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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Celle
Beschluss verkündet am 28.10.2004
Aktenzeichen: 16 W 140/04
Rechtsgebiete: NdsGefAG, FGG


Vorschriften:

NdsGefAG § 19 Abs. 2 (idF v 20.02.1998 GVBl S 101)
FGG § 20 Abs. 1
FGG § 25
1. Gegen die Entscheidung des Amtsgerichts, dass die beendete Ingewahrsamnahme zum Zwecke der Gefahrenabwehr rechtswidrig war (§ 19 Abs. 2 NdsGefG i. d. F. v. 20. Februar 1998, GVBl. S. 101), steht der beteiligten Behörde das Recht der sofortigen Beschwerde nach § 20 Abs. 1 FGG zu.

2. Hat das Amtsgericht im Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit eine verfahrensfehlerfreie Sachentscheidung getroffen, die das Beschwerdegericht nicht für richtig hält, darf es die Sache nicht deshalb an das Amtsgericht zurückverweisen, weil von seinem abweichenden (materiellrechtlichen) Rechtsstandpunkt aus eine weitere Sachaufklärung erforderlich ist.


16 W 140/04

Beschluss

In der Freiheitsentziehungssache

betreffend Herrn V. M., geboren am ...,

hat der 16. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle durch den Vorsitzenden Richter ... und die Richter ... und ... am 28. Oktober 2004 beschlossen:

Tenor:

Auf die weitere sofortige Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss der 10. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 16. Juli 2004 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des weiteren Beschwerdeverfahrens, an die 10. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 3.000 EUR.

Gründe:

I.

Am 13. November 2001 wurde auf der L 256 um 15:27 Uhr hinter dem südlichen Ortsausgang L. Richtung G. durch etwa 200 Personen eine Sitzblockade errichtet. Die L 256 war in diesem Bereich die Hauptroute für den Transport des Castor. Mit Allgemeinverfügung vom 27. Oktober 2001, geändert durch Allgemeinverfügung vom 31. Oktober 2001, war für diese Transportstrecke ein sofort vollziehbares Versammlungsverbot angeordnet worden.

Um 16:02 Uhr wurde die Versammlung über die Lautsprecheranlage aufgelöst. Die Demonstranten wurden dreimal aufgefordert, die Straße zu verlassen. Um 16:35 Uhr begannen die Polizeikräfte, die Straße zu räumen. Ab 18:12 Uhr wurden die Aufforderungen zur Räumung der Straße noch dreimal wiederholt. Die Räumung der L 256 erforderte einfache körperliche Gewalt in Form des Wegführens oder Wegtragens und dauerte bis in die frühen Morgenstunden des 14. November 2001.

Der Betroffene gehörte zu einer Gruppe von mehreren Motorradfahrern, die im lockeren Verbund am 13. November 2001 gegen ca. 23:18 Uhr südlich der L 256 aus einem Waldgebiet kommend in Richtung L. fuhren. Der Betroffene sowie die übrigen Motorradfahrer wurden auf der Straße S., Ortseingang L., in nicht genau festgestellter Entfernung zur Transportstrecke durch Beamte der Landesbereitschaftspolizei Sachsen-Anhalt in Gewahrsam genommen.

Die Ingewahrsamnahme des Betroffenen erfolgte um 23:28 Uhr. Die Aufnahme in der Gefangenensammelstelle am 14. November 2001 um 05:07 Uhr. Nach Eintreffen des Castor um 07:09 Uhr wurde die Entlassung sämtlicher in Gewahrsam genommener Personen angeordnet. Der Betroffene wurde um 08:05 Uhr aus dem Gewahrsam entlassen.

Auf Antrag des Betroffenen hat das Amtsgericht Dannenberg mit Beschluss vom 2. Februar 2004 die Rechtswidrigkeit der Freiheitsbeschränkung festgestellt.

Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen für einen Unterbringungsgewahrsam nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 NdsGefAG seien nicht gegeben gewesen. Eine solche komme danach nur in Betracht, wenn diese zur Verhinderung einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblichem Gewicht unerlässlich sei. Es seien aber keine Anhaltspunkt dafür ersichtlich und es lasse sich auch sonst nicht feststellen, dass sich der Antragsteller an einer Straftat oder Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit beteiligt hätte. Selbst wenn sich der Antragsteller an der Sitzblockade habe teilnehmen wollen, hätte er dadurch weder eine Straftat noch eine Ordnungswidrigkeit mit erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit begangen (wird ausgeführt).

