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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Urteil verkündet am 14.10.2004
Aktenzeichen: 14 U 35/04
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823 aF
BGB § 847 aF
Nach dem Verlassen der Bushaltestelle ist ein Busfahrer nicht verpflichtet, sich nochmals im rechten Außenspiegel zu vergewissern, dass keiner dem Bus hinterher läuft, sondern muss sich auf das Einfädeln in den fließenden Verkehr konzentrieren. Bei Annahme einer doch bestehenden Verpflichtung würde sich auch nichts ändern, weil nicht feststellbar ist, dass die hinterher laufende Klägerin aufgrund der Winkelstellung des Gelenkbusses nach dem Anfahren im Außenspiegel zu sehen war. Letztlich scheitert ein Schadensersatzanspruch am groben (Eigen)Verschulden der Klägerin, die den Unfall aus eigennützigen Motiven geradezu herausgefordert hatte.
Oberlandesgericht Celle Im Namen des Volkes Urteil

14 U 35/04

Verkündet am 14. Oktober 2004

In dem Rechtsstreit

hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 31. August 2004 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht ... und der Richter am Oberlandesgericht ... und ... für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 27. Januar 2004 verkündete Urteil des Einzelrichters der 18. Zivilkammer des Landgerichts Hannover wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung wegen der Kosten des Berufungsverfahrens durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leisten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Wert der Beschwer der Klägerin übersteigt 20.000 EUR.

Streitwert des Berufungsverfahrens: 84.000 EUR.

Gründe:

I.

Die Klägerin macht gegenüber den Beklagten Schmerzensgeldansprüche und - im Wege der Feststellung - materielle Schadensersatzansprüche wegen der Folgen eines Unfalls geltend, der sich am 22. Mai 2001 gegen 11:45 Uhr an der Bushaltestelle N.straße in G. ereignete. Seinerzeit stürzte die am 22. Februar 1924 geborene Klägerin bei dem Versuch, den vom Beklagten zu 1 gesteuerten Linienbus, einen Gelenkbus, der bereits im Anfahren begriffen war, anzuhalten und zu besteigen. Das rechte Hinterrad des Busses überrollte beide Beine der Klägerin mit der Folge, dass das rechte Bein noch am selben Tag amputiert werden musste und auch das linke Bein schwere Verletzungen erlitt.

Das Landgericht, auf dessen Urteil zur näheren Sachdarstellung - auch wegen des beiderseitigen Parteivorbringens in erster Instanz - Bezug genommen wird, hat die Klage nach der Vernehmung von vier Unfallzeugen und der Einholung eines Gutachtens des Kfz-Sachverständigen Dipl.-Ing. K.H. M. mit der Begründung abgewiesen, dass der Beklagte zu 1 beim Anfahren zwar gegen seine Rückschaupflicht verstoßen habe, dass diese Pflichtverletzung und auch die erhöhte Betriebsgefahr des Busses jedoch hinter dem erheblichen Mitverschulden der Klägerin zurücktrete.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Dass sie dem Bus nachgelaufen sei, stelle eine Verhaltensweise im Rahmen zulässiger sozialer Adäquanz dar und könne nicht als Mitverschulden im Rechtssinne bewertet werden. Demgegenüber habe sich der Beklagte zu 1 beim Anfahren des Busses in einer Weise pflichtwidrig verhalten, dass eine volle Haftung der Beklagten für die Folgen des dadurch verursachten Unfalls gerechtfertigt sei.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil abzuändern und

1. die Beklagten zu 1 und 3 als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, welches allerdings mindestens 50.000 EUR beträgt und welches mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 1. Juni 2001 zu verzinsen ist,

2. festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, ihr sämtlichen künftigen materiellen Schaden zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger übergegangen sind, sowie festzustellen, dass die Beklagten zu 1 und 3 verpflichtet sind, ihr sämtlichen künftigen immateriellen Schaden zu ersetzen,

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihr eine Schmerzensgeldrente in Höhe von monatlich 150 EUR im Voraus ab dem 1. Juni 2001 zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Sie verteidigen das Ergebnis des angefochtenen Urteils, behaupten jedoch, dass der Beklagte zu 1 beim Anfahren des Busses seiner Rückschaupflicht sehr wohl nachgekommen sei. Eine zutreffende Würdigung der Aussagen der vom Landgericht vernommenen Unfallzeugen ergebe im Übrigen sogar, dass der Unfall für den Beklagten zu 1 unabwendbar gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien im Berufungsverfahren wird auf den vorgetragenen Inhalt der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Die Ermittlungsakten 672 a Js 55479/01 der Staatsanwaltschaft Hannover waren informationshalber Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

II.

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das Landgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.

