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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 28.05.2001
Aktenzeichen: 1 U 22/00
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
BGB § 847
Schadensersatzansprüche für einen Extremitätenverlust, der auf einer zunächst nicht erkannten Heparinunverträgilchkeit beruht.
Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Urteil

1 U 22/00 2 O 8/97 LG Stade

Verkündet am 28. Mai 2001

#######, Justizobersekretärin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle

In dem Rechtsstreit

#######

pp.

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 2. April 2001 durch den Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts ####### sowie die Richter am Oberlandesgericht ####### und ####### für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 19. April 2000 verkündete Urteil der 2. Zivilkammer des Landgerichts Stade abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 70.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 5. September 1997 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin diejenigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr infolge der Amputation ihres rechten Unterschenkels und ihrer Milz in Zukunft noch entstehen werden, soweit Ansprüche nicht von Gesetzes wegen auf Dritte übergehen oder übergegangen sind.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung seitens der Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 100.000 DM abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Die Parteien können die Sicherheit auch durch unbedingte, unbefristete, unwiderrufliche, selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse erbringen.

Wert der Beschwer der Beklagten: 100.000 DM.

Tatbestand

Die am 8. September 1969 geborene Klägerin wurde am 1. August 1995 wegen Bauchschmerzen in das Krankenhaus ####### eingeliefert. Einen Monat zuvor hatte sie ein Kind entbunden. Ausweislich des Krankenblattes der die Klägerin behandelnden Hausärztin ####### bestand zum Zeitpunkt der Einweisung der Verdacht auf Appendizitis. Im Krankenhaus ####### wurde eine Endometritis bzw. Endomyometritis diagnostiziert. Der Klägerin wurden Antibiotika verabreicht. Zur Thromboseprophylaxe erhielt sie das Medikament Heparin . Über die Risiken der Heparinbehandlung wurde die Klägerin nicht aufgeklärt. Ab dem 3. August 1995 klagte die Klägerin über Schmerzen in den Beinen. Am 5. August 1995 wurden ihre Beine untersucht, ihr wurde jedoch lediglich Magnesium verabreicht. Die Schmerzen der Klägerin verstärkten sich, worauf sie auch bei der Visite am 8. August 1995 hinwies. An diesem Tag wurde eine venöse Sonographie durchgeführt, die allerdings keine Auffälligkeiten erbrachte. Die Klägerin litt weiter unter Schmerzen in den Beinen. Am 10. August 1995 untersuchte der Gefäßchirurg ####### die Beine der Klägerin und stellte dabei fest, dass die Hauptschlagader in der Leistengegend verschlossen war, was durch anschließende Untersuchungen bestätigt wurde. Zu diesem Zeitpunkt tauchte erstmals der Verdacht einer Heparinunverträglichkeit auf, der aber nach Rücksprache mit dem Gerinnungsphysiologischen Labor der ####### nicht verifiziert werden konnte, sodass die Heparinbehandlung fortgesetzt wurde. Am 11. August 1995 wurden verschiedene Gefäßthromben beseitigt. Tags darauf nahmen die Ärzte nochmals Kontakt zu den Gerinnungsspezialisten der ####### auf, ferner auch zu einem Speziallabor des #######. Die Spezialisten der ####### schlossen weiterhin eine Heparinunverträglichkeit aus, während die Ärzte des AKH ####### die Hypothese einer Heparinnverträglichkeit aufstellten. Daraufhin wurde ab 13. August 1995 das Medikament Heparin abgesetzt. Gleichwohl musste am selbenTage das rechte Bein der Klägerin unterhalb des Knies amputiert werden. Am 14. August 1995 bestätigte sich labortechnisch der seit dem 10. August 1995 gehegte Verdacht der Ärzte, dass es zur arteriellen Thrombose mit Gefäßverschlüssen in den Beinenarterien sowie etwas später auch der Milz und der oberen darmversorgenden Arterien durch eine Heparinunverträglichkeit gekommen war, und zwar des Typs HIT II. Die Gefäßverschlüsse machten neben der Amputation des rechten Unterschenkels auch die Entfernung der Milz am 15. August 1995 erforderlich.

