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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 26.11.2001
Aktenzeichen: 1 U 145/00
Rechtsgebiete: ZPO


Vorschriften:

ZPO § 287

Entscheidung wurde am 12.05.2004 korrigiert: das Datum der Entscheidung ist der 26.11.2001 und nicht der 26.11.2004
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

1 U 145/00

Verkündet am 26. November 2001

In dem Rechtsstreit

hat der 1. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 29. Oktober 2001 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. E... den Richter am Oberlandesgericht P... und den Richter am Landgericht M...

für Recht erkannt:

Tenor:

I.

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 7. Juli 2000 verkündete Urteil der 10. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg abgeändert:

Die Beklagten werden verurteilt, gesamtschuldnerisch an die Klägerin 9.681,44 DM zuzüglich 4 % Zinsen seit dem 29. Mai 1998 zu zahlen.

Die Beklagten werden ferner verurteilt, gesamtschuldnerisch an die Klägerin ein weiteres Schmerzensgeld von 23.500,00 DM zuzüglich 4 % Zinsen seit dem 29. Mai 1998 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin gesamtschuldnerisch alle weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 28. August 1995 in Duisburg zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder noch übergehen werden.

II.

Die Kosten des Rechtsstreits werden den Beklagten als Gesamtschuldnern auferlegt.

III.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.

I.

Wegen des Verkehrsunfalls vom 28. August 1995 an der Ausfahrt Duisburg-Meiderich der A 59, bei welchem die Klägerin als Beifahrerin des Beklagten zu 1) in dessen bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichertem PKW verletzt wurde, als der Beklagte zu 1) auf das am Ende eines Fahrzeugstaus stehende Fahrzeug auffuhr, sind die Beklagten verpflichtet, der Klägerin den geltend gemachten materiellen Schaden in Höhe von 9.681,44 DM zu ersetzen und der Klägerin über die vorprozessual von der Beklagten zu 2) gezahlten 1.500,- DM hinaus ein weiteres Schmerzensgeld von 23.500,00 DM zu zahlen, die vorgenannten Beträge jeweils zuzüglich Zinsen in dem zuerkannten Umfang.

Außerdem wird die Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung künftiger materieller und immaterieller Schäden festgestellt.

1.

Darüber, dass der Unfall sich in der behaupteten Weise zutrug - indem der Beklagte zu 1) aus Unaufmerksamkeit und damit fahrlässig auf das letzte Fahrzeug einer stehenden Fahrzeugschlange auffuhr - und dass die Beklagten demgemäß der Klägerin dem Grunde nach in vollem Umfang für den entstandenen Schaden einzustehen haben, wird auch im Berufungsrechtszug nicht gestritten.

2.

Die Klägerin wurde bei dem Auffahrunfall zwar unmittelbar nur leicht verletzt, erlitt aber infolge des Unfalls weitere erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen, die über das Jahr 1995 hinaus bis heute angehalten haben und zum großen Teil auch weiter anhalten werden.

Das hat die Beweisaufnahme des Senats ergeben.

Der Senat hat ein schriftliches Gutachten des Chefarztes der neurologischen Abteilung des Marien-Hospitals Düsseldorf, Prof. Dr. ... S..., vom 11. Juli 2001 eingeholt, der alle vorliegenden Arztberichte und ärztlichen Stellungnahmen ausgewertet, sich auch mit dem Gutachten des erstinstanzlich eingeschalteten gerichtlichen Sachverständigen, des Orthopäden Dr. V... auseinandergesetzt und selbst die Klägerin eingehend untersucht hat.

Prof. Dr. S... ist im Einklang mit den vorliegenden Stellungnahmen mehrerer Ärzte aus unfallnaher Zeit zunächst zu dem Ergebnis gelangt, dass keine berechtigten Zweifel daran bestehen, dass die Klägerin durch den Verkehrsunfall ein HWS-Distorsionstrauma I. Grades erlitt.

Damit ist die Primärverletzung, auf welche es im Rahmen des sogenannten haftungsbegründenden Kausalität zunächst ankommt, bewiesen.

