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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Dresden
Beschluss verkündet am 07.02.2007
Aktenzeichen: Ss (OWi) 395/06
Rechtsgebiete: GG, SächsPolG


Vorschriften:

GG Art. 2 Abs. 1
GG Art. 3 Abs. 1
GG Art. 20 Abs. 3
SächsPolG § 1 Abs. 1
SächsPolG § 9 Abs. 1
SächsPolG § 14
Eine sächsische Polizeiverordnung, die einen Anleinzwang für Hunde im Gemeindegebiet anordnet, findet ihre Ermächtigungsgrundlage im Polizeigesetz des Freistaates Sachsen. Sie verstößt jedenfalls dann gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhäldnismäßigkeit, wenn sie keine Ausnahmen vom allgemeinen Anleinzwang vorsieht. Die geltende "Polizeiverordnung gegen umweltschädliches Verhalten und Lärmbelästigung, zum Schutz vor öffentlichen Beeinträchtigungen und über das Anbringen von Hausnummern in der Stadt Zwickau (PolVO)" vom 9. Oktober 2003 ist deshalb hinsichtlich der Anleinpflicht für Hunde unwirksam.
Oberlandesgericht Dresden

Aktenzeichen: Ss (OWi) 395/06

Beschluss

vom 07. Februar 2007

in der Bußgeldsache gegen

wegen: Verstoßes gegen die Polizeiverordnung der Stadt Zwickau

Tenor:

1. Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Zwickau vom 19. Januar 2006 aufgehoben.

Die Betroffene wird freigesprochen.

2. Der Staatskasse fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Betroffenen zur Last.

Gründe:

I.

Das Amtsgericht Zwickau hat die Betroffene am 19. Januar 2006 wegen vorsätzlichen Führens eines nicht angeleinten Hundes auf einer öffentlichen Straße zu einer Geldbuße in Höhe von 50,00 EUR verurteilt.

Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen führte die Betroffene am 11. September 2004 gegen 10:30 Uhr auf öffentlichen Straßen in Zwickau, nämlich auf dem Anton-Günter-Weg, ihre Deutsche Dogge, ohne den Hund angeleint zu haben.

Gegen das Urteil hat die Betroffene durch ihre Verteidigerin rechtzeitig Rechtsbeschwerde eingelegt und zugleich beantragt, die Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des materiellen Rechts zuzulassen. Mit der Sachrüge macht sie insbesondere geltend, dass die Zwickauer Polizeiverordnung vom 09. Oktober 2003 hinsichtlich des angeordneten Leinenzwangs gegen das Übermaßverbot bzw. gegen das Bestimmtheitsgebot verstoße und daher insgesamt unwirksam sei.

Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat beantragt, die Rechtsbeschwerde der Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Zwickau vom 19. Januar 2006 zuzulassen und auf die Rechtsbeschwerde das Urteil des Amtsgerichts Zwickau aufzuheben und die Betroffene freizusprechen.

II.

Mit Beschluss vom heutigen Tage hat der Senat - Der Einzelrichter - die Rechtsbeschwerde gegen das Urteil des Amtsgerichts Zwickau vom 19. Januar 2006 zur Fortbildung des Rechts, nämlich wegen der Klärungsbedürftigkeit der Frage der Verfassungsgemäßheit der fraglichen Polizeiverordnung, zugelassen und die Sache dem Senat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen.

Die somit zulässige Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zum Freispruch der Betroffenen.

1. Die Feststellungen tragen zwar zunächst eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen die Regelungen der §§ 4 Abs. 3 Satz 1 (i.V.m. § 2) und 17 Abs. 1 Nr. 4 der Polizeiverordnung gegen umweltschädliches Verhalten und Lärmbelästigung, zum Schutz vor öffentlichen Beeinträchtigungen und über das Anbringen von Hausnummern in der Stadt Zwickau (PolVO) vom 09. Oktober 2003, veröffentlicht im "Zwickauer Pulsschlag" Nr. 37/03 vom 15. Oktober 2003.

Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen führte die Betroffene ihre Deutsche Dogge, einen für Außenstehende aufgrund seiner Größe furchteinflößenden riesigen Hund, der ca. 80 bis 100 cm in der Höhe misst, auf öffentlichen Straßen in Zwickau, nämlich auf dem Anton-Günter-Weg, ohne ihren Hund angeleint zu haben.

Gemäß § 4 Abs. 3 der vorgenannten Polizeiverordnung dürfen

"Auf öffentlichen Straßen und in Grün- und Erholungsanlagen im Sinne des § 2 dieser Polizeiverordnung ... Hunde nur von aufsichtsfähigen Personen und angeleint geführt werden."

