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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 21.02.2006
Aktenzeichen: 14 U 163/05
Rechtsgebiete: BGB, GG, StVO


Vorschriften:

BGB § 839
GG Art 34
StVO § 41 (Zeichen 223.1)
Es ist in der Regel sorgfaltswidrig, auf einer Bundesautobahn im Nahbereich einer Anschlussstelle (hier: weniger als 400 m) zur Absicherung einer Baustelle das Verkehrszeichen 223.1 "Seitenstreifen befahren" aufzustellen.

Wenn ein Verkehrsteilnehmer, der Anordnung des Zeichens 223.1 folgend, den Seitenstreifen als rechte Fahrspur benutzt und dadurch im unmittelbaren Bereich der Anschlussstelle (hier: auf dem Beschleunigungsstreifen) einen Verkehrsunfall verursacht, kommt ein Schadensersatzanspruch gegen das Land wegen einer Amtspflichtverletzung in Betracht.


Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Urteil

14 U 163/05

Verkündet am 21. Februar 2006

In dem Rechtsstreit

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 31. Januar 2006 unter Mitwirkung der Richter am Oberlandesgericht ..., ... und ... für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil der Einzelrichterin der 1. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 17. Juni 2005 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 1.073,60 EUR.

Gründe:

(abgekürzt gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO)

I.

Der Kläger begehrt aus übergegangenem Recht von der Beklagten Schadensersatz wegen einer behaupteten Amtspflichtverletzung. Zugrunde liegt ein Verkehrsunfall am 10. Juli 2003 auf der BAB 2 Richtung Dortmund in Höhe der Anschlussstelle G. Zum Unfallzeitpunkt befand sich auf der BAB 2 in Fahrtrichtung Dortmund eine Wanderbaustelle, weil auf dem Mittelstreifen der Autobahn Mäharbeiten durchgeführt wurden. Die Mitarbeiter der Autobahnmeisterei der Beklagten hatten durch Verkehrszeichen 223.1 "Seitenstreifen befahren", das an einem Sicherungsanhänger angebracht war, die Mitbenutzung der Standspur als Fahrstreifen angeordnet. Dabei war das Zeichen 223.1 200 m vor dem Ende der Standspur, die dann durch den Verzögerungsstreifen der Ausfahrt der Anschlussstelle G. abgelöst wurde, aufgestellt. Das Zeichen 223.2 "Seitenstreifen nicht mehr befahren" war nicht aufgestellt worden.

Der unfallbeteiligte Zeuge D. folgte mit dem von ihm gefahrenen Lkw der Anordnung des Zeichens 223.1 und wechselte ganz rechts auf die nunmehr als rechter Fahrstreifen freigegebene Standspur. Im unmittelbar anschließenden Bereich der Anschlussstelle G. fuhr er weiter "ganz rechts" und kreuzte dabei zunächst den Verzögerungsstreifen (die Ausfahrt). Im Anschluss daran kam es unmittelbar dort, wo die Auffahrt zur BAB in den Beschleunigungsstreifen übergeht, zur Kollision zwischen dem vom Kläger gefahrenen Pkw und dem Lkw des Zeugen D.

Der Kläger ist der Ansicht, der Verkehrsunfall sei dadurch entscheidend verursacht worden, dass die Mitarbeiter der Beklagten es pflichtwidrig unterlassen hätten, das Zeichen 223.2 "Seitenstreifen nicht mehr befahren" aufzustellen. Deshalb habe die Beklagte für den am Pkw entstandenen Schaden von insgesamt 1.954 EUR einzustehen.

Die Beklagte meint, der Kläger habe den Unfall selbst verschuldet. Er habe die Vorfahrt des Lkw verletzt und die notwendige Sorgfalt beim Auffahren auf die Autobahn nicht beachtet.

Das Landgericht hat der Klage überwiegend stattgegeben, weil es eine Verletzung der der Beklagten obliegenden Amtspflicht zur Sorge für die Sicherheit und Klarheit im Straßenverkehr angenommen hat. Dem Kläger hat es allerdings wegen der von seinem Fahrzeug ausgehenden Betriebsgefahr 20 % des geltend gemachten Schadens nicht zuerkannt. Im Übrigen hat es ein Mitverschulden des Klägers an dem streitbefangenen Verkehrsunfall verneint.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten.

