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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Beschluss verkündet am 23.02.2000
Aktenzeichen: 22 W 81/99
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823
Leitsatz:

Eine 20jährige angehende Studentin, die nach dem Besuch einer Diskothek in einem ehemaligen Bahnhofsgebäude an einem Lichtmast hochklettert und auf eine auf den Bahngleisen stehende Elektrolokomotive springt, kann wegen der Schäden durch den dabei erlittenen Stromschlag weder den Betreiber der Bahnanlage noch den Inhaber der Diskothek ersatzpflichtig machen.


22 W 81/99 2 O 35/99 LG Krefeld

Oberlandesgericht Düsseldorf

Beschluß

In Sachen

hat der 22. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. Weyer, den Richter am Oberlandesgericht Muckel und den Richter am Landgericht Galle am 23. Februar 2000

beschlossen:

Tenor:

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluß der 2. Zivilkammer des Landgerichts Krefeld vom 21.10.1999 wird zurückgewiesen.

Beschwerdewert für die Anwaltsgebühren: 75.000,00 DM (45.000,00 DM + 30.000,00 DM).

Gründe:

Die Antragstellerin begehrt Prozeßkostenhilfe für eine Schadensersatzklage gegen die Antragsgegnerinnen. Sie ist am 27.07.1996 gegen 4 Uhr früh nach dem Besuch der von der Antragsgegnerin zu 2 in dem früheren Bahnhofsgebäude in K betriebenen Diskothek auf eine Elektrolokomotive geklettert, die in der Nähe der Diskothek auf den Gleisanlagen abgestellt war. Als sie das Dach der Lokomotive betreten wollte, wurde sie von einem Stromschlag/Lichtbogen aus der Oberleitung getroffen. Sie erlitt erhebliche Verbrennungen der Körperoberfläche (über 40%).

Mit der beabsichtigten Schadensersatzklage erstrebt die Antragstellerin ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Größenordnung sie mit 45.000 DM beziffert hat, und die Feststellung der Ersatzpflicht der Antragsgegnerinnen als Gesamtschuldner mit einer Haftungsquote von 70% für alle materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfall vom 27.07.1996. Durch den angefochtenen Beschluß hat das Landgericht ihr Prozeßkostenhilfe versagt mit der Begründung:

Es könne nicht festgestellt werden, daß eine schuldhafte Verletzung von Verkehrssicherungspflichten der Antragsgegnerinnen für den Unfall der Antragstellerin ursächlich geworden sei. Vielmehr habe die Antragstellerin den Unfall allein verursacht.

Die Antragsgegnerin zu 2 sei nicht verpflichtet gewesen, einen Wachdienst einzusetzen, der die Diskothekenbesucher generell vom Betreten der Bahngleise abhalte. Eine solche Verkehrssicherungspflicht möge für Diskothekenbesucher gelten, die durch Alkohol enthemmt seien und die von den Gleisanlagen ausgehenden Gefahren nicht richtig einschätzen könnten. Die Antragstellerin sei aber nach ihrer eigenen Darstellung zur Zeit des Unfalls nicht alkoholisiert gewesen.

Die Antragsgegner zu 1 sei ebenso wenig wie die Antragsgegnerin zu 2 verpflichtet gewesen, einen Wachdienst zu unterhalten. Sie habe ihre Sorgfaltspflicht auch "nicht hinsichtlich einer mangelnden Abgrenzung des Geländes oder eines nicht lesbaren Warnschildes" verletzt. Jedem Erwachsenen müsse sich auch ohne Abgrenzung der Gleisanlagen durch einen Zaun oder Warnung durch Hinweisschilder erschließen, daß das Erklettern einer ELok im Hinblick darauf, daß sie über Oberleitungen mit Strom betrieben würde, lebensgefährlich sei. Eine andere Sichtweise sei nur bei Kindern gerechtfertigt, weil ihnen die Gefahren aufgrund ihrer Unerfahrenheit nicht bewußt seien und sie sich durch den Spieltrieb ermutigt sähen, Bahnanlagen zu betreten. Die Antragstellerin sei zur Unfallzeit aber schon zwanzig Jahre alt gewesen. Als erwachsene Frau und angehende Studentin sei sie sich aufgrund ihres Alters und ihrer überdurchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten der Gefahren voll bewußt gewesen. Die Elektro-Lokomotive habe auch in keiner Weise zum Aufsteigen animiert. Die Antragstellerin habe vielmehr ein außerordentliches Maß an Eigeninitiative aufbringen müssen, denn sie habe zum Aufsteigen sogar einen neben der Lokomotive stehenden Lichtmast benutzt.

