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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 27.09.2000
Aktenzeichen: 2 Ws 237/00
Rechtsgebiete: StPO


Vorschriften:

StPO § 116
StPO § 120 Abs. 3
Leitsatz:

1.

Ein Antrag der Staatsanwaltschaft auf Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls bindet den Ermittlungsrichter nicht.

2.

Setzt der Ermittlungsrichter den Vollzug des Haftbefehls aus, so bestimmt er selbständig, welche Anordnungen zu treffen sind (entgegen BGH - Ermittlungsrichter -, StV 2000, 31).


OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF BESCHLUSS

2 Ws 237/00 12 Js 649/00 StA Mönchengladbach

In der Strafsache

wegen schweren sexuellen Mißbrauchs von Kindern

hat der 2. Strafsenat durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht S..., den Richter am Oberlandesgericht B... und die Richterin am Oberlandesgericht Dr. R... am

27. September 2000

auf Vorlage gemäß § 122 Abs. 1 und 4 StPO nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft, des Verteidigers und des Angeschuldigten

beschlossen:

Tenor:

1.

Die Untersuchungshaft aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Mönchengladbach vom 10. März 2000 (6 Gs 448/00) dauert fort.

2.

Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch das Oberlandesgericht erfolgt nach dem Vollzug von weiteren drei Monaten Untersuchungshaft.

3.

Bis zu diesem Zeitpunkt wird die weitere Haftprüfung dem nach den allgemeinen Vorschriften zuständigen Gericht übertragen.

Gründe:

I.

Der Angeschuldigte befindet sich seit über sechs Monaten in Untersuchungshaft. Die Sache ist deshalb gemäß § 122 Abs. 1 StPO dem Oberlandesgericht zur Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft vorgelegt worden.

Die Voraussetzungen für den weiteren Vollzug der Untersuchungshaft liegen gemäß § 121 Abs. 1 StPO vor.

II.

Nach dem Ergebnis der bisherigen Ermittlungen, insbesondere aufgrund der in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Mönchengladbach vom 25. September 2000 bezeichneten Beweismittel ist der Angeschuldigte jedenfalls der ihm vorgeworfenen Straftaten zum Nachteil des Kindes S... N... dringend verdächtig. Inwieweit im Hinblick auf das Gutachten der Sachverständigen H... vom 22. September 2000 eine Strafbarkeit des Angeschuldigten zum Nachteil der Zeuginnen G... B... und D....I... in Betracht kommt, muß der Hauptverhandlung vorbehalten bleiben. Jedenfalls bestehen an der Glaubhaftigkeit der Angaben der Zeugin S... N... und ihrer eigenen Glaubwürdigkeit keine durchgreifenden Zweifel, so daß zumindest hinsichtlich der Taten zum Nachteil dieser Zeugin dringender Tatverdacht besteht.

III.

Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

Der Angeschuldigte hat angesichts des Umfangs der ihm angelasteten Straftaten mit einer erheblichen Freiheitsstrafe zu rechnen.

Daraus resultiert unter Berücksichtigung der Tatumstände und des Lebensumfeldes des Angeschuldigten ein hoher Fluchtanreiz, der nicht durch ausreichend gefestigte soziale und berufliche Bindungen gemindert wird. Die Ehefrau des Angeschuldigten hat sich von ihm getrennt, anderweitige soziale Bindungen sind nach dem Ermittlungsstand nicht erkennbar. Zwar verfügt der Angeschuldigte über einen festen Arbeitsplatz. Indessen übt er die Berufstätigkeit eines Kraftfahrers aus, die ihn zu Fahrten im gesamten Bundesgebiet führt. Dieser Umstand führt zu der Annahme, daß der Angeschuldigte dies ohne weiteres dazu nutzen kann, sich dem Strafverfahren durch Untertauchen zumindest vorübergehend zu entziehen. Angesichts dessen liegt nahe, daß sich der Angeschuldigte dem Strafverfahren entzieht, käme er auf freien Fuß.

IV.

Die Untersuchungshaft steht - auch unter Berücksichtigung ihrer bisherigen Dauer - nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§§ 112 Abs. 1 Satz 2, 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Ihr Zweck kann durch weniger einschneidende Maßnahmen nicht erreicht werden (§ 116 Abs. 1 StPO). Auch bei Anordnung von Sicherheitsauflagen ist zu befürchten, daß sich der Angeschuldigte dem Strafverfahren entziehen würde.