II.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das Landgericht hat im Ergebnis zu Recht einen Schadensersatzanspruch des Klägers gegenüber der Beklagten aus § 839 BGB, Art. 34 GG bejaht. Der Verkehrsunfall ist - allein - von der Beklagten verschuldet worden.

1. Die Verwendung des Zeichens 223.1 "Seitenstreifen befahren" durch die Mitarbeiter der Beklagten war unter den gegebenen Umständen grob sorgfaltswidrig.

a) Nach den unbestrittenen Angaben der Beklagten (Bl. 104 d. A.) endete der Baustellenbereich bei Kilometer 235,800, d. h. lediglich 200 m vor dem Ende der Standspur und dem Beginn des Verzögerungsstreifens/der Ausfahrt der Anschlussstelle G. Aufgrund der von der Beklagten gewählten Beschilderung war damit von vornherein praktisch ausgeschlossen, dass Fahrzeuge, die der Anordnung des Zeichens 223.1 folgten und auf den Standstreifen wechselten, noch rechtzeitig vor Beginn der Anschlussstelle wieder auf den eigentlichen Hauptfahrstreifen zurückgelangen konnten. Denn schon bei einer Geschwindigkeit von nur 50 km/h benötigte man für eine Strecke von 200 m lediglich knapp 15 Sekunden, in denen man zunächst auf die Standspur zu wechseln und diese dann wieder zu verlassen hätte. Bei einer gefahrenen Geschwindigkeit von 75 km/h stünde sogar nur ein Zeitraum von weniger als 10 Sekunden zur Verfügung. Dieser verkürzt sich bei - wie vorliegend - im Fahrstreifenwechsel "trägen" Lkw nochmals. Erschwerend kommt hinzu, dass zum Unfallzeitpunkt - unstreitig - im Bereich der Unfallstelle sehr starker Verkehr herrschte.

Soweit die Beklagte im Rahmen des Berufungsverfahrens vorträgt, es seien etwa 750 m bis zum Beginn des Beschleunigungsstreifens (Bl. 142 d. A.), d. h. ca. 415 m bis zum Beginn des Verzögerungsstreifens gewesen, ist dies nicht entscheidend. Bei 50 km/h durchfährt man diese Strecke in knapp 30 Sekunden, bei 75 km/h in weniger als 20 Sekunden. Dass der Zeuge D. mit seinem Lkw wesentlich langsamer gefahren ist, wird von keiner Seite behauptet. Damit stand ihm von vornherein nicht ausreichend Zeit zur Verfügung, die Standspur rechtzeitig vor Beginn der Anschlussstelle und damit vor Beginn des eigentlichen Gefahrenbereiches wieder zu verlassen.

b) Die Sorgfaltspflichtwidrigkeit, in der konkreten Situation durch das Zeichen 223.1 die Befahrung des Seitenstreifens anzuordnen, folgt jedoch noch aus einem weiteren Umstand: Durch das Zeichen 223.1 wird der Seitenstreifen nicht nur freigegeben, sondern dessen Befahren angeordnet. Diese Anordnung wird erst durch das Zeichen 223.2 "Seitenstreifen nicht mehr befahren" wieder aufgehoben. Nach der Verwaltungsvorschrift VI. zu den Zeichen 223.1 bis 223.3 "Befahren eines Seitenstreifens als Fahrstreifen" (abgedruckt bei Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 41 StVO, Rn. 71 c, 6) "ist" das Zeichen 223.2 "in der Regel im Bereich einer Anschlussstelle anzuordnen". Dabei ist "wenigstens 400 m vorher" entweder das Zeichen 223.3 "Seitenstreifen räumen" oder das Zeichen 223.1 mit dem Zusatz "Ende in ... m" anzubringen. Die Anordnung des Zeichens 223.1 mit dem Zusatz "Ende in ... m" wird empfohlen, "wenn der befahrene Seitenstreifen in einer Anschlussstelle in den Ausfädelungsstreifen übergeht und nur noch vom auffahrenden Verkehr benutzt werden kann". Genau das war vorliegend der Fall.