Gegen diesen Beschluss hat die Bezirksregierung L. am 18. Februar 2004, eingegangen am 20. Februar 2004, sofortige Beschwerde eingelegt.

Das Landgericht hat den angefochtenen Beschluss aufgehoben, die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Dannenberg zurückverwiesen und gegen seine Entscheidung die weitere sofortige Beschwerde zugelassen.

Entgegen der Auffassung des Betroffenen hat es eine Beschwerdebefugnis der Beteiligten gegen die stattgebende Entscheidung des Amtsgerichts bejaht und im Übrigen gemeint, das Amtsgericht habe verkannt, dass die beabsichtigte Teilnahme an einer verbotenen Sitzblockade durchaus eine Ingewahrsamnahme nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 NdsGefAG rechtfertige (Beschlussgründe S. 4) und das Amtsgericht seine Entscheidung verfahrensfehlerhaft auf einen nur unzureichend aufgeklärten Sachverhalt gestützt habe. Zur gebotenen Sachaufklärung hat es das Verfahren an das Amtsgericht zurückverwiesen. Gegen diese Entscheidung wendet sich der Betroffene mit der zugelassenen weiteren sofortigen Beschwerde.

II.

Die nach § 19 Abs. 2 Satz 4 NdsGefAG i. d. F. v. 20. Februar 1998 (GVBl. S. 101) zugelassene weitere sofortige Beschwerde des Antragstellers ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§ 19 Abs. 3 NdsGefAG i. V. m. § 7 NdsFGG, §§ 27, 29 FGG).

Sie ist auch begründet, denn das Landgericht hätte die Sache nicht an das Amtsgericht zurückverweisen dürfen (§ 27 FGG).

1. Zu Unrecht reklamiert der Antragsteller allerdings, das Landgericht habe die sofortige Beschwerde der Beteiligten gegen die antragsgemäße Feststellung des Amtsgerichts, die erlittene Freiheitsbeschränkung sei rechtswidrig gewesen, als unzulässig verwerfen müssen, weil die Beteiligte keine Beschwerdebefugnis gegen die dem Antrag stattgebende Entscheidung habe. Vielmehr hat das Landgericht ein Beschwerderecht der beteiligten Behörde zu Recht angenommen.

Die Beteiligte ist durch die Entscheidung, mit der dem Antrag des Betroffenen auf nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ingewahrsamnahme nach § 19 Abs. 2 Satz 1 NdsGefAG i. d. F. vom 20. Februar 1998 (GVBl. S. 101) stattgegeben worden ist, beschwert und auch befugt, die Beseitigung der Beschwer mit der sofortigen Beschwerde anzustreben. Dies folgt aus § 19 Abs. 2 Satz 3 NdsGefAG i. V. m. § 19 Abs. 3 NdsGefAG, § 7 NdsFGG und § 20 Abs. 1 FGG.

§ 19 Abs. 2 Satz 3 NdsGefAG hat seine hier maßgebliche Fassung mit dem Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes vom 20. Mai 1996 erhalten (GVBl. S. 230) und geht, soweit ersichtlich, auf die nicht näher begründete Beschlussempfehlung des Ausschusses für innere Verwaltung vom 30. April 1996 zurück (Drucks. 13/1990). Danach findet gegen die Entscheidung über den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der beendeten Freiheitsentziehung die sofortige Beschwerde statt. Eine Beschränkung auf die Möglichkeit der Anfechtung nur gegen die ablehnende Entscheidung durch den antragstellenden Betroffenen lässt sich dieser Bestimmung auch unter Berücksichtigung der Beratung im Niedersächsischen Landtag (Stenographische Berichte, 13. WP, 55. Plenarsitzung vom 8. Mai 1996 S. 5677) nicht entnehmen, so dass grundsätzlich auch eine Anfechtungsmöglichkeit der beteiligten Behörde im Rahmen des anzuwendenden Verfahrensrechts nicht ausgeschlossen ist.