Der Streit der Parteien darüber, ob und inwieweit das von der Klägerin geklagte Beschwerdebild in der Folgezeit noch auf den Unfall/die dabei erlittene Verletzung der Halswirbelsäule zurückgeführt werden kann, betrifft bereits den Bereich der sogenannten haftungsausfüllenden Kausalität. Insoweit muß für den Zusammhang der Beschwerden mit dem Unfall nicht mehr der volle Beweis erbracht werden (§ 286 ZPO), es genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs (§ 287 ZPO).

Mit Rücksicht darauf bestehen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keine Bedenken, auch das weitere von dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. S... festgestellte und bis heute anhaltende Beschwerdebild als unfallbedingt anzusehen.

Bei der Klägerin kam es zwar entgegen dem üblichen Krankheitsverlauf in den ersten Wochen bzw. Monaten nach dem Unfall vom 28. August 1995 nicht zu einer Rückbildung der Symptomatik. Die schmerzhafte Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule bestand und besteht fort. Bei der Klägerin bildete sich infolge individuell veränderter Schmerzverarbeitung - jedoch ohne bewußtseinsnahe Symptomausgestaltung - frühzeitig ein chronisches, bislang anhaltendes Schmerzsyndrom aus, welches mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf das erlittene - Distorsionstrauma der Halswirbelsäule zurückzuführen ist.

Auf den Unfall zurückzuführen sind darüber hinaus auch die sonstigen von der Klägerin geklagten Symptome wie Kribbelparästhesien über dem linken Kopf und der gesamten Lendenwirbelsäule mit Ausstrahlung in das linke Bein, Einschränkung der Gehstrecke aufgrund einer Schwäche der Beine, Schmerzen in den großen Gelenken der Arme und Beine, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen. Diese Symptome sind, wie der Sachverständige einleuchtend ausgeführt hat, Ausdruck einer Somatisierungsstörung im Rahmen der individuellen psychischen Reaktion der Klägerin. Zwar sieht der Sachverständige hier die psychoreaktive Komponente so weit im Vordergrund, dass die Ausbildung des Symptomenkomplexes nicht mehr auf den Unfall selbst zurückgeführt werden könne. Für die rechtliche Beurteilung kommt es jedoch hierauf nicht an. Wenn die Klägerin den Unfall, die Distorsion der Halswirbelsäule und das hierauf zurückzuführende Schmerzsyndrom aufgrund individueller psychischer Besonderheiten fehlverarbeitet hat, so war der Unfall auch für die hierdurch ausgebildeten Symptome mitursächlich. Dass dabei eine unübliche individuelle Disposition der Klägerin mitgewirkt hat, beseitigt - nicht anders als bei dem individuell ausgeprägten chronischen Schmerzsyndrom - nicht die Unfallursächlichkeit, sondern ist lediglich bei der Bemessung des Höhe des Schmerzensgelds mit zu berücksichtigen.

Anhaltspunkte für eine Begehrensneurose oder eine sonstige Fehlverarbeitung in einer Ausprägung, welche einen Erstattungsanspruch ausschließen könnte, haben die Ausführungen des Gutachters nicht ergeben.

Wie der Sachverständige ferner ausgeführt hat, war die Klägerin durch den Unfall vom 28. August 1995 und dessen Folgen in ihrer Erwerbsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Für sie kamen und kämen nur solche Tätigkeiten in Frage, bei welchen z.B. von Sitzen zum Stehen bzw. Gehen gewechselt werden kann, flexible Pausen eingelegt werden können, die Tagesarbeitszeit auf bis zu vier Stunden begrenzt ist. Mit Blick auf die Zukunft ist nach den Ausführungen des Sachverständigen zu erwarten, dass insbesondere das Schmerzsyndrom der Halswirbelsäule mit sekundärem cervicogem Kopfschmerz fortbestehen wird. Im übrigen hält es der Sachverständige bei konsequenter Fortsetzung gezielter Physiotherapien und begleitender Behandlung der psychoreaktiven Somatisierungsstörung und Depression für "wahrscheinlich doch noch möglich", eine Symptomverbesserung und damit auch eine verbesserte Erwerbsfähigkeit zu erreichen.

3.

Auf der Grundlage dieses Beweisergebnisses ist die Klage auch in dem im Berufungsrechtszug erweiterten Umfang begründet.

a)

Der Klägerin steht der für die Zeit von November 1995 bis einschließlich Mai 1998 geltend gemachte Anspruch auf Erstattung materiellen Schadens in Höhe von insgesamt 9.681,44 DM zu.