Die Klägerin hat in erster Instanz vornehmlich eine Aufklärungspflichtverletzung geltend gemacht und behauptet, bei entsprechender Aufklärung über die Risiken einer Heparinbehandlung hätte sie auf dieses Medikament verzichtet.

Die Klägerin hat darüber hinaus Behandlungsfehler gerügt. Die behandelnden Ärzte hätten die Symptome der arteriellen Thrombose und die Heparinunverträglichkeit nicht rechtzeitig erkannt. Bereits am Dienstag, den 8. August 1995, seien die Beine grau bis weiß und kalt gewesen. Gleichwohl sei lediglich eine venöse Sonographie und nicht die in diesem Fall erforderliche arterielle Sonographie durchgeführt worden. Auch seien weder der Pulsstatus erhoben noch die Hauttemperatur untersucht worden. Auch habe keine Gefäßauskultation stattgefunden. Eine ordnungsgemäße Untersuchung hätte dazu geführt, dass die Arterienthrombose, die bereits am 8. August 1995 vorgelegen habe, früher erkannt worden wäre. Keinesfalls habe von den Ergebnissen der venösen Sonographie auf den Zustand der Arterien rück geschlossen werden können. Das Unterlassen der arteriellen Sonographie stelle einen schweren Behandlungsfehler dar.

Die Beklagte hat eine Aufklärungspflichtverletzung und Behandlungsfehler in Abrede gestellt.

Über die Risiken einer Heparinbehandlung habe nicht aufgeklärt werden müssen, da die Prophylaxe mit Heparin bei dem Krankheitsbild der weit gehend immobilisierten Klägerin zwingend indiziert gewesen sei und die Risiken dieser Behandlung sehr gering gewesen seien. Auch bei durchgeführter Aufklärung hätte die Klägerin der Behandlung mit Heparin zugestimmt.

Es sei nicht möglich gewesen, die Heparinunverträglichkeit früher zu erkennen. Sämtliche Symptome, die die Klägerin aufgewiesen habe, hätten gegen eine heparinindizierte Thrombozytophenie gesprochen. Insbesondere habe kein signifikanter Thrombozytensturz vorgelegen. Bis zum 10. August 1995 sei auch kein Verschluss in den Gefäßen zu diagnostizieren gewesen, wie sich aus den Befunden der Untersuchungen vom 5. August bis 8. August 1995 ergebe, denn dort seien die Beine eindeutig als unauffällig diagnostiziert worden.

Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme mit dem zur näheren Darstellung des Sach- und Streitstandes hiermit in Bezug genommenen Urteil vom 19. April 2000 abgewiesen.

Auch mit ihrer Berufung wirft die Klägerin den behandelnden Ärzten des Krankenhauses ####### eine Aufklärungspflichtverletzung hinsichtlich der Risiken einer Heparinbehandlung vor. Sie ist der Auffassung, bei ihrem Krankheitsbild und ihrer körperlichen Konstitution sei eine Heparinbehandlung überhaupt nicht indiziert gewesen. Es habe ohnehin Alternativen zu der Thromboseprophylaxe durch Heparin gegeben, so etwa eine Kompressionsbehandlung oder das Hochlagern der Beine. Bei ordnungsgemäßer Aufklärung über die Risiken der Heparinbehandlung hätte sie diese Behandlung verweigert.

