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Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 02.09.2003
Aktenzeichen: I-4 U 15/03
Rechtsgebiete: VVG


Vorschriften:

VVG § 61
Hat der Versicherungsnehmer mit seinem neuen PKW mit Automatikgetriebe auf der Überführungsfahrt vom Hersteller zu seinem Wohnort auf der Autobahn einen Bus überholt und kam es unmittelbar danach zu einer Vollbremsung des PKW, so dass der Bus auf ihn auffuhr, ist der Kaskoversicherer nicht wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls leistungsfrei, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Unfall auf einem Bedienungsfehler beruht, indem der bis dahin nur an Schaltgetriebe gewöhnte Versicherungsnehmer bei dem Versuch, in einen höheren Gang zu schalten, versehentlich auf das Bremspedal (anstelle des Kupplungspedals) getreten und den Wahlhebel des Automatikgetriebes bewegt hat.
OBERLANDESGERICHT DÜSSELDORF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL

I-4 U 15/03

Verkündet am 2. September 2003

In dem Rechtsstreit

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die mündliche Verhandlung vom 15. Juli 2003 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Oberlandesgericht Dr. S..., des Richters am Oberlandesgericht Dr. R... und der Richterin am Landgericht B...

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung der Klägerin gegen das am 27. November 2002 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf - Einzelrichter - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Klägerin bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, sofern nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Rückerstattung einer von ihr geleisteten Kaskoentschädigung in Anspruch.

Am 8. Januar 2001 überführte der Beklagte seinen soeben erworbenen fabrikneuen Mercedes-Benz 203 C 200 CDI von St... nach D.... Bei einem Tachostand von 284 km kam es etwa gegen 13.15 Uhr auf der BAB 3 in Höhe von G... zu einem Unfall, als der Beklagte nach einem Überholvorgang unmittelbar vor einem Reisebus der Fa. M... wieder einscherte und sein Kfz erheblich an Geschwindigkeit verlor, so dass der Bus auf den Pkw auffuhr.

Nachdem die Klägerin, die den Beklagten in Höhe von 40.500 DM (= 20.707,32 €) entschädigt hat, Einsicht in die Bußgeldakten erhielt, machte sie geltend, sie habe ohne Rechtsgrund gezahlt, da der Beklagte den Unfall grob fahrlässig verursacht habe. Nach dem Wechsel auf die rechte Fahrspur habe er ohne plausiblen Grund eine Vollbremsung durchgeführt. Nach Lage der Dinge sei davon auszugehen, dass er sich über das Verhalten des Busfahrers geärgert habe und er durch das Schneiden und Ausbremsen diesem einen Schreck habe einjagen wollen. Außerdem sei sie leistungsfrei, weil er eine Obliegenheitsverletzung begangen habe, indem er den zum Unfall führenden Bremsvorgang zunächst fälschlicherweise auf technisches Versagen zurückgeführt habe.

Der Beklagte hat geltend gemacht: Da die Überprüfung durch den Fahrzeughersteller ergeben habe, dass kein Fabrikationsfehler für den Vorfall verantwortlich sei, müsse er davon ausgehen, dass ein ihm unterlaufener Bedienungsfehler den Unfall ausgelöst habe. Dabei sei ihm jedoch zugute zu halten, dass er bei der Überführung seines PKW erstmals in seinem Leben mit einem Fahrzeug mit Automatikgetriebe gefahren sei.

Nach Beweisaufnahme hat das Landgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, der Beklagte habe den Unfall nicht grob fahrlässig herbeigeführt, weil ihm lediglich ein Augenblicksversagen anzulasten sei. Auf eine Obliegenheitsverletzung könne sich die Beklagte nicht berufen, da sie nicht den Beweis erbracht habe, dass der Kläger den Unfall bewusst falsch geschildert habe.

Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung. Unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens beantragt sie,

das angefochtene Urteil abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, an sie 20.707,32 € nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 6. April 2001 zu zahlen.

Der Beklagte, der das angefochtene Urteil verteidigt, beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils, den Akteninhalt und auf die Beiakten Bezug genommen, die ausweislich des Sitzungsprotokolls Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

II.

Die Berufung bleibt ohne Erfolg.