§ 2 der in Bezug genommenen Polizeiverordnung lautet:

"Begriffsbestimmungen

Abs. 1

Öffentliche Straßen sind alle Straßen, Wege und Plätze, die dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind oder auf denen ein tatsächlicher öffentlicher Verkehr stattfindet.

Abs. 2

Grün- und Erholungsanlagen sind allgemein zugängliche, insbesondere gärtnerisch gestaltete Anlagen, die der Erholung der Bevölkerung oder der Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes dienen. Zu den Grün- und Erholungsanlagen gehören unter anderem auch Verkehrsgrünanlagen und allgemein zugängliche Kinderspielplätze und allgemein zugängliche Sportplätze."

Ein vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstoß gegen die genannte Vorschrift kann gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. Abs. 3 der Polizeiverordnung mit einer Geldbuße von 5,00 bis 1.000,00 EUR, bei fahrlässigem Handeln bis 500,00 EUR, geahndet werden.

2. Die genannte Polizeiverordnung der Stadt Zwickau vom 09. Oktober 2003 verfügt über eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage und verstößt weder gegen das höherrangige Tierschutzgesetz noch gegen das Grundrecht des Hundehalters auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit noch gegen das Übermaßverbot bzw. den Gleichbehandlungsgrundsatz.

a) Ermächtigungsgrundlage für die genannte Polizeiverordnung ist § 9 Abs. 1 i.V.m. den §§ 1 Abs. 1 und 14 des Polizeigesetzes des Freistaates Sachsen (SächsPolG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. August 1999 (SächsGVBl S. 466). Danach können die örtlichen Polizeibehörden (hier der Gemeinderat der Stadt Zwickau) zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach dem Sächsischen Polizeigesetz (hier der Gefahrenabwehr) Polizeiverordnungen zur Abwehr abstrakter Gefahren erlassen. Dass von jedem Hund, unabhängig von seiner Rasse und Größe, abstrakte Gefahren ausgehen, ist unzweifelhaft. So hat das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung vom 03. Juli 2002 (BVerw-GE 116, 347 ff. = NVwZ 03, 95 ff.), die sich allerdings im Wesentlichen mit Bestimmungen der niedersächsischen Gefahrtier-Verordnung befasste, in der Abgrenzung der Begriffe "abstrakte Gefahr" gegen "Gefahrenvorsorge" festgehalten, dass von Hunden unzweifelhaft (abstrakte) Gefahren ausgehen, die den Erlass von Verordnungen nach dem allgemeinen Gefahrenabwehrrecht ermöglichen. Dies wird vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in der Entscheidung vom 06. Mai 2003 (VBlBW 03, 354 f.) ebenso bestätigt wie vom OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. September 2006, 7 C 10539/06.OVG. Soweit das niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 27. Januar 2005 (NdsVBl 05, 130 ff.) unter Bezugnahme auf die genannte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 03. Juli 2002 der Auffassung ist, es sei wissenschaftlich nicht belegt, dass von allen Hunderassen generell eine abstrakte Gefahr für Menschen und andere Hunde ausgehe, ist diese Entscheidung vereinzelt geblieben; sie beruht offensichtlich auf einem unrichtigen Verständnis der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts. So hatte bereits der Bundesgerichtshof in der Vorlageentscheidung vom 18. April 1991, 4 StR 518/90 (BGHSt 37, 366 ff. = NJW 91, 1691 f.) hinsichtlich des Leinenzwangs für Hunde ausgeführt, dass im Zusammenhang mit allgemeinem Ordnungsrecht vielfältige Gefahren von Hunden ausgehen können, so für Menschen, die sie verletzen, beschmutzen oder auch nur erschrecken können; aber auch für die Kleidung sowie mitgeführte und abgestellte Sachen, die sie zerstören, beschädigen und unkontrolliert verunreinigen können; für sonstige Tiere, namentlich auch andere Hunde; schließlich für die Sauberkeit öffentlicher und angrenzender Flächen und Wege. Polizeiliche Maßnahmen, mit denen Gefährdungen von Personen und Sachen durch (auf der Straße) freilaufende Hunde abgewehrt werden sollen, seien keine verkehrspolizeilichen Aufgaben, sondern gehörten zur allgemeinen Gefahrenabwehr.

b) Dass ein ordnungsbehördlich geregelter allgemeiner Leinenzwang für Hunde grundsätzlich weder gegen das höherrangige Tierschutzgesetz noch gegen das Grundrecht des Hundehalters auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit verstößt, ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt (vgl. OLG Hamm NVwZ 02, 765 f. mit Nachweisen).

c) Ein Verstoß gegen das Übermaßverbot bzw. den Gleichbehandlungsgrundsatz steht vorliegend ebenfalls nicht in Rede, weil beim Vorliegen von abstrakten Gefahren, die von Hunden ausgehen, eine differenzierende Regelung nach Art und Größe sowie Gefährlichkeit von Hunderassen nicht erforderlich ist (vgl. VGH Baden-Württemberg und OVG Rheinland-Pfalz jeweils a.a.O.).

