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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Bremen
Urteil verkündet am 18.10.2006
Aktenzeichen: 1 U 34/06
Rechtsgebiete: BGB, GG


Vorschriften:

BGB § 253 Abs. 2
BGB § 839 Abs. 1
GG Art. 34 Satz 1
Als Ausgleich für die von einem Ausländer, der kraft einer vollziehbaren Abschiebungsverfügung zur Ausreise verpflichtet ist, erlittene - zwar materiell rechtmäßige, jedoch formell rechtswidrige - Freiheitsentziehung von 18,5 Stunden ist ein Schmerzensgeld von € 30,-- angemessen.
Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen Im Namen des Volkes URTEIL

Geschäftszeichen: 1 U 34/06

Verkündet am: 18. Oktober 2006

In Sachen

hat der 1. Zivilsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 10. Oktober 2006 unter Mitwirkung der Richter Neumann, Dr. Wittkowski und Dr. Schnelle

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Bremen - 1. Zivilkammer - vom 28.06.06 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten der Berufung.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe:

I. Der Kläger - ein inzwischen abgeschobener ausländischer Staatsbürger - begehrt mit seiner Klage von der Beklagten, der Freien Hansestadt Bremen, die Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von € 300,- nebst Zinsen, weil er - formell rechtswidrig - für einen Zeitraum von ca. 18,5 Std. ohne die gebotene richterliche Anordnung von Beamten der Beklagten in polizeilichen Gewahrsam genommen worden war.

Das Landgericht hat dem Kläger wegen widerrechtlicher Freiheitsentziehung ein Schmerzensgeld in Höhe von 30,- € nebst Zinsen zugesprochen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil ( Bl. 62-69 d.A.) Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO.

Gegen dieses ihm am 10.07.06 zugestellte Urteil hat der Kläger am 27.07.06 Berufung eingelegt und diese begründet (Bl. 80-83 d.A.).

Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seinen Antrag auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 300,- € nebst Zinsen weiter. Er meint, das von dem Landgericht ihm zuerkannte Schmerzensgeld von lediglich 30,- € werde der Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person nicht gerecht und verletze ihn (Kläger) in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 5 Abs. 5 Europäische Menschenrechtskonvention. Auch die von dem Landgericht bei der Bemessung des Schmerzensgeldes gewählte Orientierung an § 7 Abs. 3 StrEG sei verfehlt, da diese Bestimmung eine Entschädigung für eine rechtmäßige Strafverfolgungsmaßnahme gewähre, während es vorliegend um den Ausgleich für eine rechtswidrige Freiheitsentziehung gehe. Rechtsfehlerhaft sei schließlich auch die Erwägung des Landgerichts, dass die Voraussetzungen für den Erlass eines Abschiebehaftbeschlusses (schon) am 12.09.05 um 18.15 Uhr gegeben gewesen seien und folglich auch eine unverzügliche Richtervorführung nicht zu einer Entlassung des Klägers geführt hätte; denn auch bei einer "nur" verfahrensrechtswidrigen Freiheitsentziehung sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ein Schmerzensgeld von 30,- € für eine Freiheitsentziehung von mehr als 18 Stunden unangemessen niedrig.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landgerichts Bremen vom 28.06.06 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an ihn (Kläger) ein Schmerzensgeld in Höhe von 300,- € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 10.11.05 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der Einzelheiten des Vortrags der Beklagten wird auf ihre Berufungserwiderung vom 14.09.06 (Bl. 90-92 d.A.) Bezug genommen.

II. Die - kraft Zulassung durch das Landgericht - statthafte (§ 511 Abs. I, II Nr. 2 ZPO) und auch im Übrigen zulässige (§§ 517, 519, 520 ZPO) Berufung des Klägers ist unbegründet. Wie der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 10.10.06 im Einzelnen erläutert hat, trifft das Urteil des Landgerichts zu.