Rückzahlung der von ihr erbrachten Kaskoleistung kann die Klägerin nur verlangen, wenn sie den Beklagten ohne Rechtsgrund entschädigt hat. Dass der Beklagte durch ihre Leistung rechtsgrundlos bereichert ist, steht dabei zu ihrer Beweislast, ohne dass sie irgendwelche Beweiserleichterungen in Anspruch nehmen kann. Diesen Beweis hat das Landgericht im Streitfall mit Recht nicht als geführt angesehen.

1.

Die Beklagte ist nicht nach § 61 VVG wegen grob fahrlässiger Herbeiführung des Versicherungsfalls von der Entschädigungspflicht entbunden. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Im Gegensatz zur einfachen Fahrlässigkeit muss es sich bei einem grob fahrlässigen Verhalten um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt (BGH v. 18.12.98 - IV ZR 321/95 - VersR 1997, 351 unter II. 2c; BGH v. 29.1.03 - IV ZR 173/01 -VersR.2003, 364 unter II.2).

a) Wenn ein Verkehrsteilnehmer auf der Autobahn unmittelbar vor einem nachfolgenden Kraftfahrzeug unmotiviert eine Vollbremsung vornimmt, trifft ihn in objektiver Hinsicht der Vorwurf eines groben Verschuldens, da auf Autobahnen Kraftfahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit bewegt werden und bei der beschriebenen Verhaltensweise für jeden erkennbar mit erheblichen Personen- und Sachschäden zu rechnen ist.

b) Hingegen ist nicht feststellbar, dass der Beklagte in subjektiver Hinsicht grob fahrlässig gehandelt hat. Nach der Rechtsprechung kann vom äußeren Geschehensablauf und dem Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes auf innere Vorgänge und deren gesteigerte Vorwerfbarkeit geschlossen werden (BGH v. 8.7.92 - IV ZR 223/91 - VersR 1992, 1085 unter 3 b). Daraus folgt jedoch nicht, dass entgegen der anerkannten Beweislast des Versicherers für das Eingreifen eines Risikoausschlusses der Versicherungsnehmer den Entschuldigungsbeweis zu führen hat. Ebenso wenig darf aus einem objektiv groben Pflichtverstoß regelhaft auf die subjektive Unentschuldbarkeit geschlossen werden (BGH v. 29.1.03, a.a.O., unter II 4a).

(1) Auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbar wäre das Verhalten des Beklagten, wenn er unmittelbar nach Beendigung des Überholvorgangs seinen PKW abgebremst hätte, um den Fahrer des nachfolgenden Busses wegen irgendeines früheren Fehlverhaltens zu disziplinieren. Insofern mag zwar richtig sein, wie die Klägerin argumentiert, dass es Kraftfahrer gibt, die zu solchen aggressiven Methoden greifen, wenn sie sich darüber geärgert haben, dass sie längere Zeit und eine längere Strecke benötigt haben, um an einem Bus vorbeizukommen. Dass das im Streitfall auf den Beklagten zutrifft, bleibt jedoch pure Spekulation. Er verfügte zum Unfallzeitpunkt über ein leistungsstarkes Fahrzeug. Von daher wäre es für ihn überhaupt kein Problem gewesen, den Bus, der mit unter 100 km/h unterwegs war, auf der im Unfallbereich dreispurigen Autobahn zu überholen. Dass er davor zurückschreckte, weil sein Kraftfahrzeug neu war, bleibt unbewiesen. Zudem war auch dem Busfahrer nicht erinnerlich, dass im Vorfeld des Überholvorgangs irgendetwas vorgefallen war, das dem Beklagten Veranlassung bieten konnte, ihn "zu bestrafen" (GA 116). Schließlich ist auch nicht plausibel, dass der Beklagte seinen fabrikneuen PKW, mit dem er noch nicht sonderlich vertraut war, "aufs Spiel gesetzt" haben soll, um dem Busfahrer eine Lektion zu erteilen.