Dagegen wendet der Antragsteller erfolglos ein, erst seit Inkrafttreten des mit dem Gesetz zur Änderung des Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes vom 11. Dezember 2003 (GVBl. S. 414) angefügten § 19 Abs. 4 Satz 2 SOG sehe das Gesetz ein Beschwerderecht der Polizei und der Verwaltungsbehörde bei abgelehnten Anträgen auf Anordnung von Haft vor. Aus dem Regierungsentwurf zu diesem Gesetz wird nur erkennbar, dass der Gesetzgeber sich aufgrund nicht näher benannter Spruchpraxis verschiedener niedersächsischer Gerichte, die der antragstellenden Behörde ein Beschwerderecht wohl versagt haben, durch eine eindeutige gesetzliche Regelung entgegenwirken wollte (Drucks. 15/249, S. 13). Daraus lässt sich aber nicht zwingend entnehmen, dass es nach dem bis dahin geltenden Recht ein Beschwerderecht der Behörde nicht gab, sondern nur, dass bestimmte Gerichte ein solches wohl nach § 20 FGG verneint haben sollen. Nach Auffassung des Senats steht den Polizei und Ordnungsbehörden ein solches Beschwerderecht bei Ablehnung einer beantragten Haftanordnung aber nach § 20 Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 FGG zu. Wie schon vom Landgericht im angefochtenen Beschluss ausgeführt, haben Behörden ein Beschwerderecht, soweit sie unabhängig von dem Willen der Beteiligten zur Vertretung öffentlicher Interessen berufen oder selbst an dem Verfahren beteiligt und durch die Entscheidung beeinträchtigt sind (Keidel/Kuntze/Winkler/Kahl, FGG, 15. Aufl., § 20 Rn. 24). Diese Voraussetzungen liegen nach Auffassung des Senats vor, wenn die für die Gefahrenabwehr zuständige Behörde zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung den weiteren Verbleib des Störers im behördlichen Gewahrsam anstrebt. Gegenteilige Rechtsprechung, insbesondere der Oberlandesgerichte in Niedersachsen, ist dem Senat nicht bekannt und soweit ersichtlich, zumindest nicht veröffentlicht.

Im Ergebnis ebenso liegen die Dinge, wenn nachträglich auf Antrag des Betroffenen über die Zulässigkeit des beendeten Gewahrsams gestritten wird. Damit wird dem Rehabilitierungsinteresse des Antragstellers Rechnung getragen und ihm die Möglichkeit eröffnet, die Rechtswidrigkeit eines Eingriffs in seine Freiheitsgrundrechte feststellen zu lassen. Ebenso besteht aber auch das anerkennenswerte Interesse des Staates, im Falle einer Entscheidung zu seinem Nachteil diese mit der sofortigen Beschwerde anzufechten. Nur so hat er die Möglichkeit, sich von dem schweren Vorwurf des rechtwidrigen Eingriffs in Freiheitsrechte des Antragstellers zu entlasten. Im Übrigen erscheint ein Abwehrinteresse auch im Hinblick auf etwaige nachteilige Begleiterscheinungen, wie die Inanspruchnahme auf Zahlung einer Entschädigung oder Schadensersatz, gegeben.

Einer Beschwerdebefugnis steht auch § 20 Abs. 2 FGG nicht entgegen. Soweit eine Verfügung nur auf Antrag erlassen wird, steht danach gegen die Ablehnung des Antrags nur dem Antragsteller die Beschwerde zu. Hintergrund dieser Regelung ist ersichtlich, dass im Antragverfahren nur der Antragsteller seinen abgelehnten Antrag mit der Beschwerde weiterverfolgen kann, dagegen nicht ein ebenso beschwerter Dritter, der kein eigenes Antragsrecht hat (Keidel/Kuntze/Winkler/Kahl, FGG, 15. Aufl., § 20 Rn. 49). Die vorliegende Beschwerde der Beteiligten betrifft hingegen nicht einen abgelehnten, sondern einen stattgegebenen Antrag. In einem solchem Fall ist § 20 Abs. 2 FGG ohne Belang.