Die Klägerin rügt darüber hinaus Behandlungsfehler. Sie ist der Auffassung, es habe eine arterielle Sonographie durchgeführt werden müssen, als nach zwei Tagen plötzlich Beschwerden an den Beinen aufgetreten seien. Weiter sei es fehlerhaft, dass nicht früher Gefäßspezialisten zur Behandlung hinzugezogen worden seien. Bei richtigem Vorgehen wäre ihr Bein noch zu retten gewesen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landgerichts ####### vom 19. April 2000 - 2 O 8/97 - abzuändern und

1. die Beklagte zu verurteilen, an sie ein angemessenes Schmerzensgeld infolge des Verlustes des Unterschenkels des rechten Beines und der Milz zu zahlen, welches der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch mindestens 70.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 5. September 1997 betragen sollte und

2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, diejenigen materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr infolge der Amputation des Unterschenkels des rechten Beines und der Milz in Zukunft noch entstehen werden, soweit Ansprüche nicht auf Dritte von Gesetzes wegen übergehen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen

und für den Fall der Anordnung einer Maßnahme nach § 711 ZPO zu gestatten, dass die Sicherheit auch durch die Bürgschaft einer deutschen Großbank, Volksbank oder öffentlichen Sparkasse erbracht werden kann.

Die Beklagte nimmt auch im Berufungsverfahren eine Aufklärungspflichtverletzung und Behandlungsfehler in Abrede.

Eine Aufklärung über die Risiken der Heparinbehandlung sei nicht erforderlich gewesen. Denn die durchgeführte Thromboseprophylaxe mit Heparin sei absolut indiziert gewesen. Gleichwertige Behandlungsmethoden hätten nicht zur Verfügung gestanden. Die Gefahren einer Heparinbehandlung seien so selten, dass hierüber nicht habe aufgeklärt werden müssen. Im Übrigen habe die Klägerin einen Entscheidungskonflikt nicht nachvollziehbar dargelegt.

Es seien auch keine Behandlungsfehler begangen worden. Weder sei das Unterlassen einer arteriellen Sonographie fehlerhaft noch habe früher ein Gefäßspezialist hinzugezogen werden müssen. Zu berücksichtigen sei insoweit, dass die Klägerin schon bei ihrer Einlieferung unter Schmerzen in den Beinen gelitten habe, welche ständig zugenommen hätten, auch habe die Klägerin unter Rückenschmerzen sowie rezidivierenden Kribbelparästhesien gelitten. Eine angiologische Diagnostik schon in den ersten Tagen der Behandlung werde nicht gefordert. Im Übrigen hätte sich ausweislich der Sachverständigengutachten am Verlauf auch gar nichts geändert, weil in Unkenntnis der HIT II die Heparinbehandlung unter Umständen sogar noch intensiviert worden wäre. Zu berücksichtigen sei im Übrigen, dass bei der am 8. August 1995 durchgeführten Venensonographie ein Verschluss der großen Arterien gar nicht zu übersehen gewesen wäre und dass der Verlauf der Thrombozytopenie atypisch gewesen sei.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines mündlichen Gutachtens des Sachverständigen #######. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf die Abschrift der in der Sitzung am 2. April 2001 gefertigten Tonbandaufzeichnung über die Anhörung des Sachverständigen (Bl. 228 ff.).

Wegen des Vorbringens der Parteien im Einzelnen wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 2. April 2001 (Bl. 225 ff.) nebst Abschrift der Tonbandaufzeichnung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist erfolgreich. Zwar haftet die Beklagte der Klägerin nicht für eine Aufklärungspflichtverletzung der behandelnden Ärzte des Krankenhauses #######, wohl aber für Behandlungsfehler. Im Einzelnen:

1. Aufklärungspflichtverletzung:

Eine Haftung für eine Aufklärungspflichtverletzung scheidet aus. Zwar ist die Klägerin unstreitig nicht über die Risiken einer Heparinbehandlung aufgeklärt worden. Auch ist nach dem mündlichen Gutachten des Sachverständigen ####### davon auszugehen, dass über die Risiken einer Heparinbehandlung zumindest in kurzer Form hätte aufgeklärt werden müssen. Denn der Sachverständige hat ausgeführt, die möglichen Komplikationen der Behandlung hätten erwähnt werden müssen (Tonbandprotokoll S. 21), es sei 'nicht ganz lege artis', dass überhaupt kein Aufklärungsgespräch stattgefunden habe (Tonbandprotokoll S. 22). Dies gilt zwar nicht für den Zeitpunkt zum Beginn der Behandlung der Klägerin im Krankenhaus #######. Denn da war die Heparinbehandlung absolut indiziert (Tonbandprotokoll S. 22) und es bestand bezogen auf eine HIT-Erkrankung nur ein sehr geringes Risiko. Eine Aufklärung war aber nach dem 3./4. Tag des Krankenhausaufenthalts der Klägerin geboten. Denn zu diesem Zeitpunkt war die Heparinbehandlung bezogen auf die ursprüngliche Diagnose nicht mehr absolut indiziert, das Heparin hätte zu diesem Zeitpunkt abgesetzt werden können (Tonbandprotokoll S. 23). Zwar hätte die Heparinbehandlung in Bezug auf die nun in den Vordergrund tretenden Beinbeschwerden der Klägerin fortgesetzt werden können. Da sich aber die Indikation vom Bauchraum auf die periphäre Thromboseverhinderung verlagert hatte, wären Krankengymnastik und das Tragen von Stützstrümpfen durchaus eine Alternative zur Heparingabe gewesen (Tonbandprotokoll S. 24).

Gleichwohl haftet die Beklagte nicht für die unterbliebene Aufklärung. Denn die Klägerin hat einen Entscheidungskonflikt nicht plausibel dargelegt. Bei ihrer Anhörung durch den Senat hat sie bezogen auf den Beginn der Behandlung erklärt, sie denke nicht, dass sie bei ordnungsgemäßer Aufklärung Zweifel an der Richtigkeit der anfänglichen Heparinbehandlung gehabt hätte (Tonbandprotokoll S. 26). Bezogen auf die vom Sachverständigen geforderte ordnungsgemäße Aufklärung zu dem späteren Zeitpunkt, als die Beinbeschwerden in den Vordergrund getreten waren, hat die Klägerin bei ihrer Anhörung durch den Senat keinerlei Erklärung dazu abgeben können, ob sie sich überhaupt in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte, wenn die Aufklärung ihr gegenüber so erfolgt wäre, wie sie der Sachverständige formuliert hat (Tonbandprotokoll S. 27).

2. Behandlungsfehler:

Die behandelnden Ärzte der Gynäkologischen Abteilung des Krankenhauses #######, für deren Handeln die Beklagte, soweit es vertragliche Ansprüche betrifft, über § 278 BGB, und soweit es deliktische Ansprüche betrifft, gemäß § 831 haftet, haben insoweit fehlerhaft gehandelt, als sie auf das sich gegenüber der ursprünglich gestellten Diagnose einer Endometritis bzw. Endomyometritis veränderte Krankheitsbild der Klägerin (zunehmende Beinbeschwerden) nicht angemessen reagierten. Sie hätten nämlich ab dem Zeitpunkt, zu dem diese Diagnose nicht mehr aufrechterhalten werden konnte und die Beinbeschwerden der Klägerin ständig zunahmen, Spezialisten einer anderen Fachrichtung (Angiologie) hinzuziehen müssen.

