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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Beschluss verkündet am 18.07.2008
Aktenzeichen: OLG Ausl 51/08 (1)
Rechtsgebiete: IRG, StPO, StGB


Vorschriften:

IRG § 3
IRG § 9 Nr. 1
IRG § 26 Abs. 1
IRG § 81
IRG § 83 b
IRG § 83 b Abs. 1 Buchst. b
IRG § 83 c Abs. 1
StPO § 154 Abs. 2
StPO § 264
StGB § 181 a
Erweist sich die Auslieferung an die Republik Polen zur Vollstreckung einer Gesamtfreiheitsstrafe hinsichtlich eines Teils einer Einzelstrafe für unzulässig, kann die Auslieferung gleichwohl für den Teil der Strafe für zulässig erklärt werden, der auf die Taten entfällt, hinsichtlich derer die Auslieferungsvoraussetzungen vorliegen.
Oberlandesgericht Dresden Beschluss

Aktenzeichen: OLG Ausl 51/08

vom 18. Juli 2008

In der Auslieferungssache gegen den polnischen Staatsangehörigen

wegen Menschenhandels u. a.

Tenor:

1. Die Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zur Vollstreckung der mit Urteil des Bezirksgerichts Gorzow vom 28. Juni 2002 (Az.: II K 72/00) verhängten Freiheitsstrafe wird für den Teil der Strafe für zulässig erklärt, der auf die Taten zum Nachteil der M K , der A F , der A I , geborene L , und der A L entfällt.

Soweit die Strafe auf die Tat zum Nachteil der A R , geborene G , entfällt, wird die Auslieferung für unzulässig erklärt.

2. Die Fortdauer der Auslieferungshaft wird angeordnet.

Gründe:

I.

Der Senat hat am 23. April 2008 gegen den Verfolgten, der mit seiner vereinfachten Auslieferung nicht einverstanden ist, die Auslieferungshaft zum Zwecke seiner Auslieferung zur Strafvollstreckung an die Republik Polen angeordnet und mit Beschluss vom 14. Mai 2008 Einwendungen gegen den Haftbefehl zurückgewiesen.

Gegen den Verfolgten liegt ein Europäischer Haftbefehl des Bezirksgerichts Gorzow vom 16. November 2005 (Az: II Kop 37/05) vor. Der Haftbefehl ist auf ein Urteil des Bezirksgerichts Gorzow vom 28. Juni 2002 (Az: II K 72/00) gestützt. Danach ist der Verfolgte zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden, weil er im Zeitraum von 1993 bis September 1994 gemeinsam mit anderen Tätern fünf - teilweise minderjährige - Frauen zum Zwecke der Prostitutionsausübung nach Berlin gelockt, aus der Ausübung der Prostitution in Berlin sich einen Vermögensvorteil verschafft und die Frauen danach an verschiedene Bordelle "verkauft" hat. Ausweislich des Urteils des Bezirksgerichts Gorzow ist der Verfolgte wegen der Tat zum Nachteil der A F zu einer Einzelstrafe von drei Jahren, wegen der Tat zum Nachteil der A I zu einer Einzelstrafe von einem Jahr und sechs Monaten und wegen der Taten zum Nachteil der A R , der M K und der A L zu einer Einzelstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden.

Mit Beschluss vom 20. Juni 2008 hat der Senat festgestellt, dass die Vorabentscheidung (§ 79 Abs. 2 Satz 1 IRG) der Generalstaatsanwaltschaft Dresden vom 05. Juni 2008 rechtsfehlerhaft getroffen ist und die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten an die Republik Polen zurückgestellt.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat nunmehr am 03. Juli 2008 - in einer kombinierten Bewilligungs- und Vorabentscheidung - die Auslieferung des Verfolgten bewilligt, soweit er wegen Taten zum Nachteil der M K , der A F , der A I , geborene L , und der A L verurteilt worden ist. Die Generalstaatsanwaltschaft beabsichtigt nicht, Bewilligungshindernisse nach § 83 b IRG geltend zu machen. Zulässige Ersuchen um Auslieferung seien grundsätzlich zu bewilligen, wenn kein Bewilligungshindernis im Sinne des § 83 b IRG vorliege. Die Einstellung des gegen den Verfolgten gerichteten Verfahrens vor dem Landgericht Berlin wegen der Tat zum Nachteil der M K stehe einer Auslieferung nicht entgegen. Die Tat sei in Deutschland nicht sanktioniert worden; es bestehe auch insoweit keine Gefahr für eine Doppelverfolgung. Sonstige Bewilligungshindernisse seien nicht ersichtlich. In einer Gesamtabwägung überwiege das Interesse der Bundesrepublik Deutschland, ihren Vertragspflichten aus dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl zu genügen.