Zwar steht dem Kläger wegen der formell rechtswidrigen Entziehung seiner Freiheit am 12./13.09.05 während eines Zeitraums von ca. 18,5 Stunden ein Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes gegen die Beklagte aus §§ 839 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 34 GG zu (dazu unter 1.).

Entgegen der von dem Kläger vertretenen Ansicht ist das vom Landgericht ausgeurteilte Schmerzensgeld in Höhe von 30,- € unter den vorliegend gegebenen Umständen der Höhe nach jedoch nicht zu beanstanden; ein über diesen Betrag hinausgehender Schmerzensgeldanspruch steht dem Kläger nicht zu (dazu unter 2.).

1. Der Kläger hat gegen die Beklagte wegen widerrechtlicher Freiheitsentziehung einen Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes aus §§ 839 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 34 GG. Denn die Vorführung vor den Richter erst um ca. 12.45 Uhr des 13.09.05 erfolgte nicht unverzüglich, so dass die Freiheitsentziehung des Klägers in der Zeit vom 12.09.05 ab ca. 18.15 Uhr bis um 12.45 Uhr des Folgetages rechtswidrig war (dazu unter 1.1.).

Der Schmerzensgeldanspruch des Klägers entfällt unter den hier gegebenen Umständen auch nicht nach den Grundsätzen des rechtmäßigen Alternativverhaltens; denn diese Grundsätze sind vorliegend nicht anwendbar (dazu unter 1.2.).

1.1. Die Beklagte hat das - von § 823 Abs. 1 BGB geschützte - Recht des Klägers auf körperliche Bewegungsfreiheit in dem Zeitraum vom 12.09.05 ca. 18.15 Uhr bis ca. 12.45 Uhr des Folgetages rechtswidrig beeinträchtigt. Denn die nach § 13 FEVG i.V.m. § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erforderliche unverzügliche Richtervorführung hätte spätestens um ca. 18.15 Uhr des 12.09.05 erfolgen müssen.

Nach § 13 Abs. 1 FEVG, der gem. § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG bei Freiheitsentziehungen im Rahmen einer Abschiebehaft anwendbar ist, ist bei jeder nicht auf einer richterlichen Anordnung beruhenden Verwaltungsmaßnahme, die eine Freiheitsentziehung darstellt, die richterliche Entscheidung unverzüglich herbeizuführen, wobei "unverzüglich" in diesem Zusammenhang "ohne jede sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung" bedeutet (BVerfG, NJW 2002, 3161, 3162; OLG Schleswig, OLGR 2003, 421 ff.).

Nachdem Polizeibeamte der Beklagten den Kläger am 12.09.05 wegen des Verdachts einer Straftat nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG zunächst berechtigterweise zum Zwecke der Identitätsfeststellung festgenommen hatten (§§ 127, 163 b Abs. 1 StPO), hätte die Vorführung vor den Richter - nachdem die Identität des Klägers und das Vorliegen einer rechtskräftigen Abschiebungsverfügung mit Eingang des Telefaxes des BKA vom 12.09.05 um 17.51 Uhr (Bl. 23 d.BA) geklärt waren - ohne jede Verzögerung (also bis etwa gegen 18.15 Uhr) erfolgen müssen. Durch die Vorführung erst am 13.09. um ca. 12.45 Uhr wurde das Unverzüglichkeitsgebot verletzt; Umstände, die ein weiteres Zuwarten mit der richterlichen Vorführung über den Zeitpunkt (ca.) 18.15 Uhr des 12.09.05 hinaus hätten rechtfertigen können, sind weder ersichtlich noch von der Beklagten dargetan.