Im Gegensatz zur Auffassung des Landgerichts stehen der Klägerin gegenüber den Beklagten aufgrund des Unfalls vom 22. Mai 2001 schon deshalb keine Schadensersatzansprüche zu, weil sich auf der Grundlage der in erster Instanz durchgeführten Beweisaufnahme keine Pflichtverletzung des Beklagten zu 1 beim Verlassen der Haltestelle N.straße in G. feststellen lässt. Zwar ist das Landgericht auf der Basis der beiden von ihm eingeholten Gutachten des Sachverständigen M. vom 25. Juni und 8. Oktober 2003 zu der Annahme gelangt, dass der Beklagte zu 1 sowohl beim ersten als auch beim zweiten Anfahren des Busses seiner Rückschaupflicht über den rechten Außenspiegel nicht ordnungsgemäß nachgekommen sei. Die dieser Einschätzung des Landgerichts zugrundeliegenden Ausführungen des Sachverständigen sind jedoch jedenfalls in zwei wesentlichen Punkten nicht tragfähig, weil sie in Widerspruch zu den insoweit übereinstimmenden und überzeugenden Bekundungen der vom Landgericht vernommenen vier Unfallzeugen stehen.

Zum einen geht der Sachverständige bei seinen Berechnungen davon aus, dass es ein durchgängiges Anfahrmanöver des Gelenkbusses ohne zwischenzeitlichen Stopp oder auch nur eine Geschwindigkeitsreduzierung bis zur Reaktion des Beklagten zu 1 nach dem Überrollen der Klägerin gegeben habe (s. S. 2 des Ergänzungsgutachtens vom 8. Oktober 2003). Diese Feststellung steht nicht in Einklang mit den Aussagen der vom Landgericht vernommenen Zeugen I. G., H. Z., G. B. und H. D., die übereinstimmend bekundet haben, dass sich der Bus zunächst etwas in Bewegung gesetzt und dann noch einmal angehalten habe, bevor die Klägerin nach dem zweiten Anfahren von dem rechten Hinterrad des Busses überfahren worden sei. Diesen Angaben folgend ist im Übrigen auch das Landgericht von einem zweimaligen Anfahren des Busses ausgegangen.

Zum anderen geht der Sachverständige M. davon aus, dass sich die Klägerin sechs Sekunden nach dem (einmaligen) Anfahren des Busses auf Höhe von dessen Gelenk bewegt habe und daher für den Beklagten zu 1 bei Einsicht in den rechten Außenspiegel zweifelsfrei sichtbar gewesen wäre (s. S. 19 des Hauptgutachtens vom 25. Juni 2003). Diese Annahme steht ebenfalls in Widerspruch zu den Bekundungen der vom Landgericht vernommenen Zeugen. Aus den Angaben der Zeugen G., Z. und B. ergibt sich, dass die dem Bus nacheilende Klägerin lediglich den hinteren Teil, d. h. den hinter dem Gelenk befindlichen sog. Nachläufer, erreichte. Nach den Beobachtungen des Zeugen B. gelangte sie (nur) bis zu der in dem Nachläufer befindlichen hinteren rechten Tür des Busses. Da der Bus zu diesem Zeitpunkt - wie B. weiter angegeben hat - bereits eine Schrägstellung einnahm, spricht viel dafür, dass sich die Klägerin im toten Winkel des rechten Außenspiegels des Busses mit der Folge befand, dass der Beklagte zu 1 sie jedenfalls durch einen Blick in diesen Spiegel nicht bemerken konnte.

Unter den hier gegebenen Umständen verdienen die Angaben der erstinstanzlich vernommenen Zeugen, die das Geschehen alle aufmerksam beobachtet haben, weil sie daran interessiert waren, ob die Klägerin den bereits im Anfahren begriffenen Bus wohl noch erreichen würde, den Vorzug gegenüber den Ausführungen des Sachverständigen M., der sich im Wesentlichen auf theoretische Annahmen und Erfahrungssätze stützt und die Angaben der Zeugen nicht in seine Überlegungen einbezieht.

Folgt man diesen Zeugenaussagen, so hatte die Klägerin den Bus bei dessen ersten Anfahren überhaupt noch nicht erreicht, sodass der Beklagte zu 1 sie auch (noch) nicht zu beachten brauchte. Eine nicht hinreichende Beobachtung der Türen des Busses über den rechten Außenspiegel durch den Beklagten zu 1 hätte sich in diesem Stadium des Anfahrens aber jedenfalls nicht kausal auf den späteren Sturz der Klägerin ausgewirkt.