####### hat ausgeführt, bei Beginn der Behandlung sei es darum gegangen, Maßnahmen bezogen auf die schwerwiegendste Diagnose zu treffen. Insoweit sei die Heparingabe absolut indiziert gewesen. Insofern hat der Sachverständige auch die Behandlung durch die Gynäkologen nicht beanstandet. Anders hat er dies aber für den weiteren Verlauf beurteilt, in dem die Beinbeschwerden der Klägerin immer mehr in den Vordergrund traten. Er hat ausgeführt, bei einer 26-jährigen Frau, bei der eine entzündliche Erkrankung der Gebärmutter oder eine tumoröse Erkrankung ausgeschlossen oder diese Diagnose langsam in den Hintergrund getreten sei, habe man sich über andere Dinge Gedanken machen müssen und schon früher auf einen Gefäßstatus größeren Wert legen können (Tonbandprotokoll S. 6). Spätestens zu dem Zeitpunkt, an dem die Beine angefangen hätten, kühler zu werden, und zu dem die Pulse nicht mehr tastbar gewesen seien, zu dem man also eindeutig Durchblutungsstörungszeichen gehabt habe, hätte ein Spezialist eingeschaltet werden müssen (Tonbandprotokoll S. 7). Der Sachverständige hat insoweit hervorgehoben, in einer gynäkologischen Abteilung stünden andere Dinge im Vordergrund, angiologische Probleme seien für einen Gynäkologen sekundär. Bei einer so jungen Frau wie der Klägerin komme eine arterielle Thrombose allenfalls schon einmal post partum vor. Ansonsten gäbe es praktisch überhaupt keinen Grund für eine arterielle Thrombose. Insoweit hätte schon per se das Krankheitsbild die behandelnden Ärzte hochgradig alarmieren müssen (Tonbandprotokoll S. 16).

Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob das Abkühlen der Beine der Klägerin bereits am 8. August - wie die Klägerin behauptet - oder am 9. August - wie es in den Krankenakten dokumentiert ist - aufgetreten ist. Denn schon die unstreitig ab dem 3. August sich steigernden Beinbeschwerden der Klägerin (siehe Bl. 36, 210) waren ein Alarmsignal. Der Sachverständige hat schon in seinem Gutachten vom 24. September 1999 (Bl. 98 ff) bezogen auf die Woche vor dem 10. August 1995 ausgeführt , 'schon in dieser Zeitspanne' wäre die Hinzuziehung eine erfahrenen Neurologen und eines Gefäßspezialisten notwendig gewesen. Hinzu kommt, dass schon eine geringfügige Verzögerung bei der Diagnosefindung erhebliche Folgen haben kann. Denn der Sachverständige hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es maximal 48 Stunden dauere, bis ein Bein verloren sei, wenn die Arterien verschlossen seien (Tonbandprotokoll S. 15, 16). Er hat vor diesem Hintergrund und in Kenntnis der Zeitabläufe hervorgehoben, dass 'einige Tage früher' ein Spezialist hätte hinzugezogen werden müssen. Er hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die insoweit aufgetretene zeitliche Verzögerung als Behandlungsfehler anzusehen ist.

3. Kausalität:

a) Grundsätzlich hat der Patient die Beweislast für die Kausalität zwischen Behandlungsfehler und eingetretenem Schaden. Diesen Beweis kann die Klägerin nicht führen. Denn der Sachverständige hat in seinem mündlichen Gutachten hervorgehoben, dass zum einen auch bei einem früheren Hinzuziehen von Spezialisten und einem früheren Erkennen einer Thrombose die Heparinbehandlung unter Umständen sogar mit höherer Dosierung fortgeführt worden wäre und dass zum anderen auch bei früherem Absetzen des Heparins ein Extremitätenverlust nicht ausgeschlossen wäre.

b) Der Klägerin kommen aber Beweiserleichterungen zugute, denn nach den Ausführungen des Sachverständigen ist den behandelnden Ärzten nicht nur ein einfacher, sondern ein grober Behandlungsfehler vorzuwerfen.

Ob ein schwerer bzw. grober Behandlungsfehler vorliegt, richtet sich nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles. Es genügt nicht schon ein Versagen, wie es einem hinreichend befähigten und allgemein verantwortungsbewussten Arzt zwar zum Verschulden gereicht, aber doch 'passieren kann'. Es muss vielmehr ein Fehlverhalten vorliegen, das zwar nicht notwendig aus subjektiven, in der Person des Arztes liegenden Gründen, aber aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem behandelnden Arzt aus dieser Sicht 'schlechterdings nicht unterlaufen darf'. Das kann etwa der Fall sein, wenn auf eindeutige Befunde nicht nach gefestigten Regeln der ärztlichen Kunst reagiert wird oder wenn grundlos Standardmethoden zur Bekämpfung möglicher, bekannter Risiken nicht angewandt werden, und wenn besondere Umstände fehlen, die den Vorwurf des Behandlungsfehlers mildern können (BGH NJW 1983, 2080, 2081).

Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Der Sachverständige hat das Versäumnis, zu einem früheren Zeitpunkt Gefäßspezialisten zur Behandlung hinzuzuziehen (die ja im Krankenhaus ####### vorhanden waren) ausdrücklich als 'nicht nachvollziehbar' und auf ausdrückliches Nachfragen als schwer wiegenden Behandlungsfehler beurteilt. Er hat - wie oben ausgeführt - hervorgehoben, dass bei einer jungen Frau wie der Klägerin schon allein das Krankheitsbild die behandelnden Ärzte hätte hochgradig alarmieren müssen (Tonbandprotokoll S. 15, 16) und dass bei einem Arterienverschluss eine Zeitverzögerung von maximal 48 Stunden zu einem Extremitätenverlust führen kann.

Das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers hat zur Folge, dass der Beklagten der Nachweis obliegt, dass auch bei früherem Hinzuziehen von Gefäßspezialisten ein anderer Kausalverlauf nicht gänzlich unwahrscheinlich wäre. Diesen Beweis hat die Beklagte nicht geführt. Denn der Sachverständige hat es zwar - wie oben ausgeführt - für möglich gehalten, dass bei einem früheren Hinzuziehen von Spezialisten die Heparinbehandlung fortgesetzt und sogar intensiviert worden wäre, der Sachverständige hat weiter nicht mit der erforderlichen Sicherheit die Frage beantworten können, ob es auch bei einem früheren Absetzen des Heparins zu einem Extremitätenverlust gekommen wäre. Er hat aber betont, dass die Wahrscheinlichkeit, dass behandelnde Ärzte an eine HIT-Erkrankung gedacht hätten, mit der Spezialisierung zugenommen hätte. Ein Angiologe hätte eher als ein Gynäkologe an eine HIT-Erkrankung gedacht. Insofern werde durch das Hinzuziehen von Spezialisten die Diagnose zwar nicht hundertprozentig sicher, aber die Wahrscheinlichkeit, dass man die richtige Diagnose stelle, nehme eindeutig zu. Es habe auch im Bereich des Möglichen gelegen, denn die Beklagte habe im Krankenhaus Stade ja Gefäßchirurgen gehabt. Der Sachverständige hat eine Veränderung der Kausalkette ausdrücklich für möglich erachtet (Tonbandprotokoll S. 17).

4. Ein Schmerzensgeld in Höhe von 70.000 DM, wie es sich die Klägerin vorstellt, ist nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung der erlittenen erheblichen Schäden und des Leidensweges der Klägerin sowie im Hinblick auf andere vergleichbare Entscheidungen der Rechtsprechung (vgl. Schmerzensgeldtabelle Hacks/Ring/Böhm 16. Auflage lfd. Nrn. 1151, 1165) durchaus angemessen. Die Klägerin hat nicht nur ihren rechten Unterschenkel verloren, sondern es musste auch ihre Milz entfernt werden. Die Klägerin musste ihre Berufsausbildung zur Reisekauffrau abbrechen und kann nicht mehr wie früher uneingeschränkt körperlichen Aktivitäten wie Sport und Tanzen nachgehen.

5. Auch der Feststellungsantrag ist begründet. Zukünftige materielle und immaterielle Folgeschäden sind aufgrund der Amputation nicht unwahrscheinlich, schon weil nicht auszuschließen ist, dass zur Ermöglichung eines besseren Prothesensitzes spätere Eingriffe erforderlich sein könnten.

6. Der Zinsanspruch der Klägerin ergibt sich aus § 291 BGB.

7. Die Nebenentschedungen folgen aus §§ 91 Abs. 1 ZPO (Kosten des Rechtsstreits), 708 Nr. 10, 711 ZPO (vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils) und 546 Abs. 2 Satz 1 ZPO (Festsetzung des Wertes der Beschwer).



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