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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 15.09.2004
Aktenzeichen: 1 Ws 272/04 (StrVollz)
Rechtsgebiete: StVollzG


Vorschriften:

StVollzG § 10
Die Erstattung einer Strafanzeige allein rechtfertigt nicht die sofortige Ablösung eines Gefangenen aus dem offenen Vollzug. Ein Strafverfahren ist nur dann anhängig im Sinne der Verwaltungsvorschriften Nr. 2 Abs. 1d zu § 10 StVollzG, wenn die Staatsanwaltschaft, die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen den Gefangenen strafrechtlich einzuschreiten
Oberlandesgericht Celle Beschluss

1 Ws 272/04 (StrVollz)

In der Strafvollzugssache

hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Oldenburg vom 29. April 2004 nach Beteiligung des Zentralen juristischen Dienstes für den niedersächsischen Strafvollzug durch den Richter am Oberlandesgericht #######, die Richterin am Oberlandesgericht ####### und den Richter am Oberlandesgericht ####### am 17. September 2004 beschlossen:

Tenor:

Der angefochtene Beschluss und die Entscheidung des Leiters der Justizvollzugsanstalt O. - Abteilung W.- vom 3. März 2004 werden aufgehoben.

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.

Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers fallen der Landeskasse zur Last.

Der Streitwert für beide Instanzen wird auf 500 € festgesetzt.

Der Antrag des Antragstellers auf Prozesskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird abgelehnt.

Gründe:

I.

Mit dem angefochtenen Beschluss hat die 1. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Oldenburg durch den Richter am Amtsgericht ####### in Wilhelmshaven den auf Aufhebung der Ablösung aus dem offenen Vollzug gerichteten Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung zurückgewiesen.

Die Strafvollstreckungskammer hat folgenden Sachverhalt festgestellt:

"Der Strafgefangene B. hat beim Vertragszahnarzt Sonderleistungen in Auftrag gegeben. Er wurde bezüglich des Eigenanteils mit Wirkung vom 29.01.04 entsprechend aufgeklärt und hat dies durch eigenhändige Unterschrift bestätigt. Obwohl er wusste, dass er über kein Geld verfügt, gab er die Sonderleistungen in Auftrag. Vom zuständigen Sanitätsbeamten, Herrn K., wurde B. am 23.02.04 aufgefordert, die Angelegenheit bei der Zahnärztin M. im Regelausgang zu klären. Dies hat B. bis zum 25.02.04 nicht getan (s. auch Schreiben der Arztpraxis M. vom 25.02.04!). Dies widerspricht der Einlassung des Gefangenen vom 25.02.04, in der er behauptet, davon nichts gewusst zu haben. Auch ist "von einer Klärung im Hause wegen Übernahme der Kosten" nichts bekannt. Mit Schreiben vom 01.03.04 hat die Arztpraxis gegen den Strafgefangenen B. Strafanzeige wegen Betruges gestellt. Aufgrund des anhängigen Ermittlungsverfahrens wegen Betruges ist der Strafgefangene B. für den weiteren Verbleib im offenen Vollzug ungeeignet.

Gegen diese Entscheidung hat der Antragsteller mit dem am 12. März 2004 bei der Strafvollstreckungskammer eingegangenen Schriftsatz vom 09.03.2004 gerichtliche Entscheidung beantragt."

Im Folgenden gibt die Strafvollstreckungskammer die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt wieder, die zum Sachverhalt wörtlich mit dem festgestellten Sachverhalt übereinstimmt. Zur Begründung der Entscheidung beruft sich die Anstalt auf entsprechende Verwaltungsvorschriften:

"Aufgrund des anhängigen Ermittlungsverfahrens war der Verurteilte für den weiteren Verbleib im offenen Vollzug in der JVA O. - Abteilung W. - gemäß VV Nr. 2 Abs. 1 Buchstabe d zu § 10 StVollzG ungeeignet und unverzüglich in den geschlossenen Vollzug zu verlegen".

Die Strafvollstreckungskammer hat den Antrag auf gerichtliche Entscheidung zurückgewiesen. Die angefochtene Maßnahme des Leiters der Justizvollzugsanstalt sei nicht zu beanstanden. Ermessensfehlerfrei gehe der Bescheid davon aus, dass aufgrund des anhängigen Ermittlungsverfahrens wegen des Verdachts des Betruges zum Nachteil der Zahnärztin M. ein Verbleib des Verurteilten im offenen Vollzug nicht mehr zu rechtfertigen sei. Die "Einlassungen des Verurteilten vom 25./26.04.2004" ließen keine andere Beurteilung der Sach- und Rechtslage zu. Wie sich der Verurteilte allerdings im einzelnen eingelassen und ob bzw. wie er seinen Antrag auf gerichtliche Entscheidung begründet hat, teilt die Kammer nicht mit.