(2) Andererseits kann man den Beklagten nicht - wie das Landgericht - allein deshalb entschuldigen, weil ihm nur ein "Augenblicksversagen" anzulasten ist. Der Ausdruck "Augenblicksversagen" beschreibt nur den Umstand, dass der Handelnde für eine kurze Zeit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Das allein ist jedoch kein ausreichender Grund, den Schuldvorwurf der groben Fahrlässigkeit fallen zu lassen. Vielmehr müssen weitere, in der Person des Handelnden liegende besondere Umstände hinzutreten, die sein Versagen in einem milderen Licht erscheinen lassen. Soweit sich aus dem vom Landgericht angeführten BGH-Urteil vom 5. April 1998 (IV a ZR 39/88, VersR 1989, 840 unter 2.) ein anderes ergibt, hat der BGH daran später nicht mehr festgehalten (BGH v. 8.7.1992, a.a.O., unter 3 a; BGH v. 29.1.03, a.a.O. unter 4 b). Besondere Umstände, die den Beklagten entlasten, ergeben sich hier jedoch daraus, dass er mit einem Neufahrzeug mit Automatikgetriebe unterwegs war, das sich erst seit wenigen Stunden in seinem Besitz befand, und dass er bis dahin nur Fahrzeuge mit Handschaltung gewohnt war. Es ist daher nicht auszuschließen, dass er bei dem Versuch, in einen höheren Gang zu schalten, statt auf die Kupplung auf das Bremspedal geraten ist und den Wahlhebel des Automatikgetriebes bewegt hat. Das mag zwar - wie die Klägerin geltend macht - unwahrscheinlich erscheinen. Widerlegen kann sie einen Bedienungsfehler, den auch der Fahrzeughersteller für denkbar gehalten hat, jedoch nicht. Liegt aber ein Versagen, das auf mangelnde Vertrautheit mit dem Fahrzeug zurückzuführen ist, vor, kann ein in subjektiver Hinsicht grobes Verschulden auch unter Berücksichtigung der hohen Sorgfaltsanforderungen, die beim Führen eines Kraftfahrzeuges auf der Autobahn zu stellen sind, nicht mehr angenommen werden. Das hat in erster Instanz selbst die Klägerin noch so gesehen (GA 46).

2.

Genauso wenig kann die Klägerin mit der Berufung auf die Verletzung der Auskunftsobliegenheit (§ 7 I Nr. 2, V Nr. 4 AKB i. V. m. § 6 Abs. 3 VVG) durchdringen.

a) Prämisse für eine Verletzung der Aufklärungsobliegenheit ist, dass der Beklagte die Tatsachen kannte, die von der Aufklärungspflicht erfasst wurden (vgl. Römer in: Römer/Langheid, VVG, 2. Aufl., § 6 Rn. 113). Für den Streitfall bedeutet das, dass ihm von Anfang an klargewesen sein muss, dass der Unfall nicht auf einen Fabrikationsfehler, sondern auf einen Bedienungsfehler zurückzuführen war. Dafür trägt die Klägerin als Versicherer die Beweislast (Römer, a.a.O.). Auf die Vorsatzvermutung aus § 6 Abs. 3 VVG kann sie sich insofern nicht berufen. Das gilt im Streitfall auch deshalb, weil sie nicht unter Berufung auf eine Obliegenheitsverletzung ihre Inanspruchnahme abwenden will, sondern wegen ungerechtfertigter Bereicherung zurückverlangt. Für diesem Fall bleibt es aber ohnehin dabei, dass sie sämtliche Tatsachen beweisen muss, die das Merkmal "ohne rechtlichen Grund" ausmachen (vgl. Römer, a.a.O., § 6 Rn. 127 m. w. N.). Diesen Beweis kann die Klägerin aber schon deshalb nicht führen, weil der Beklagte - nach dem Eindruck des mit der Unfallaufnahme befassten Polizeibeamten - unter Schockeinwirkung stand (BA 4) und nach der Einschätzung der behandelnden Ärzte an einer retrograden Amnesie litt (GA 182). Danach kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass dem Beklagten im Nachhinein nicht mehr erinnerlich war, wie es zu dem Unfall gekommen ist.

b) Selbst wenn man ungeachtet dessen eine schuldhafte Obliegenheitsverletzung annehmen wollte, bliebe zudem die Tatsache bestehen, dass der Beklagte einen Fabrikationsschaden ohnehin nur als sehr wahrscheinliche Unfallursache dargestellt (GA 13) und den Sachverhalt sogleich von sich aus berichtigt hat (GA 10), nachdem die weiteren Untersuchungen ergeben hatten, dass dafür keine zureichenden Anhaltspunkte bestanden. Unter diesen Umständen könnte die Klägerin sich nach. Treu und Glauben jedoch nicht mehr auf einen etwaigen Obliegenheitsverstoß berufen (vgl. BGH v. 5.12.01 - IV ZR 225/00 - VersR 2002, 173).

3.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 97 Abs. 1, 543 Abs. 2, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Es besteht keine Veranlassung, die Revision zuzulassen.

Ende der Entscheidung

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