Zu ihrer Vorabentscheidung und der Bewilligungsentscheidung hat die Generalstaatsanwaltschaft den Verfolgten am 09. Juli 2008 durch das Amtsgericht Dresden anhören lassen. Der Verfolgte meint, auch die neue Vorabentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft sei rechtsfehlerhaft getroffen. Die Generalstaatsanwaltschaft habe das notwendige Ermessen nicht ausgeübt. Im Übrigen sei die Bewilligung der Auslieferung nicht teilbar. Eine Auslieferung könne nur unter Aufhebung des polnischen Urteils und Neuentscheidung erfolgen.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat nunmehr beantragt, die Auslieferung des Verfolgten für zulässig zu erklären, soweit er durch das Urteil des Bezirksgerichts Gorzow vom 28. Juni 2002 wegen Taten zum Nachteil der M K , der A F , der A I , geborene L , und der A L verurteilt worden ist; hinsichtlich der Tat zum Nachteil der A R sei die Auslieferung zur Strafvollstreckung wegen der Verurteilung der Tat durch das Landgericht Berlin unzulässig. Gleichzeitig beantragt sie, die Fortdauer der Auslieferungshaft anzuordnen.

Der Beistand des Verfolgten hatte Gelegenheit zur Stellungnahme.

II.

Die Auslieferung ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang für zulässig zu erklären; im Übrigen erweist sie sich als unzulässig.

1. Die Auslieferung des Verfolgten zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe wegen der Tat zum Nachteil der Geschädigten A R , geborene G , ist gemäß § 9 Nr. 1 IRG nicht zulässig. Der Verfolgte ist wegen dieser Tat bereits am 12. Januar 1999 durch das Landgericht Berlin (Az.: [503] 68 Js 60/93 KLs [22/95]) wegen Menschenhandels rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden. Die dem Urteil des Landgerichts Berlin und dem Urteil des Bezirksgerichts Gorzow insoweit zugrundeliegenden Sachverhalte sind identisch.

2. Soweit der Angeklagte durch die Staatsanwaltschaft Berlin auch wegen Menschenhandels zum Nachteil der M K angeklagt worden war, ist das Verfahren in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin am 04. Januar 1999 gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Diese Verfahrenseinstellung begründet kein zwingendes Auslieferungshindernis, sondern ist von der Bewilligungsbehörde gemäß § 83 b Abs. 1 Buchst. b IRG als fakultatives Bewilligungshindernis zu berücksichtigen. Auch insoweit sind die der Anklage und dem Urteil des Bezirksgerichts Gorzow zugrundeliegenden Sachverhalte identisch.

Die von der Einstellung umfasste Tat und die weiteren mit dem Urteil des Bezirksgerichts Gorzow abgeurteilten Taten sind nach §§ 3, 81 IRG auslieferungsfähig. Soweit dem Verfolgten Menschenhandel vorgeworfen wird, ist die beiderseitige Strafbarkeit nicht zu prüfen, weil die abgeurteilten Taten insoweit zu einer der in Art. 2 Abs. 2 RbEuHB in Bezug genommenen Deliktsgruppen (Menschenhandel) zugehörig sind. Im Übrigen stellen sich die vorgeworfenen Taten nach deutschem Recht auch als Zuhälterei gemäß § 181 a StGB dar.

Das Mindestmaß der zu vollstreckenden freiheitsentziehenden Sanktion von vier Monaten (§§ 3, 81 Nr. 2 IRG) ist auch unter Berücksichtigung des Umstandes erreicht, dass die Auslieferung wegen der auf die Tat zum Nachteil der A R , geborene G , entfallende Freiheitsstrafe unzulässig ist. Gegen den Verfolgten sind durch das Bezirksgericht Gorzow allein wegen der Taten zum Nachteil der A F und der A I , geborene L , Einzelstrafen von drei Jahren sowie von einem Jahr und sechs Monaten verhängt worden.

3. Einer Zulässigkeit der Auslieferung steht nicht entgegen, dass die Republik Polen um Auslieferung zur Vollstreckung einer Gesamtfreiheitsstrafe ersucht. Zwar wird die gegen den Verfolgten verhängte Strafe in der Republik Polen aufgrund der nur teilweise zulässigen Auslieferung nicht mehr in ihrer ursprünglichen Höhe vollstreckt werden können. Dies kann jedoch nicht dazu führen, dass die Auslieferung insgesamt unzulässig wird und - wie der Verfolgte meint - das polnische Gericht zunächst verpflichtet ist, seine Entscheidung abzuändern und nunmehr eine Freiheitsstrafe lediglich wegen des auslieferungsfähigen Teils zu verhängen. Dies kann schon deshalb nicht verlangt werden, weil noch keine Bewilligung der Auslieferung erfolgt ist und eine solche - entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft - auch nicht vor der Entscheidung des Senats über die Zulässigkeit der Auslieferung ausgesprochen werden kann. Es kann auch nicht in Betracht kommen, dass der Senat die vom Bezirksgericht Gorzow verhängte Gesamtfreiheitsstrafe auflöst und hinsichtlich des auslieferungsfähigen Teils eine neue Strafe festsetzt (vgl. OLG Koblenz GA 1993, 561). Denn dies würde einen Akt der Strafzumessung darstellen, der grundsätzlich dem Gericht des ersuchenden Staates vorbehalten bleiben muss (Dünisch GA 1993, 562).