Gegen diesen ihm am 6. Mai 2004 zugestellten Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner am 2. Juni 2004 zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegten Rechtsbeschwerde. Gleichzeitig beantragt er die Gewährung von Prozesskostenhilfe.

II.

1. Die form- und fristgerecht eingereichte Rechtsbeschwerde ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nach § 116 StVollzG zulässig. Es gilt, die nachfolgend aufgezeigten Rechtsfehler in Zukunft zu vermeiden.

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.

Aus den - wenn auch an anderer Stelle zu knappen - Feststellungen der Strafvollstreckungskammer ergibt sich, dass die Justizvollzugsanstalt das ihr im Rahmen des § 10 StVollzG zustehende Ermessen bei der Frage der Rückverlegung in den offenen Vollzug fehlerhaft ausgeübt hat.

a. Die Rückverlegung vom offenen in den geschlossenen Vollzug ist nach § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG i. V. m. § 10 StVollzG zu beurteilen.

Als Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakt kann die Unterbringung im offenen Vollzug nach diesen Vorschriften nur widerrufen werden, wenn die Justizvollzugsanstalt aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Gefangenen nicht im offenen Vollzug unterzubringen und wenn ohne die Ablösung das öffentliche Interesse gefährdet würde (§ 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG). Dies ist der Fall, wenn ein Gefangener den Anforderungen des offenen Vollzuges nicht mehr genügt, namentlich zu befürchten ist, dass er sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Möglichkeit des offenen Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werde (§ 10 Abs. 1 StVollzG).

Bei der Beurteilung, ob eine Befürchtung i. S. d. § 10 Abs. 1 StVollzG besteht, ist ein neues Ermittlungsverfahren Anlass für eine besonders sorgfältige Prüfung der Eignung des Gefangenen für den offenen Vollzug. Die Justizvollzugsanstalt hat dabei zu berücksichtigen, dass ein neues Ermittlungsverfahren die frühere günstige Prognose nachträglich als nicht gerechtfertigt erscheinen lassen kann - z. B. beim Rückfall eines Gewalttäters - oder auch die neue Strafandrohung einen so starken Fluchtanreiz schaffen kann, dass allein deswegen zu befürchten ist, der Gefangene werde den offenen Vollzug nutzen, um zu fliehen oder unterzutauchen. In der Regel wird daher - wie es die entsprechenden Verwaltungsvorschriften auch vorsehen - die Ablösung aus dem offenen Vollzug unvermeidbar sein. Andererseits muss allein die Anhängigkeit eines neuen Ermittlungsverfahrens dem Gefangenen nicht zwingend die Eignung zum offenen Vollzug absprechen, z. B. in Bagatellsachen wie einer einmaligen Schwarzfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zu Recht sehen die Verwaltungsvorschriften daher vor, dass Ausnahmen zugelassen werden können. Gibt ein Fall Anlass zur diesen Überlegungen, hat die Justizvollzugsanstalt sich damit auseinanderzusetzen.

Die Justizvollzugsanstalt hat ihre Prüfung unter Abwägung der Umstände des Einzelfalls zu treffen. Dabei ist es allerdings nicht erforderlich, dass sich die Vollzugsbehörde tatsächlich Sicherheit darüber verschafft, dass ein anhängiges Ermittlungsverfahren auch zu einer Verurteilung führt. Als Grundlage für ihre Beurteilung, ob ein neues Strafverfahren begründete Zweifel entstehen lässt, der Gefangene genüge (immer noch) den Anforderungen des offenen Vollzuges, reicht die Ermittlung folgender Umstände aus (dazu s.a. OLG Stuttgart NStZ 1996, 45):

- Gegenstand des Verfahrens (Sachverhalt im Groben, Tatzeit, Tatort, Schaden),

- Verfahrensstand (Dauer der Ermittlungen, Zeitpunkt des voraussichtlichen Abschlusses, Wahrscheinlichkeit der Anklageerhebung),

- Kenntnis des Gefangenen von den gegen ihn laufenden Ermittlungen.

Darüber hinaus hat die Justizvollzugsanstalt aber auch

- die Kenntnisse über die Persönlichkeit des Verurteilten,

- sein Vollzugsverhalten und

- seine bisherige kriminelle Entwicklung

grundsätzlich mit in ihre Abwägung einzubeziehen.

Der Verpflichtung der Vollzugsanstalt zur Aufklärung des Sachverhalts im oben beschriebenen Sinne steht nicht entgegen, dass durch den neuen Tatverdacht ein sofortiger Sicherungsbedarf entstehen kann. Diesem kann durch vorläufige Maßnahmen hinreichend Rechnung getragen werden.

b. Hier hat die Vollzugsanstalt nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer allein darauf abgestellt, dass die betroffene Zahnärztin am 1. März 2004 Strafanzeige gestellt hat. Als möglicher Verfahrensgegenstand steht nach den weiter mitgeteilten Einzelheiten Betrug in Rede, wobei die Schadenshöhe unklar ist. Das ist insgesamt nicht ausreichend.