Es lässt sich nach Überzeugung des Senats aber auch nicht feststellen, dass sich der Beklagte zu 1 beim zweiten Anfahren mit dem Bus pflichtwidrig verhalten hat. Zwar ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt die Tür im Nachläufer des Busses erreicht hatte. Der Beklagte zu 1, dessen Bus die Haltestelle infolge des ersten Anfahrens bereits teilweise verlassen hatte, war jedoch gleichwohl nicht verpflichtet, nochmals in den rechten Außenspiegel zu blicken, weil er sich nunmehr auf das Einfädeln in den fließenden Verkehr der N.straße konzentrieren durfte (und musste). Daran ändert auch der vom Beklagten zu 1 selbst bekundete Zuruf eines Kindes im Bus "Guck mal die Frau da." nichts, weil für ihn keinerlei Anhaltspunkte dafür bestanden, dass sich dieser Hinweis auf eine im Bereich der Tür des Nachläufers befindliche Person bezog. Auf ein etwaiges Klopfen der Klägerin an die hintere rechte Tür des Busses konnte der Beklagte zu 1 schon deshalb nicht reagieren, weil er es angesichts des Lärmpegels - in dem Bus befanden sich zur Mittagszeit zahlreiche Schüler - akustisch nicht wahrnehmen konnte. Dies hat auch der Kfz-Sachverständige Dipl.-Ing. K.H. B. auf S. 41 des im Auftrag der Beklagten zu 3 erstatteten Gutachtens vom 12. August 2002 ausdrücklich festgestellt.

Selbst wenn man den Beklagten zu 1 beim zweiten Anfahren verpflichtet halten wollte, nochmals in den rechten Außenspiegel zu blicken, lässt sich die Kausalität einer diesbezüglichen etwaigen Pflichtverletzung für den Sturz der Klägerin nicht feststellen, weil nicht sicher ist, dass er die Klägerin zu diesem Zeitpunkt bei einem Blick in den rechten Außenspiegel gesehen hätte. Der Sachverständige B. hat auf S. 42 seines Gutachtens hierzu im Gegenteil ausgeführt, dass der Beklagte zu 1 die Klägerin zu diesem Zeitpunkt aufgrund der Winkelstellung des Gelenkbusses nicht habe sehen können.

Schließlich käme eine Haftung der Beklagten für das Unfallgeschehen aber selbst dann nicht in Betracht, wenn dem Beklagten zu 1 vorzuwerfen wäre, auf den Zuruf des Kindes nicht angemessen reagiert und beim zweiten Anfahren des Busses nicht (nochmals) in den rechten Außenspiegel gesehen zu haben. Denn eine derartige - allenfalls leichte - Pflichtverletzung des Beklagten zu 1 tritt hier ebenso wie die von dem Bus ausgehende Betriebsgefahr hinter dem groben Mitverschulden der Klägerin zurück. Auch wenn der Senat die dramatischen Folgen des Unfalls für die Klägerin in hohem Maße bedauert, kommt er nicht um die Feststellung umhin, dass die Klägerin den Unfall durch ihr Verhalten aus eigennützigen Motiven geradezu herausgefordert hat. In der Beweglichkeit behindert durch Plastiktüten, die sie in der Hand hielt, und in der Sehfähigkeit beeinträchtigt durch eine Augenklappe - diese Feststellungen beruhen auf entsprechenden Angaben der Zeugin Z. - hat die Klägerin den Bus noch zu erreichen versucht, obwohl dieser bereits ein erstes Mal angefahren war, bevor sie auch nur das Ende des Nachläufers erreicht hatte. Unter diesen Umständen war ihr Unterfangen von vornherein erkennbar zum Scheitern verurteilt. Dies war im Übrigen auch der Eindruck der Zeugin D., als sie auf die dem Bus nacheilende Klägerin aufmerksam wurde. Indem die Klägerin ihr Vorhaben, den Bus noch zu besteigen, gleichwohl weiterverfolgte, hat sie jegliche Vorsicht gegen sich selbst vernachlässigt. Dies hat zur Folge, dass sie sich leider auch die bedauerlichen Unfallfolgen allein zuschreiben lassen muss.

Da sich die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende erstinstanzliche Urteil nach alledem als unbegründet erweist, war sie zurückzuweisen, und zwar ohne dass es der vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Senatstermin vom 31. August 2004 beantragten Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens zum Unfallhergang bedurfte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 108 Abs. 1 ZPO. Den Wert der Beschwer hat der Senat im Hinblick auf § 26 Nr. 8 EGZPO festgesetzt. Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne von § 543 ZPO liegen nicht vor.

Den Streitwert für das Berufungsverfahren hat der Senat in Übereinstimmung mit dem Landgericht auf 84.000 EUR festgesetzt (Berufungsantrag zu 1 50.000 EUR; Berufungsantrag zu 2 25.000 EUR; Berufungsantrag zu 3 gemäß § 17 Abs. 2 GKG 9.000 EUR).

Ende der Entscheidung

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