Die gemäß § 127 Abs. 3 S. 1 ZPO zulässige Beschwerde der Antragstellerin, der das Landgericht nicht abgeholfen hat, ist unbegründet.

Zu Recht hat das Landgericht verneint, daß eine Verletzung von Verkehrssicherungspflichten, die den Antragsgegnerinnen oblagen, für den Unfall der Antragstellerin ursächlich geworden ist.

Die Antragstellerin sieht eine für den Unfall ursächliche Verletzung der Verkehrssicherungspflicht sowohl der Antragsgegnerin zu 1 als Betreiberin der Bahnanlagen als auch der Antragsgegnerin zu 2 als Betreiberin der Diskothek in dem ehemaligen Bahnhofsgebäude zum einen darin, daß der Maschendrahtzaun, der an der Rückseite des Bahnhofsgebäudes die Gleisanlagen vom Diskothekgelände trennte, auf breiter Front platt getreten war und eindeutige Hinweise auf die von der Oberleitung ausgehende Lebensgefahr fehlten, sowie zum anderen darin, daß weder die Antragsgegnerin zu 1 noch die Antragsgegnerin zu 2 einen Ordnungsdienst unterhalten haben, der darauf achtete, daß Diskothekenbesucher den Gleisbereich nicht betraten.

Dem kann nicht gefolgt werden.

Selbst wenn man der Darstellung der Klägerin folgend davon ausgeht, daß der Maschendrahtzaun in dem genannten Bereich nicht nur, wie die Antragsgegnerin zu 2 behauptet, an einer Stelle beschädigt, sondern auf breiter Front platt getreten war, und unterstellt, daß diese Beschädigung zum Zeitpunkt des Unfalls schon eine gewisse Zeit bestanden hat und ein Betreten der Gleisanlagen der Antragsgegnerin zu 1 ohne besondere Anstrengungen ermöglichte, so ist eine möglicherweise darin zu erblickende Verletzung der den Antragsgegnerinnen obliegenden Verkehrssicherungspflicht für den Unfall der Klägerin nicht ursächlich geworden.

Der Maschendrahtzaun diente ersichtlich dem Zweck, zu verhindern oder zumindest zu erschweren, daß die Besucher der Diskothek auf dem Wege von und zu ihren parkenden Kraftfahrzeugen die Gleisanlagen der Antragsgegnerin zu 1 überquerten und sich den Gefahren aussetzten, die von fahrenden Zügen drohten. Diesen Schutzzweck mag er weitgehend eingebüßt haben, wenn er - wie die Antragstellerin behauptet - auf mehr oder weniger großer Breite niedergetrampelt worden war. Für einen Erwachsenen, wie die zur Unfallzeit bereits 20 Jahre alte Antragstellerin, stellte aber auch der stellenweise heruntergerisse Maschendrahtzaun immer noch eine ausreichende Warnung vor dem Betreten der Gleisanlagen dar.