Zum einen muss eine Strafanzeige noch kein Ermittlungsverfahren nach sich ziehen. Nach § 152 Abs. 2 StPO schreiten die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten nur dann ein, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen. Ein Strafverfahren ist nur dann anhängig im Rechtssinne (und auch im Sinne der VV Nr. 2 Abs. 1d zu § 10 StVollzG), wenn die Staatsanwaltschaft, die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde eine Maßnahme trifft, die erkennbar darauf abzielt, gegen jemanden strafrechtlich einzuschreiten (Meyer-Goßner, StPO, 47. Aufl. Einl 60). Ob dies der Fall war, ergibt sich aus dem mitgeteilten Sachverhalt nicht. Der zeitliche Ablauf - Anzeige mit Schreiben vom 1. März 2004, Ablösung aus dem offenen Vollzug am 3. März 2004 - spricht vielmehr dafür, dass die Justizvollzugsanstalt allein auf die Tatsache der Anzeigenerstattung abgestellt hat. Bei dieser Handhabung könnte aber ein Gefangener jederzeit und beliebig - z. B. mit haltlosen Anzeigen von missgünstigen Mitgefangenen - von dem offenen Vollzug "abgelöst" werden. Dies aber darf nicht sein.

Nach den mitgeteilten Feststellungen erscheint es hier auch nicht eindeutig und zweifelsfrei, dass die Staatsanwaltschaft bzw. ihre Hilfsbeamten Ermittlungen einleiten werden bzw. zwischenzeitlich haben. Dies gilt um so mehr, weil das Gericht die Einlassung des Gefangenen zwar erwähnt, aber nicht mitteilt.

Zum anderen ist aus der mitgeteilten Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt auch nicht ersichtlich, dass sie auch die weiteren für die Beurteilung maßgeblichen Umstände in ihre Ermessensentscheidung einbezogen hat. Neben den hier schon wegen der Frage der Schwere der Tat entscheidenden Angaben zur mutmaßlichen Schadenshöhe enthält weder die Stellungnahme der Vollzugsanstalt noch der Beschluss der Kammer Ausführungen zur Persönlichkeit des Verurteilten, zu seinem Vollzugsverhalten und zu seiner bisherigen kriminellen Entwicklung.

In diesem Zusammenhang merkt der Senat an, dass die Feststellungen der Kammer auch an anderen Punkten nicht ausreichend sind. Für einen Beschluss nach § 115 StVollzG gelten die selben Anforderungen, die § 267 StPO an die Begründung eines strafgerichtlichen Urteils stellt. Die Tatsachen und rechtlichen Erwägungen müssen daher so vollständig wiedergegeben werden, dass eine hinreichende Überprüfung des Beschlusses im Rechtsbeschwerdeverfahren ermöglicht wird (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. zuletzt Beschlüsse vom 16. April 2002 - 1 Ws 72/02 (StrVollz) - und vom 16. Dezember 2003 - 1 Ws 380/03 (StrVollz) -; s.a. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 9. Aufl., § 115 Rdn. 10 m. w. N.). Das bedeutet, dass Bezugnahmen - wie hier auf ein Schreiben der Arztpraxis M. vom 25. Februar 2004 - generell unzulässig sind, § 267 Abs. 1 StPO. Rechtsfehlerhaft ist weiter, dass die Einlassung bzw. Antragsbegründung des Betroffenen nicht wiedergegeben wird, so dass die Würdigung, diese lasse keine andere Beurteilung der Sach- und Rechtslage zu, nicht nachvollziehbar ist.

III.

Der Senat hat nach § 119 Abs. 4 StVollzG in der Sache selbst entschieden, weil die Sache spruchreif war. Die Justizvollzugsanstalt wird unter Beachtung der vorgenannten Grundsätze auf der Grundlage des jetzigen Sachstands neu zu beurteilen haben, ob der Antragsteller im offenen Vollzug verbleiben kann oder in den geschlossenen Vollzug verlegt werden muss.

IV.

Den Antrag auf Prozesskostenhilfe hat der Senat - trotz hinreichender Erfolgsaussichten in der Sache - zurückgewiesen, weil der Antragsteller seine Bedürftigkeit weder behauptet noch sonst dargetan hat. Vielmehr hat er in seiner Rechtsbeschwerdebegründung behauptet, neben dem Eigengeld noch "weiteres Vermögen" zu haben.

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 StVollzG i. V. m. § 467 Abs. 1 StPO entsprechend. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 1 Nr. 1j, 63 Abs. 3, 65, 71 GKG.



Ende der Entscheidung

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