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Beginn der Entscheidung

Gericht: Oberlandesgericht Düsseldorf
Urteil verkündet am 31.01.2008
Aktenzeichen: I-8 U 149/06
Rechtsgebiete: BGB


Vorschriften:

BGB § 823 Abs. 1
BGB § 831 Abs. 1
BGB § 847
BGB § 847 Abs. 1
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das am 20.09.2006 verkündete Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Mönchengladbach wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe:

I.

Der Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie Feststellung der Ersatzpflicht für alle materiellen und künftigen immateriellen Schäden aufgrund einer bei seiner Geburt am 30.09.1997 erlittenen Erb'schen Parese des rechten Arms in Anspruch.

Die Mutter des Klägers hatte bereits in den Jahren 1981 und 1982 zwei gesunde Kinder mit einem Geburtsgewicht von 3.000 g bzw. 4.500 g problemlos vaginal entbunden. Im Jahre 1997 war sie erneut schwanger; errechneter Geburtstermin war der 11.10.1997. Der Verlauf der Schwangerschaft war unauffällig. Die Mutter des Klägers hatte bei einer Körpergröße von 165 cm während der Schwangerschaft knapp 17 kg zugenommen und wog jetzt 81 kg. Am 20.09.1997 stellte sich die Mutter des Klägers wegen zunehmender Atembeschwerden im Krankenhaus der Beklagten zu 1) vor. Bei unauffälligem CTG ergab die Ultraschalluntersuchung ein Schätzgewicht von 3.700 g. Die stationäre Aufnahme im Krankenhaus der Beklagten zu 1) erfolgte am 29.09.1997 in der 38. + 2. Schwangerschaftswoche bei Verdacht auf vorzeitigen Blasensprung und leichter Wehentätigkeit. Das zu diesem Zeitpunkt per Ultraschall ermittelte Schätzgewicht des Klägers lag bei etwa 4.000 g. Das durchgeführte CTG war unauffällig; die Fruchtblase war nach der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung noch intakt. Nach ärztlicher Anordnung sollte zunächst der spontane Geburtsverlauf abgewartet werden.

Nach 22.00 Uhr kam es zu einer vermehrten CTG-Auffälligkeit in Form von variablen Dezelerationen, weshalb ab 23.10 Uhr ein Wehentropf angeschlossen wurde. Gegen 1.05 Uhr am 30.09.1997 kam es zu einem spontanen Blasensprung mit Abgang von reichlich grünlich tingiertem Fruchtwasser. Um 5.45 Uhr war der Muttermund vollständig eröffnet; um 6.35 Uhr gab die Mutter des Klägers starken Pressdrang an; der kindliche Kopf stand zu diesem Zeitpunkt einen Querfinger über Beckenboden. Nach Anlage einer mediolateralen Episiotomie wurde der kindliche Kopf um 6.38 Uhr aus erster vorderer Hinterhauptslage geboren. Die kindlichen Schultern folgten nicht spontan; es wurde eine Schulterdystokie (hoher Schultergradstand) diagnostiziert. Dem sofort benachrichtigten Beklagten zu 3) gelang es, die verkeilte Schulter zu lösen, so dass um 6.44 Uhr ein makrosomes, etwas übertragenes männliches Neugeborenes entwickelt werden konnte. Der Kläger wog bei seiner Geburt 4.870 g bei einer Länge von 56 cm und einem Kopfumfang von 36 cm. Er wurde primär intubiert und nach 25 Minuten von den eintreffenden Pädiatern übernommen.

Direkt nach der Geburt fiel auf, dass der Kläger zwar die rechte Hand bewegte, der rechte Arm aber nicht gehoben werden konnte. Es wurde eine Erb'sche Plexusparese diagnostiziert, die zunächst mit Krankengymnastik und entlastender Lagerung behandelt wurde. Im November 1997 erfolgte eine Vorstellung des Klägers in der Neuropädiatrie der Universitätskinderklinik Aachen, bei der eine verbesserte Beweglichkeit der Hand und der Schulter festgestellt werden konnte, ohne dass jedoch eine ausreichende spätere Funktionalität des Arms gegeben war. Ausweislich eines Berichts des Kinderarztes Dr. R. an die Haftpflichtversicherung der Beklagten vom 09.10.2000 konnte der Kläger zu diesem Zeitpunkt aufgrund der fortbestehenden oberen Plexusparese den rechten Arm nur eingeschränkt benutzen; eine völlig Wiederherstellung war danach nicht zu erwarten.