Aber auch dann, wenn man davon ausgeht, daß die Antragsgegnerinnen die ihnen obliegende Verkehrssicherungspflicht(en) dadurch verletzt haben, daß sie den mehr oder weniger beschädigten Maschendrahtzaun zu den Gleisanlagen in seinem Zustand beließen, ist dieser Verstoß gegen die Verkehrssicherungspflicht jedenfalls für den Unfall der Antragstellerin nicht ursächlich geworden. Die Gefahr, der mit der Errichtung des Zaunes begegnet werden sollte, nämlich daß niemand beim Überqueren der Gleisanlage zu Schaden kam, hat sich im Falle der Antragstellerin nicht verwirklicht. Die Antragstellerin ist verletzt worden, als sie einen der über den Bahngleisen angebrachten Oberleitungsdrähte berührt hat oder ihm jedenfalls so nah gekommen ist, daß ein Stromüberbrückungsschlag stattgefunden hat. Ein solcher Unfall ist schon wegen der großen Höhe, in der die Oberleitung verläuft, beim bloßen Überqueren der Gleisanlage ausgeschlossen. Der von der Antragstellerin und ihrem Begleiter eingeschlagene Weg zum Parkplatz führte auch nicht, wie die Antragstellerin es in der Antragsschrift verharmlosend dargestellt hat, über das Dach der Lokomotive (Bl. 6 GA - "bestieg auf dem Weg zum Parkplatz... die auf den Gütergleisen abgestellte Lok"). Die Antragstellerin ist an einem mehrere Meter hohen Lichtmast hochgeklettert, von dort auf das ungefähr 4,00 m hohe (vgl. Anl. B9) Dach einer neben dem Lichtmast stehenden Elektro-Lokomotive gesprungen und nach ihren Angaben von dem Stromschlag aus der Oberleitung getroffen worden, als sie sich dort aufrichtete. Den Gefahren vorzubeugen, die bei einem solchen Unterfangen drohten und sich im Falle der Antragstellerin verwirklicht haben, waren jedoch weder der Zaun noch etwaige Hinweisschilder bestimmt, die das Betreten der Gleisanlagen verboten. Wer wie die Antragstellerin unter Benutzung der Steighilfe eines neben den Gleisen stehenden Lichtmastes das mehrere Meter hohe Dach einer Elektro-Lokomotive erklettern will, läßt sich davon auch nicht durch einen mannshohen Maschendrahtzaun abhalten, selbst wenn dieser intakt ist.

Das Vorstehende gilt entsprechend, sofern - wie die Antragstellerin geltend macht - eine Verletzung der den Antragsgegnerinnen obliegenden Verkehrssicherungspflicht auch darin zu sehen sein sollte, daß ein Wachdienst, der darauf zu achten hatte, daß Diskothekenbesucher nicht über die Gleisanlagen liefen (vgl. Bl. 5 GA), jedenfalls zur Unfallzeit nicht eingesetzt war.

Eine zum Schadensersatz verpflichtende Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der Antragsgegnerin zu 1 kann schließlich auch nicht darin erblickt werden, daß - wie die Antragstellerin behauptet - weder an der Elektro-Lokomotive, die sie bestiegen hat, noch an anderer Stelle im Bereich der abgestellten Lokomotive ein Hinweis auf die Gefahr angebracht war, der von der unter Hochspannung stehenden Oberleitung ausging.

Zwar besteht nach neuerer höchstrichterlicher Rechtsprechung im Hinblick darauf, daß Bahnanlagen einen besonderen Anreiz für den kindlichen Spieltrieb bieten und die von den Bahnanlagen, insbesondere auch den unter Hochspannung stehenden elektrischen Oberleitungen, ausgehenden Gefahren für ein Kind nicht ohne weiteres erkennbar sind, eine Verkehrssicherungspflicht der Antragsgegnerin zu 1 gegenüber spielenden Kindern (vgl. BGH NJW 1995, 2631). Im Rahmen dieser Verkehrssicherungspflicht mag die Antragsgegnerin zu 1 jedenfalls dann, wenn die abgestellten Fahrzeuge (Waggons und Lokomotiven) mit Leitern als Aufstiegshilfen ausgerüstet sind, die zum Klettern einladen, verpflichtet sein, zur Abwehr dieses besonderen Spielanreizes durch gezielte Warnhinweise (pictographische Darstellungen oder Warntafeln) unmißverständlich auf die Lebensgefahr hinzuweisen, die beim Erklettern der Fahrzeuge schon bei der Annäherung an die Oberleitung droht (vgl. BGH, a.a.O. S. 2632).