Die Klägerin hätte ausweislich des vorgelegten Ausbildungsvertrages am 1. September 1995 eine dreijährige Ausbildung zur Zahnarzthelferin begonnen, in welcher sie sich Ende Mai 1998 noch befunden hätte. Diese Ausbildung war ihr wegen der unfallbedingt erlittenen und entwickelten Beschwerden nicht möglich. Sie hätte nach dem Ausbildungsvertrag mindestens die in der Klageschrift zugrundegelegte Ausbildungsvergütung erhalten. Stattdessen hat sie in dem von dem bezifferten Klageantrag erfaßten Zeitraum lediglich Krankengeld und Arbeitslosengeld bezogen. Die Klägerin hat im einzelnen glaubhaft vorgetragen und in den wesentlichen Punkten urkundlich belegt, welche Netto-Ausbildungsvergütung sich ergeben hätte und welche tatsächlichen Einnahmen an Krankengeld und Arbeitslosengeld dem gegenüber gestanden haben und ist bei der tabellarischen Gegenüberstellung rechnerisch zutreffend zu dem Fehlbetrag 8.754,67 DM gelangt.

Hinzuzurechnen sind die geltend gemachten Fahrtkosten von 408,60 DM, gegen deren Höhe angesichts des Zeitraums und der Vielzahl der in diesem Zeitraum notwendig gewordenen Untersuchungs- und Behandlungstermine Bedenken nicht bestehen (§ 287 ZPO).

Ferner ist glaubhaft, dass die Klägerin sich wegen der unfallbedingten Beschwerden im November 1996 eine neue, besser geeignete Liege angeschafft hat, für welche sie nachweislich 518,17 DM bezahlt hat.

Zusammengerechnet ergibt sich ein Betrag von 9.681,44 DM.

4.

Der Klägerin steht wegen der bei dem Unfall erlittenen Primärverletzung und insbesondere der im Anschluß daran ausgebildeten Symptome (chronisches Schmerzsyndrom, Somatisierungsstörung), welche seit mehr als 6 Jahren anhalten, hinsichtlich des Schmerzsyndroms und der Kopfschmerzen auch, künftig anhalten werden bei ungewisser Entwicklung des weitergehenden unfallbedingten Beschwerdebildes, wegen der unfallbedingt vereitelten Ausbildung zur Zahnarzthelferin (oder in einem anderen Lehrberuf), der erheblich eingeschränkten und auch in Zukunft eingeschränkt bleibenden Erwerbsfähigkeit sowie der Einschränkung der allgemeinen Lebensfreude ein Schmerzensgeld zu, welches dem Senat - auch unter Berücksichtigung der individuellen Disposition der Klägerin zur Ausbildung eines chronischen Schmerzsyndroms und von Somatisierungsstörungen - mit insgesamt 25.000,- DM angemessen erscheint.

Mithin sind unter Berücksichtigung der vorprozessual bereits gezahlten 1.500,- DM noch weitere 23.500.- DM zu zahlen.

5.

Die auf die unter 3. und 4. genannten Hauptsummen zuerkannten Zinsen sind wegen Verzugs begründet.

6.

Zulässig und begründet ist auch das Feststellungsbegehren.

Die unfallbedingt erlittenen Dauerfolgen werden auch künftig ärztliche Behandlung erforderlich machen und die Klägerin in ihrer Erwerbsfähigkeit beschränken (künftiger materieller Schaden).

Im Hinblick darauf, dass das Schmerzsyndrom und die damit zusammenhängenden Kopfschmerzen bleiben werden und ungewiß ist, wie sich das weitere Beschwerdebild entwickeln wird, kommt auch noch die künftige Zahlung eines ergänzenden Schmerzensgelds in Betracht.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 91 Abs. 1, 100 Abs. 1 und 4 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision nach § 546 Abs. 1 ZPO liegen nicht vor.

Der Streitwert für den Berufungsrechtszug wird auf 37.181,44 DM festgesetzt.

Die Beschwer der Beklagten beträgt 37.181,44 DM.

Ende der Entscheidung

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