1.2. Dem Schadensersatzanspruch des Klägers steht der Umstand nicht entgegen, dass er (Kläger) bei rechtmäßigem Verhalten der Beklagten (also bei einer unverzüglichen Richtervorführung) ebenfalls inhaftiert worden wäre, sich durch den Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot an der Freiheitsentziehung also nichts geändert hätte. Bei der vorliegenden Fallkonstellation ist es der Beklagten nämlich versagt, sich zur Abwendung ihrer Schadensersatzpflicht auf die Grundsätze rechtmäßigen Alternativverhaltens zu berufen, indem sie vorträgt, dass sie die Freiheitsentziehung auch in einer Weise hätte herbeiführen können, die rechtmäßig gewesen wäre und keine Ersatzpflicht begründet hätte.

Denn die Zulassung der Berufung auf die Grundsätze rechtmäßigen Alternativverhaltens im vorliegenden Fall stünde im Widerspruch zu dem Schutzzweck des § 13 FEVG, weshalb sie (ausnahmsweise) ausgeschlossen ist (vgl. zum Ganzen: Palandt-Heinrichs, Komm. zum BGB, 65. Aufl., 2006, Vorb. 106 a. E. vor § 249; OLG Oldenburg, VersR 1991, 306 ff.).

Die Norm des § 13 Abs. 1 FEVG konkretisiert die verfassungsrechtliche Garantie, nach welcher der Staat die Freiheit einer Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung des darin beschriebenen Verfahrens beschränken darf (vgl. Art. 2, 104 GG). § 13 Abs. 1 FEVG stellt mithin eine verfassungsrechtlich gebotene Schutznorm dar, deren Zweck es ist, eine Freiheitsentziehung nur unter den in ihr aufgestellten Voraussetzungen zuzulassen. Die besondere Bedeutung des § 13 Abs. 1 FEVG und der in ihr festgeschriebenen formellen Voraussetzungen für die Sicherung des grundgesetzlich geschützten Freiheitsrechts des Bürgers würden konterkariert, wenn sich die Träger öffentlicher Gewalt der Haftung für eine von ihnen verursachte formell rechtswidrige Freiheitsentziehung allein unter Hinweis auf die Grundsätze rechtmäßigen Alternativverhaltens entziehen könnten.

2. Zu Recht hat das Landgericht unter den vorliegend zu beurteilenden Umständen ein Schmerzensgeld in Höhe von € 30,- zuerkannt. Der genannte Schmerzensgeldbetrag ist angemessen; ein höherer Schmerzensgeldanspruch steht dem Kläger nicht zu.

Wie sich aus § 253 Abs. 2 BGB i.V.m. § 839 Abs. 1 BGB, Art. 34 GG ergibt, steht dem Kläger ein Anspruch auf "billige Entschädigung in Geld" zu. Bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes sind sämtliche Umstände des Einzelfalles sowie insbesondere die Funktion des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen, die einerseits darin liegt, dem Verletzten einen Ausgleich für die von ihm erlittene Beeinträchtigung zu gewähren, andererseits ihm Genugtuung für das zu verschaffen, was ihm der Schädiger angetan hat (vgl. BGHZ 18, 149; w.N. bei Palandt-Heinrichs, a.a.O., § 253 Rn. 11).

Bei dem vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt ist insoweit zunächst zu Gunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass die Amtspflichtverletzung der Beklagten bei dem Kläger zu einem Eingriff in ein besonders schützenswertes Rechtsgut, nämlich die körperliche Bewegungsfreiheit, geführt hat. Überdies war die Dauer der Freiheitsentziehung mit ca. 18,5 Stunden keineswegs unbeachtlich.

Andererseits ist es im Rahmen der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes von wesentlicher Bedeutung, dass die Entziehung der körperlichen Bewegungsfreiheit des Klägers vorliegend lediglich formell rechtswidrig war, weil - wie ausgeführt - die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für den Erlass eines Abschiebehaftbeschlusses bereits zum Zeitpunkt der Freiheitsentziehung des Klägers am 12.09.05 gegen 18.,15 Uhr erfüllt waren.