Diese ihr gegenüber spielenden Kindern obliegende Verkehrssicherungspflicht besteht jedoch, wie das Landgericht zutreffend angenommen hat, nicht auch gegenüber Erwachsenen, wie der Antragstellerin. Die Antragstellerin war zur Zeit des Unfalls bereits 20 Jahre alt, also auch keine Jugendliche mehr. Als junge Frau, die kurz zuvor das Abitur abgelegt hatte, verfügte sie über zumindest durchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten und Kenntnisse, die es ihr ermöglichten, auch ohne entsprechende Warnhinweise die von der stromführenden Oberleitung drohende Gefahr zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln, zumal sie nach eigener Darstellung nicht unter Alkoholeinfluß stand. Ihre Behauptung, sie sei sich einer von der Oberleitung ausgehenden Gefährdung überhaupt nicht bewußt gewesen und habe nur die Gefahr gesehen, von der Lok zu fallen (vgl. Bl. 19 GA), ist unglaubhaft. In der Beschwerdebegründung räumt die Antragstellerin im übrigen ein, gewußt zu haben, daß das Berühren einer Hochspannungsleitung lebensgefährlich ist (Bl. 145 GA). Angesichts des im Verhältnis zur Körpergröße eines erwachsenen Menschen relativ geringen Abstandes zwischen dem Dach der Elektro-Lokomotive und der Oberleitung (vgl. dazu auch die Darstellung der Antragsgegnerin zu 1 Bl. 177 GA) konnte ihr die Gefährlichkeit ihres Vorhabens nicht verborgen bleiben. Gerade bei einer Elektro-Lokomotive wird die Gefahr eines Stromunfalls durch die gut sichtbaren elektrischen Dachaufbauten zusätzlich verdeutlicht. Davon, daß die Oberleitung keinen Strom führte, weil die Stromabnehmer der Elektro-Lokomotive eingezogen waren, konnte die Antragstellerin vernünftigerweise nicht ausgehen. Selbst wenn man unterstellt, für außenstehende Dritte sei nicht zwingend klar gewesen, daß die Oberleitung Strom führte (vgl. Bl. 148 GA), mußte die Antragstellerin doch mit dieser naheliegenden Möglichkeit rechnen. Daß ihr Begleiter schon vor ihr die Elektro-Lokomotive erklettert hatte, mag zwar die Antragstellerin veranlaßt haben, sich aufdrängende Bedenken zu verdrängen, hinderte sie aber nicht, die Gefährlichkeit der Unternehmung eigenverantwortlich zu prüfen und zu erkennen.

Bei dieser Sachlage kommt es nicht mehr darauf an, ob bereits zur Unfallzeit - wie die Antragsgegnerin nunmehr mit Schriftsatz vom 31.01.2000 (Bl. 161 f GA) vorträgt - in dem betreffenden Bereich Stromwarnschilder (pictographische Darstellungen) gemäß Anl. B5 aufgestellt und auch sichtbar waren.

Die Tatsache, daß es im Bereich des Bahnhofs K zuvor schon am 12.01.1993 und wenige Tage darauf am 22.01.1993 erneut zu gleichartigen Unfällen gekommen war, als ein 16 Jahre alter und ein gerade 18 Jahre alter Diskothekenbesucher abgestellte Waggons erkletterten, führt zu keiner anderen Beurteilung der der Antragsgegnerin zu 2 gegenüber Erwachsenen obliegenden Verkehrssicherungspflicht.

Einer Kostenentscheidung bedarf es im Hinblick auf § 127 Abs. 4 ZPO nicht.

Ende der Entscheidung

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