3. Die Polizeiverordnung der Stadt Zwickau vom 09. Oktober 2003 verstößt aber hinsichtlich ihrer Festlegungen über die Auferlegung eines Leinenzwangs für Hunde sowohl gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch gegen das Bestimmtheitsgebot. Denn die Begriffsbestimmungen in § 2 der fraglichen Polizeiverordnung der Stadt Zwickau lassen Flächen, auf denen kein Leinenzwang besteht, nicht erkennen. Wie der räumliche so ist auch der zeitliche Geltungsbereich nicht eingeschränkt. Damit wird dem Interesse und Anspruch (eines Teils) der Bevölkerung, vor Gefahren und Belästigung durch freilaufende Hunde geschützt zu werden, einseitig zu Lasten der Hundehalter Rechnung getragen. Die Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 2 Satz 1 der Polizeiverordnung "Grün- und Erholungsanlagen sind allgemein zugängliche, insbesondere gärtnerisch gestaltete Anlagen, die der Erholung der Bevölkerung oder der Gestaltung des Orts- und Landschaftsbildes dienen", umfasst vom Sprachverständnis das gesamte Stadtgebiet, weil die einschränkende Bezeichnung "gärtnerisch gestaltete Anlagen" durch die Spezifizierung "insbesondere" tatsächlich keine Einschränkung beinhaltet. Somit ist, wie bereits das OLG Hamm (a.a.O.) für die dort relevante Polizeiverordnung zutreffend beanstandet hat, davon auszugehen, dass sich - hier in Zwickau - der Leinenzwang faktisch auf das gesamte Gemeindegebiet erstreckt. Dem vorgenannten Interesse und Anspruch (eines Teils) der Bevölkerung, vor Gefahren und Belästigungen durch freilaufende Hunde geschützt zu werden, genügt aber auch, wenn kommunale Verordnungen einen weitgehenden Leinenzwang anordnen, jedoch beschränkte öffentliche Flächen, die als solche kenntlich gemacht sind, von diesem Leinenzwang, jedenfalls zu bestimmten Zeiten, ausnehmen. Der Verordnungsgeber hat insoweit einen gewissen Spielraum. Er kann z.B. sogenannte Freilaufflächen bzw. Hundewiesen vom Leinenzwang ausnehmen, wie dies in der Polizeiverordnung über öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Stadt Leipzig (veröffentlicht im Leipziger Amtsblatt Nr. 12 vom 12. Juni 2004) geschehen ist oder begrenzte Gebiete zum Leinenzwang für Hunde (im Innenstadtbereich) festlegen, wie dies die Polizeiverordnung der Landeshauptstadt Dresden zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Dresden (Dresdner Amtsblatt Nr. 5 vom 02. Februar 2006) in einer Anlage detailliert beschreibt.

Da die Begriffsbestimmungen in § 2 der Polizeiverordnung der Stadt Zwickau vom 09. Oktober 2003 i.V.m. § 4 Abs. 3 dieser Verordnung keine Flächen erkennen lassen, auf denen kein Anleinzwang besteht und weder der räumliche noch der zeitliche Geltungsbereich für den umfassenden Anleinzwang erkennbar beschränkt sind, ist die Polizeiverordnung - jedenfalls hinsichtlich der Regelungen über den Leinenzwang für Hunde - wegen Verstoßes gegen die auf dem Rechtsstaatsprinzip (Artikel 20 Abs. 1 GG) beruhenden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit bzw. des Bestimmtheitsgebots unwirksam.

Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts bewirkt die Unwirksamkeit der fraglichen Regelung der Polizeiverordnung der Stadt Zwickau, obwohl vorliegend der Ordnungsverstoß des Führens des Hundes auf öffentlicher Straße unzweifelhaft ist, dass eine Verurteilung der Betroffenen auf diese (unwirksame) Regelung des Leinenzwangs nicht gestützt werden kann.

III.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Betroffene mit der Kostenfolge aus § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 467 Abs. 1 StPO freizusprechen.

Ende der Entscheidung

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