Die Beklagte hat - unstreitig - nicht entsprechend beschildert. Dies beruhte schon darauf, dass der nach der gen. Verwaltungsvorschrift für die Aufstellung der (beiden) Zeichen erforderliche Abstand nicht ausreichend vorhanden war. Den für das beklagte Land günstigsten Fall unterstellt, hätte gleich 15 m nach Anordnung des Zeichens 223.1 das Zeichen 223.3 oder 223.1 mit dem Zusatz "Ende in 400 m" aufgestellt werden müssen. Abgesehen davon, dass dies zu einer erheblichen Verwirrung bei den Straßenverkehrsteilnehmern hätte führen müssen, fehlte es auch an dieser Beschilderung. Bei einer kürzeren Distanz als 400 m - wie ursprünglich von der Beklagten angegeben - wäre der erforderliche Mindestabstand für das Zusatzzeichen 223.1 "Ende in ... m" ohnehin nicht einzuhalten gewesen. Dazu kommt noch, dass sich die Wanderbaustelle ständig in Richtung der Anschlussstelle fortbewegte und damit den von der Anordnung des Zeichens 223.1 betroffenen Streckenabschnitt fortlaufend verkürzte.

Die genannte Verwaltungsvorschrift zu den Zeichen 223.1 bis 223.3 zeigt deutlich den Willen des Verordnungsgebers, Anschlussstellen regelmäßig gerade nicht mit einer Anordnung durch das Zeichen 223.1 zu verbinden, weil das evident äußerst gefährlich ist und Unfälle geradezu provoziert. Der vorliegende Fall verdeutlicht das: Hätte die Beklagte entweder von der Anordnung "Seitenstreifen befahren" von vornherein abgesehen oder jedenfalls umgehend dafür gesorgt, dass der Verkehr vor der Anschlussstelle wieder zurück auf den Hauptfahrstreifen gelangt, wäre es zu der konkreten Unfallkonstellation gar nicht erst gekommen, weil dann der Zeuge D. mit dem von ihm gefahrenen Lkw den Verzögerungs- und Beschleunigungsstreifen der Anschlussstelle nicht als vermeintlich rechten Fahrstreifen benutzt hätte.

c) Demgegenüber kann sich die Beklagte nicht darauf berufen, der Zeuge D. hätte ohne weiteres von sich aus rechtzeitig den Standstreifen verlassen können und müssen. Ob er das konnte, ist schon zweifelhaft. Nach seinen Angaben in der Bußgeldakte (Bl. 2 der Beiakte 02111884 Region Hannover) soll das wegen der hohen Verkehrsdichte nicht möglich gewesen sein. Unabhängig davon muss sich aber ein Autofahrer gerade auf einer Bundesautobahn wegen der dort üblicherweise gefahrenen hohen Geschwindigkeiten und erst recht bei dichtem Verkehr auf die Anordnungen der Straßenverkehrs oder baubehörde (§ 45 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StVO) und deren Beschilderung verlassen können. Im vorliegenden Fall wäre z. B. denkbar gewesen, dass tatsächlich der Beschleunigungsstreifen mitbenutzt werden soll und die Fahrer der Auffahrt eine geänderte Vorfahrt hätten hinnehmen müssen. Jedenfalls kann von einem "durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer" nicht erwartet werden, in einer - wie hier - kurzen Zeit von wenigen Sekunden und bei dichtem Verkehr, zudem mit einem Lkw, gleichzeitig eine Baustelle links zu überblicken, den Fahrstreifen zu wechseln, eine etwaig fehlende Beschilderung wahrzunehmen und dabei noch das möglicherweise bestehende Risiko abzuwägen, ob es nun gefährlicher ist, weiter rechts auf dem Seitenstreifen bzw. dem anschließenden Verzögerungs- und Beschleunigungsstreifen zu verbleiben, oder abzubremsen und eventuell auch anzuhalten, ferner den Verkehr im Übrigen im Auge zu behalten, insbesondere soweit es sich um Verkehrsteilnehmer handelt, die die Ausfahrt oder die Auffahrt der Anschlussstelle benutzen wollen. Zudem wäre denkbar gewesen, dass nach der ersten Baustelle eine weitere folgt und deshalb die fortlaufende Benutzung des Seitenstreifens - auch im Bereich der Anschlussstelle - angeordnet wurde. Der Verkehrsteilnehmer kann dies jedenfalls nicht alles überblicken und innerhalb weniger Sekunden in eine Entscheidung umsetzen. Es kann ihm nicht vorgeworfen werden, wenn er in einer derartigen Situation der Beschilderung vertraut und zunächst rechts bleibt. In jedem Fall gilt, dass gerade im Bereich einer Anschlussstelle auf einer Bundesautobahn die Beschilderung klar und unmissverständlich zu sein hat.

