedereingliederung) in die Verhältnisse im Kosovo möglich sein wird und ob sie hierauf in Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung der gesamten Familie verwiesen werden können. In diesem Zusammenhang hätte insbesondere auch geprüft werden müssen, ob den Klägern zu 3) und 4) nicht insoweit Abschiebungsschutz kraft ihres nach Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatlebens zukommt (vgl. zum Schutzgehalt dieser Bestimmung zu Gunsten von (volljährigen) Ausländern der sog. 2. Generation jüngst etwa: BVerfG, Beschl. v. 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 -, InfAuslR 2007, 275 ff., sowie EGMR, Entscheidung v. 28.6.2007 - 31753/02 - Kaya./.Deutschland -, (2007) EGMR 538, jetzt auszugsweise abgedruckt in InfAuslR 2007, 325 f.). Bejahendenfalls wäre zu prüfen gewesen, ob deshalb vom Widerruf der Niederlassungserlaubnisse abgesehen wird oder ob die Kläger zu 3 und 4) und ihre Eltern insoweit auf die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 8 EMRK verwiesen werden können und sollen. Dieser gebotenen Prüfung steht auch für die Kläger zu 3) und 4) nicht bereits die Bestandskraft des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 23. Oktober 2003 entgegen, mit dem (u. a.) das Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG verneint worden ist. Damit ist für die Beklagte als Ausländerbehörde gemäß § 42 Satz 1 AufenthG nur bindend festgestellt worden, dass den betroffenen Klägern - für den Kläger zu 5) gilt dies ohnehin nicht, da für ihn kein Asylverfahren durchgeführt worden ist - in (dem damaligen) Serbien und Montenegro keine existentiellen Gefahren drohen. Dass ihnen unterhalb dieser Gefahrenschwelle keine Schwierigkeiten drohen, ist damit hingegen nicht entschieden worden. Solche Schwierigkeiten sind aber im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Widerruf nach § 52 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigen (vgl. VGH Kassel, Beschl. v. 28.5.2003 - 12 ZU 2805/02 -, ESVGH 53, 221 ff.; Hailbronner, a. a. O., Rn. 32).

Statt dieser gebotenen Prüfung und Abwägung finden die Interessen der Kläger zu 3) und 4) sowie des Klägers zu 5), dessen Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet letztlich ebenfalls vom Widerruf der den übrigen Familienmitgliedern erteilten Niederlassungserlaubnisse abhängt, im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Widerruf von der Beklagten tatsächlich nur insoweit Berücksichtigung, als ihr Besuch der Grund- (richtig: Haupt-) und Realschule angeführt wird. Hierbei handelt es sich nach dem Bescheid "jedoch nicht um eine besondere Integrationsleistung, sondern normales Alltagsgeschehen". Diese Aussage trifft als solche zu, schöpft aber die zuvor beschriebenen, insgesamt in den Blick zu nehmenden Ermessensgesichtspunkte ersichtlich nicht aus. Denn es macht gerade einen erheblichen Unterschied, ob ein in seinem Heimatland aufgewachsener und erst im Erwachsenenalter ins Bundesgebiet eingereister Ausländer nach ggf. auch langjährigem Aufenthalt im Bundesgebiet - wie die Kläger zu 1) und 2) - darauf verwiesen wird, wieder in sein Heimatland zurückzureisen, oder dies auch einheitlich für eine Familie gelten soll, deren Kinder im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sind und die deshalb das Land ihrer Staatsangehörigkeit gar nicht kennen. Insoweit trifft der weiter in dem Bescheid enthaltene Satz, dass sie zudem in einem Alter seien, in dem ihnen die Wiedereingliederung in die Verhältnisse ihres Heimatlandes "durchaus zugemutet werden kann", eben nur auf die Kläger zu 1) und 2) zu. Ob eine solche Eingliederung aber auch für die Kinder der Kläger zu 1) und 2) zumutbar ist, bleibt offen. Insoweit kann sich die Beklagte auch nicht erfolgreich auf den Grundsatz berufen, dass Kinder ausländerrechtlich das Schicksal der Eltern teilen. Denn bei der hier zu beurteilenden Ermessensentscheidung sind gerade sämtliche Umstände des Einzelfalles in den Blick zu nehmen. Außerdem lässt das Aufenthaltsgesetz auch im Übrigen Durchbrechungen des geltend gemachten Grundsatzes zu, wenn sich die ausländerrechtliche Lage der Kinder etwa durch eine Sozialisation im Bundesgebiet entscheidend von der ihrer Eltern unterscheidet, wie auch aus § 104 b AufenthG deutlich wird.

Der Bescheid ist insoweit auch nicht in einem späteren Verfahrensstadium in zulässiger Weise (§ 114 Satz 2 VwGO) um noch fehlende Ermessenserwägungen ergänzt worden.

Der Widerruf der Niederlassungserlaubnisse ist danach ermessensfehlerhaft erfolgt und verletzt die Kläger zu 1) bis 4) in ihren Rechten. Die Berufung der Beklagten gegen das der Anfechtungsklage stattgebende Urteil ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 161 Abs. 2 VwGO. Dass die Beklagte auch die Kosten des erledigten Verfahrensteils zu tragen hat, entspricht billigem Ermessen i. S. d. § 161 Abs. 2 VwGO. Ohne den zur Teilerledigung führenden Umzug der Kläger wäre aller Voraussicht nach die Berufung der Beklagten auch im Übrigen zurückgewiesen worden. Der Umzug in den Landkreis D., in dem der Kläger zu 1) wieder Arbeit gefunden und in dem der Kläger zu 5) bereits unabhängig von diesem Verfahren die beantragte Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis erhalten hat, kann den Klägern insoweit nicht entgegengehalten werden.

Ende der Entscheidung

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