Im Übrigen sei nur der Vollständigkeit wegen darauf hingewiesen, dass nur die Gesetzesauslegung des Landgerichts und des Senats zu Ergebnissen führt, die mit den Grundsätzen des gesunden Menschenverstandes - und der Waffengleichheit - zu vereinbaren sind. Die gegenteilige Auffassung des Beschwerdeführers würde zu einem unauflösbarem Chaos führen, weil jeder Amtsrichter ohne Korrekturmöglichkeit durch eine Rechtsmittelinstanz seine juristische Meinung über die Unrechtmäßigkeit einer Ingewahrsamnahme durchsetzen könnte und die Festnahme mehrerer Demonstranten derselben Sitzblockade zu unterschiedlichen amtsgerichtlichen Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit führen würde. Die gleichmäßige Rechtsanwendung - soweit das bei unbestimmten Rechtsbegriffen möglich ist - hat im Übrigen sogar Verfassungsrang (BVerfG NJW 2004, 1371, 1372).

2. Rechtsfehlerhaft hat das Landgericht die Sache allerdings an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.

Dabei hat es ausschließlich darauf abgestellt, dass die aus seiner Sicht erforderliche weitere Sachaufklärung vom Amtsgericht vorgenommen werden müsse, weil den Verfahrensbeteiligten anderenfalls eine Instanz genommen werde. Dies allein rechtfertigt die angeordnete Zurückverweisung aber nicht. Hinzukommen muss, dass die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung auch auf einem Verfahrensmangel beruht bzw. das nicht auszuschließen ist (BGH, Report 2003, 1231, 1232). Denn das Beschwerdegericht ist als Tatgericht - ebenso wie die Eingangsinstanz - befugt und verpflichtet, die für die Entscheidung relevanten Tatsachen zu ermitteln und die erforderlichen Beweise zu erheben (§ 12 FGG). Die Zurückverweisung bildet die Ausnahme (Keidel/Kuntze/Winkler/Sternal, FGG, 15. Aufl., § 25 Rn 21). Sie ist angezeigt bei schwerwiegenden Mängel im vorausgegangenen Verfahren, insbesondere bei dem Verfahrensmangel der ganz ungenügenden Sachaufklärung (Keidel/Kuntze/Winkler, wie vor). Sie kommt dagegen nicht in Betracht, wenn das vorinstanzliche Verfahren nicht an einem formellen Mangel leidet und die gebotene Sachaufklärung nur deshalb erforderlich wird, weil das Beschwerdegericht eine abweichende materiellrechtliche Rechtsauffassung vertritt (KG OLGZ 1968, 467). So liegt die Sache hier. Das Amtsgericht vermochte zwar nicht festzustellen, dass der Antragsteller an der Sitzblockade hat teilnehmen wollen, hat dies aber dennoch bei seiner Entscheidung unterstellt und gemeint, der unterstellte Sachverhalt erfülle weder einen Straftatbestand noch eine Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr für die Allgemeinheit und habe schon deshalb die Ingewahrsamnahme des Antragstellers nach § 18 Abs. 1 Nr. 2 NdsGefAG nicht erlaubt. Aus Sicht des Amtsgerichts war eine weitere Aufklärung des Sachverhalts daher gerade unerheblich. Diese Auffassung des Amtsgerichts entspricht zwar aus den zutreffenden Erwägungen des Landgerichts nicht der Rechtslage, bedeutet aber eben nur eine Verletzung des materiellen Rechts. Wenn dagegen, wie in zahlreichen anderen dem Senat noch vorliegenden Verfahren, das Amtsgericht beispielsweise die Teilnahme an einer Sitzblockade als ausreichenden Grund für die Ingewahrsamnahme angesehen, sie aber trotzdem aus tatsächlichen Gründen für rechtswidrig gehalten hat, dann darf das Landgericht wegen des Verfahrensmangels der unzureichenden Sachaufklärung zurückverweisen, sollte aber in Erwägung ziehen, ob es nicht selbst entscheidet, z. B. dann, wenn die noch für erforderlich gehaltenen Ermittlungen nur wenig Zeit in Anspruch nehmen (vgl. die Neufassung von § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, der zwar nicht direkt anwendbar ist, aber eine Tendenz des Gesetzgebers erkennen lässt).

Ende der Entscheidung

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