Die besondere Schwierigkeit und der besondere Umfang der Ermittlungen haben ein Urteil bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zugelassen und rechtfertigen die Fortdauer der Untersuchungshaft (§ 121 Abs. 1 StPO). Die Sache ist bisher ohne vermeidbare Verzögerungen ausreichend gefördert worden. Durch Verfügung vom 5. Mai 2000 ist die Sachverständige H... mit Erstellung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens beauftragt worden. Auf entsprechende Nachfrage der Sachverständigen ist der offenbar zunächst auf die Zeuginnen N... und B... beschränkten Gutachtenauftrag auf die Zeugin I... erweitert worden. Zwar ist das Gutachten erst am 22. und 26. September 2000 vorgelegt worden. Dabei ist indessen zu berücksichtigen, daß die Sachverständige sich einer mehrwöchigen stationären Behandlung unterziehen mußte; zudem war die Beurteilung der Zeuginnen nicht einfach, sondern erforderte eine eingehende Abwägung. Zudem hat die Staatsanwaltschaft die eingetretene Verzögerung durch unmittelbare Anklageerhebung nach Eingang des ersten Teils des Gutachtens ausreichend kompensiert. Angesichts dessen ist ein schuldhafter Verstoß gegen das in Haftsachen geltende besondere Beschleunigungsgebot - insbesondere durch grobe Fehler oder Säumnisse - noch nicht erkennbar.

V.

Der Senat hat den Freiheitsanspruch und das Beschleunigungsinteresse des Angeschuldigten gegenüber den unabweisbaren Bedürfnissen der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung und rasche Ahndung der Straftaten abgewogen. Er ist unter Berücksichtigung des Verfahrensstands und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sowie unter umfassender Auswertung der konkreten Umstände zu dem Ergebnis gelangt, daß das vorliegend überwiegende öffentliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung nicht anders als durch die weitere vorläufige Inhaftierung des Angeschuldigten gesichert werden kann.

VI.

Die verfahrensmäßige Besonderheit, daß die Staatsanwaltschaft zunächst mit Antrag vom 21. September 2000 eine Haftverschonung beantragt hatte, führt nicht zu dem Ergebnis, daß der Angeschuldigte deshalb auf freien Fuß zu setzen wäre.

Zwar hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofes in seinem Beschluß vom 30.11.1999 (StV 2000, 31, 32) ausgeführt, daß sich der nach § 126 StPO zuständige Haftrichter einem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls aus Rechtsgründen nicht verschließen dürfe und einem solchen Antrag angesichts der Stellung der Staatsanwaltschaft als Herrin des Ermittlungsverfahrens zwingend zu folgen habe.

Dieser Auffassung, die in der Konsequenz dazu führt, daß die Staatsanwaltschaft in entsprechender Anwendung des § 120 Abs. 3 Satz 2 StPO, der entgegen dem Wortlaut nach inzwischen einhelliger Literaturauffassung keinen Ermessensspielraum gewährt (vgl. KK-Boujong, 4. Aufl., § 120 StPO Rdnr. 28; Kleinknecht/Meyer-Goßner, 44. Aufl., § 120 StPO Rdnr. 14; KMR-Wankel, 18. Erg.lfg. Januar 1999; § 120 StPO Rdnr. 8; LR-Hilger, 25. Aufl., § 120 StPO Rdnr. 46; Pfeiffer, 2. Aufl., § 120 StPO Rdnr. 7; SK-Paeffgen, 8. Lfg., § 120 StPO Rdnr. 13) die sofortige Freilassung des Beschuldigten anordnen müßte, wenn sie einen Haftverschonungsantrag beim Ermittlungsrichter einbringt, vermag der Senat nicht zu folgen. Die Begründung des Beschlusses überzeugt nicht. Insbesondere erscheint das gewählte Argument des Erst-Recht-Schlusses (amaiore ad minus) aus § 120 Abs. 3 StPO nicht zwingend. Das Gesetz geht in § 120 Abs. 3 StPO davon aus, daß dem zuständigen Haftrichter nur dann keine eigene Entscheidungskompetenz mehr zusteht, wenn die Staatsanwaltschaft die Aufhebung des Haftbefehls nach § 120 Abs. 3 Satz 1 StPO beantragt. Eine vergleichbare gesetzliche Regelung findet sich in § 116 StPO dagegen nicht. Aus dem gesetzlichen Zusammenhang kann damit der Schluß gezogen werden, daß der Gesetzgeber im Falle eines von der Staatsanwaltschaft angebrachten Verschonungsantrages die Entscheidungskompetenz des Haftrichters nicht infrage stellen wollte. Diese klare gesetzgeberische Entscheidung kann nicht durch Auslegung geändert werden (so LR-Hilger, aaO, § 120 StPO Rdnr. 40). Im Rahmen des § 116 StPO muß der über die Haftfrage entscheidende Richter unabhängig von einem Verschonungsantrag der Staatsanwaltschaft in der Beurteilung frei sein, ob er die Möglichkeit einer Minderung der Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr nach dem bisherigen Ermittlungsstand überhaupt annimmt und bejahendenfalls auch dahingehend, welche Anordnungen nach § 116 Abs. 1 - 3 StPO im einzelnen als Ersatzmittel für die Untersuchungshaft als geeignet in Betracht kommen, um einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr wirksam entgegenzuwirken. Im übrigen kann eine Bindung des Haftrichters an einen Verschonungsantrag der Staatsanwaltschaft und die mit diesen etwa formulierten konkreten Anweisungen auch deshalb nicht angenommen werden, weil neben den die Bewegungsfreiheit einschränkenden Maßnahmen im Einzelfall insbesondere die Leistung einer Sicherheit iSd § 116 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 StPO als ausschließlich geeignetes Mittel in Betracht kommt. Die Beurteilung dieser Frage anhand des Ermittlungsstands und der persönlichen Verhältnisse des Beschuldigten durch den zuständigen Richter kann von der Ansicht der Staatsanwaltschaft abweichen, ist indessen für die Wirkung von entscheidender Bedeutung.