Auch wenn der Kläger - wie es rechtlich geboten gewesen wäre - noch am 12.09.05 gegen 18.15 Uhr einem Richter vorgeführt worden wäre, wäre gegen ihn (Kläger) ein Abschiebehaftbeschluss ergangen, so dass sich an der Einschränkung der Bewegungsfreiheit des Klägers, für die er ein Schmerzensgeld beansprucht, auch bei rechtmäßigen Alternativverhalten der Beklagten nichts geändert hätte. Dieser Umstand führt - wie dargelegt - zwar nicht zu einem völligen Ausschluss des Schmerzensgeldanspruchs des Klägers, wirkt sich jedoch ganz wesentlich anspruchsmindernd aus, weil bei der hier zu beurteilenden Fallkonstellation für die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes kein Raum ist. Da die Freiheitsentziehung des Klägers unter materiell-rechtlichen Gesichtspunkten gerechtfertigt war, steht dem Kläger insbesondere ein Ausgleich für eventuelle Nachteile im Erwerbsleben oder für eine Belastung seines Rufes im Freundes- und Bekanntenkreis sowie ggf. in der Öffentlichkeit nicht zu, weil solche Beeinträchtigungen auch bei formell rechtmäßigem Verhalten der Beklagten erfolgt wären.

Das Schmerzensgeld dient im vorliegenden Fall mithin allein dazu, dem Kläger Genugtuung für einen (lediglich) formell rechtswidrigen Eingriff in seine Freiheit zu verschaffen. Dieser Genugtuungsfunktion wird das von dem Landgericht zuerkannte Schmerzensgeld von 30,- € in ausreichendem Maße gerecht.

Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang auf Urteile anderer Gerichte hinweist, denen zufolge im Falle von Freiheitsentziehungen den Verletzten weit höhere Schmerzensgeldbeträge zuerkannt worden sind, verkennt er, dass in den entschiedenen Fällen die inkriminierten Freiheitsentziehungen jeweils auch materiell-rechtlich rechtswidrig waren (EGMR NJW 2002, 2856 ff.; BVerfG NJW 2005, 3485; OLG Oldenburg VersR 91, 306 f.; OLG Stuttgart VersR 91, 1288; AG Osnabrück NJW RR 89, 476).

Bei der Bemessung der Höhe des Schmerzensgeldes hat das Landgericht schließlich zu Recht auch auf § 7 Abs. 3 StrEG hingewiesen, wonach dem von einer rechtmäßigen Freiheitsentziehung Betroffenen ein Ausgleichsanspruch in Höhe von 11,- € pro Tag zusteht. Zwar liegt bei dem vorliegenden Sachverhalt - wie ausgeführt - eine (formell-)rechtswidrige Freiheitsentziehung vor. Dies schließt es jedoch nicht aus, die in § 7 Abs. 3 StrEG zum Ausdruck kommende gesetzgeberische Wertung auch bei der Bestimmung der Höhe des angemessenen Schmerzensgeldes im Fall einer lediglich formell-rechtswidrigen Freiheitsentziehung vergleichend heranzuziehen, sofern allen Umständen des Einzelfalles Rechnung getragen wird (so auch OLG Schleswig, OLGR 2002, 165 ff.).

3. Ob dem Kläger ein Schmerzensgeldanspruch gegen die Beklagte auch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK zusteht, kann offen bleiben, da sich aus dieser Norm ein weitergehender Anspruch des Klägers als zuerkannt nicht ergibt.

4. Die Entscheidung über die zuerkannten Zinsen ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.

5. Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 Satz 1 und 2, 709 Satz 2 ZPO.

Die Revision wird zugelassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO). Die Bemessung der Höhe eines Schmerzensgeldes im Falle der kurzfristigen und lediglich formell-rechtswidrigen Freiheitsentziehung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers ist eine Rechtsfrage, die von den höchstrichterlichen Entscheidungen bisher noch nicht erfasst, aber in einer Vielzahl von Fällen praxisrelevant ist.

Ende der Entscheidung

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