Der Vorzug ist vielmehr der vom Bundesgerichtshof gefundenen Lösung für den vergleichbaren Fall der Auslieferung zur Vollstreckung zweier Taten im Sinne des § 264 StPO, von denen eine nach deutschem Recht nicht strafbar ist, zu geben. Danach haben deutsche Gerichte die Auslieferung zur Vollstreckung nur für den Teil der Strafe für zulässig zu erklären, der auf die nach deutschem Recht strafbare Tat entfällt. Dem Gericht oder der sonst zuständigen Behörde des ersuchenden Staates obliegt es dann, diesen Teil der erkannten Strafe der Art und Höhe nach zu bestimmen und die Strafe nur insoweit zu vollstrecken (BGH NJW 1977, 1598). Diese Auffassung entspricht auch der deutschen Rechtslage für den Fall einer Einlieferung zur Strafvollstreckung in die Bundesrepublik bei nur teilweiser Bewilligung der Auslieferung durch den ersuchten Staat (vgl. die Darstellung von Rechtsprechung und Literatur in Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, IRG 4. Aufl. § 72 Rdnr. 24). Mit dieser vollstreckungsrechtlichen Lösung kann die Auslieferung auch für zulässig erklärt werden, obwohl der auf die Tat zum Nachteil der A R entfallende Teil der Strafe nicht nur in der Gesamtfreiheitsstrafe, sondern bereits auch in der Einzelstrafe für die Taten zum Nachteil der M K und der A L enthalten ist. Auch insoweit obliegt es den polnischen Behörden, den vollstreckbaren Teil der Strafe zu bestimmen.

III.

Eine Überprüfung der Vorabentscheidung der Generalstaatsanwaltschaft Dresden vom 03. Juli 2008 (§ 79 Abs. 2 Satz 3 IRG) hat keinen zu beanstandenden Ermessensfehler zum Nachteil des Verfolgten aufgedeckt.

Allerdings lässt die bedenklich knappe Begründung der Generalstaatsanwaltschaft, ob sie mit Blick auf die Einstellung des Verfahrens gemäß § 154 Abs. 2 StPO beabsichtigt, Bewilligungshindernisse im Sinne des § 83 b Abs. 1 Buchst. b IRG geltend zu machen, besorgen, dass sie der Auffassung sein könnte, mit diesem Bewilligungshindernis werde ein Verbot der Doppelbestrafung normiert. Mit § 83 b Abs. 1 Buchst. b IRG ist jedoch Art. 4 Nr. 3 RbEuHb umgesetzt worden. Dabei ist das Konzept des Art. 9 Satz 2 EuAlÜbk übernommen worden (BT-Drs. 15/1718 S. 21), um dem Grundsatz des "ne bis in idem" Geltung zu verschaffen und bereits eine doppelte Strafverfolgung zu vermeiden.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat jedoch mit dem Hinweis darauf, dass eine grundsätzliche Pflicht zur Bewilligung besteht und eine Gesamtabwägung vorzunehmen ist, noch ausreichend zu erkennen gegeben, dass sie die Hinweise des Senats im Beschluss vom 20. Juni 2008 für die erneut zu treffende Ermessensentscheidung zur Kenntnis genommen und deshalb die bei der Gesamtabwägung maßgeblichen Kriterien (Gesetzentwurf zum Europäischen Haftbefehlsgesetz - Drs. 16/1024, S. 13) in ihre Überlegungen eingestellt hat. Bei Berücksichtigung dieser Kriterien erscheint es dem Senat auch ausgeschlossen, dass das Ermessen der Generalstaatsanwaltschaft so reduziert sein könnte, dass die Unzulässigkeit der Auslieferung wegen der von der Einstellung umfassten Tat das einzig vertretbare Ergebnis wäre.

IV.

Nachdem sich der Verfolgte seit der letzten Entscheidung über die Fortdauer der Haft am insgesamt zwei Monate zum Zweck der Auslieferung in Haft befindet, ist gemäß § 26 Abs. 1 IRG die Haftprüfung durchzuführen. Die Prüfung führt zur Anordnung der Fortdauer der Auslieferungshaft. Das vorliegende Auslieferungsverfahren hebt sich sowohl in sachlicher wie auch rechtlicher Hinsicht von vergleichbaren Auslieferungsverfahren aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ab, so dass eine Fortdauer der Auslieferungshaft unter Berücksichtigung des Freiheitsgrundrechts des Verfolgten verhältnismäßig ist. Diese Umstände rechtfertigen auch die Überschreitung der Frist aus § 83 c Abs. 1 IRG.

Der Senat kann auch ausschließen, dass der Verfolgte durch die in der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen bisher verbüßte Untersuchungs- und Auslieferungshaft bereits die zu erwartende Strafhaftzeit überschritten hat. Der Beistand des Verfolgten geht in seiner Stellungnahme insoweit von erkennbar unrichtigen Strafhöhen aus.

Wegen des Haftgrundes der Fluchtgefahr nimmt der Senat auf seinen in dieser Sache ergangenen Beschluss vom 14. Mai 2008 Bezug.

Ende der Entscheidung

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