In diesem Zusammenhang stellt sich zudem ein praktisches Problem, wollte man der Auffassung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofes (aaO) folgen. Sollte die Staatsanwaltschaft - u.U. neben anderen Pflichten oder Beschränkungen die Gestellung einer Sicherheit in bestimmter Höhe als ausreichend für eine Haftverschonung des Beschuldigten ansehen, könnte eine Freilassung des Beschuldigten nur nach Leistung der Sicherheit erfolgen. Mangels eindeutiger Regelungen wäre jedoch bedenklich, die Staatsanwaltschaft vor der richterlichen Entscheidung als Empfangsbehörde für die Sicherheitsleistung zu betrachten. Auch ein Vergleich der Grundlagen für die in § 120 Abs. 3 StPO getroffene Regelung mit denjenigen, die für eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls gelten, führt nach Auffassung des Senats dazu, hinsichtlich der Bindungswirkung ausschließlich bei einem Aufhebungsantrag der Staatsanwaltschaft eine solche zwingend anzunehmen. Ein Aufhebungsantrag, der keiner Begründung bedarf, kann aus Sicht der Staatsanwaltschaft aus verschiedenen Gründen geboten sein; neben dem sich während des weiteren Ermittlungsverfahrens nach Erlaß eines Haftbefehls erst erweisenden Fehlen eines dringenden Tatverdachts oder der Abschwächung eines solchen kommen Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte in Betracht. Ein Aufhebungsantrag richtet sich aber immer gegen den Bestand des Haftbefehls. Demgegenüber wird mit einem Verschonungsbeschluß der Haftbefehl gerade aufrecht erhalten (vgl. BGHSt 39, 233, 236); lediglich die Annahme der Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr wird durch Anordnung von konkreten Maßnahmen als ausreichend gemindert betrachtet.

Bei einem von der Staatsanwaltschaft gestellten Verschonungsantrag sprechen auch weitere Gesichtspunkte gegen eine Bindung des Haftrichters. Soweit die Staatsanwaltschaft im Einzelfall nur besonders engmaschige Meldeauflagen und strenge Kontaktverbote als geeignete Auflagen betrachtet, um einer Flucht-, Verdunkelungs- oder Wiederholungsgefahr ausreichend entgegenwirken zu können, und der Haftrichter an diese Anträge gebunden wäre, würde die mit Anbringung des Antrags gebotene Freilassung des Beschuldigten dazu führen, daß dieser mangels eines noch nicht vorliegenden richterlichen Beschlusses nicht wüßte, ob und unter welchen Bedingungen er von der weiteren Untersuchungshaft verschont wird. Eine solche Rechtsunsicherheit kann nicht hingenommen werden.

Der Senat schließt sich daher der Auffassung an, daß eine Bindungswirkung des Haftrichters nur im Fall des § 120 Abs. 3 Satz 1 StPO angenommen werden kann, nicht indessen bei einem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Außervollzugsetzung des Haftbefehls (vgl. KK-Boujong, aaO, § 120 StPO Rdnr. 23; Kleinknecht/Meyer-Goßner, aaO, § 120 StPO Rdnr. 13; KMR-Wankel, aaO, § 120 StPO Rdnr. 7; LR-Hilger, aaO, § 120 StPO Rdnr. 40; Pfeiffer, aaO, § 120 StPO Rdnr. 7; SK-Paeffgen, aaO, § 120 StPO Rdnr. 13).

VII.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft war daher anzuordnen (§ 121 Abs. 1 StPO). Ein Anlaß zur mündlichen Verhandlung bestand nicht (§ 122 Abs. 2 Satz 2 StPO).

Die weiter angeordneten Maßnahmen beruhen auf § 122 Abs. 3 und 4 StPO.

Ende der Entscheidung

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