d) Diesem Gebot hätte die Beklagte ohne weiteres entsprechen können, wenn sie - wie auch sonst in vergleichbaren Situationen üblich - das Zeichen 222, blinkend an einem Sicherungsanhänger angebracht, verwendet und dadurch den Verkehr zum Vorbeifahren an dem "Mähwagen" geleitet hätte. Gerade wenn es sich nur um eine kurze "Wanderbaustelle" gehandelt hat, wäre das naheliegend und die deshalb gegebenenfalls eintretende Verzögerung für den Verkehr gering gewesen, vor allem aber in Abwägung zu den durch die vorliegend gewählte Beschilderung verursachten (und verwirklichten) erheblichen Unfallrisiken in jedem Fall sorgfältiger gewesen.

Die Beklagte muss nach alledem für das von ihr grob sorgfaltspflichtwidrig verursachte Unfallrisiko einstehen und hat entsprechend zu haften.

2. Den Kläger trifft demgegenüber kein Verschulden.

a) Ohne gesonderte Beschilderung durfte er darauf vertrauen, wie üblich über die Auffahrt und die Einfädelungsspur/den Beschleunigungsstreifen ungehindert auf den Hauptstreifen der Autobahn fahren zu können, zumindest aber darauf, den Beschleunigungsstreifen bis zu seinem Ende parallel zum Hauptfahrstreifen benutzen zu dürfen. Er musste nicht damit rechnen, dass ein Fahrzeug von der BAB "von hinten" in den Beschleunigungsstreifen hineinfährt. Das gilt umso mehr, als nach den in der Akte befindlichen Lichtbildern (insbesondere Bl. 80) aufgrund der vor Ort gegebenen Sichtverhältnisse und der dadurch bedingten verkürzten Perspektive im Blick auf die Autobahn nicht unterschieden werden konnte, ob sich der Verkehr dort auf dem rechten Hauptfahrstreifen oder ganz rechts auf dem Seitenstreifen bzw. Standstreifen befand. Dass sich der Kläger unter diesen Umständen "normal" verhalten hat und in einem Zug von der Auffahrt auf den Beschleunigungsstreifen fahren wollte, kann ihm nicht vorgeworfen werden. Weitere Zeit zum Überlegen blieb ihm nicht mehr, da es unmittelbar danach zur Kollision mit dem Lkw kam.

b) Dem Kläger ist auch keine Vorfahrtsverletzung gemäß § 18 Abs. 3 StVO anzulasten. Die vom Zeugen D. benutzte Standspur ist grundsätzlich kein Bestandteil der Fahrbahn (vgl. Hentschel a. a. O., § 18 StVO, Rn. 14 b); auch der Beschleunigungsstreifen gehört nicht zur durchgehenden Fahrbahn i. S. v. § 18 Abs. 3 StVO (Hentschel a. a. O., Rn. 17). Soweit das hier aufgrund der Anordnung durch das Zeichen 223.1 anders zu werten wäre, war eine ggf. geänderte Vorfahrt jedenfalls dem Kläger nicht bekannt und von ihm auch nicht zu erkennen.

3. Nach alledem wäre es ohne weiteres vertretbar gewesen, hinter dem überragenden Verschulden der Beklagten die Betriebsgefahr des vom Kläger gesteuerten Pkw zurücktreten zu lassen und der Beklagten die volle Einstandspflicht für den verursachten Schaden aufzuerlegen. In keinem Fall besteht aber Veranlassung, die vom Landgericht ausgesprochene Haftungsquote auf die Berufung der Beklagten zu deren Gunsten zu ändern. Somit steht dem Kläger ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe der vom Landgericht zuerkannten 1.073,60 EUR zu (vgl. i.e. LGU 8)

4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

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