Der Kläger hat den Beklagten - gestützt auf einen Bescheid der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler - vorgeworfen, seine Mutter nicht über die Alternative der Kaiserschnittentbindung aufgeklärt zu haben. Er hat behauptet, angesichts der bei seiner Mutter vorliegenden Risikofaktoren sei die Sectio als ernsthafte Behandlungsalternative in Betracht gekommen, so dass eine entsprechende Aufklärung hätte erfolgen müssen. Da bei der Aufnahme der Toraxdurchmesser den biparietalen Durchmesser überstiegen habe, hätten Hinweiszeichen auf eine fetale Makrosomie vorgelegen. Aufgrund der Messungenauigkeit der Ultraschalluntersuchung hätten die Ärzte hier mit einem Geburtsgewicht von 4.400 g rechnen müssen. Unter Berücksichtigung der Adipositas seiner Mutter und der Tatsache, dass diese bereits ein über 4.000 g schweres makrosomes Kind geboren habe, sei das Risiko einer Schulterdystokie auf 10 % gestiegen. Dies hätte zwingend die Unterrichtung der Mutter über eine Schnittentbindung zur Folge haben müssen. Wenn seine Mutter ordnungsgemäß aufgeklärt worden wäre, hätte sie die risikoärmere Entbindung des Kindes durch Kaiserschnitt gewählt. Dann wäre der Schaden bei ihm, dem Kläger, vermieden worden. Noch heute liege ein schwerer Dauerschaden vor, was mindestens ein Schmerzensgeld von € 30.000 erfordere.

Die Beklagten sind dem entgegengetreten und haben behauptet, jedenfalls im Jahre 1997 habe eine entsprechende Verpflichtung zur Aufklärung über die Möglichkeit eines Kaiserschnitts nicht bestanden. Allein das geschätzte Geburtsgewicht habe zu einer solchen Aufklärung keinen Anlass gegeben, zumal die Mutter des Klägers bereits 1982 problemlos von einem makrosomen Kind entbunden worden sei. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte ein solches Gespräch auch keine Änderung des weiteren Vorgehens ergeben. Die Mutter des Klägers hätte sich vielmehr bei Darstellung auch der Risiken des Kaiserschnitts für einen natürlichen Geburtsverlauf entschieden.

Das Landgericht hat ein schriftliches Gutachten nebst Ergänzungsgutachten des Chefarztes der Frauenklinik des Krankenhauses K.-H., Prof. Dr. W., eingeholt und sodann die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, einer Aufklärung der Mutter des Klägers über die Möglichkeit einer Sectio habe es nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht bedurft. Das tatsächliche Gewicht des Klägers und seine Größe habe man nicht vorhersehen können. Allein das geschätzte Gewicht reiche für sich genommen nicht aus, um eine medizinische Indikation für eine Schnittentbindung und damit die Notwendigkeit einer Aufklärung über diese Möglichkeit zu begründen; hierzu bedürfe es des Hinzutretens weiterer Risikofaktoren, die im vorliegenden Fall indes nicht gegeben seien. Die anderslautende Stellungnahme der Gutachterkommission vermöge die Ausführungen des Sachverständigen Prof. W. nicht zu erschüttern, da auch die Kommission nicht von einer medizinischen Indikation für die Durchführung einer Sectio ausgegangen sei. Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien wird auf die angefochtene Entscheidung des Landgerichts Bezug genommen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein erstinstanzliches Begehren weiter verfolgt. Er meint, das Landgericht habe sich fehlerhaft mit dem medizinischen Sachverhalt nicht hinreichend auseinandergesetzt, relevante gutachterliche Feststellungen nicht richtig und teilweise gar nicht bewertet und sei den Widersprüchen in dem Gerichtsgutachten und zwischen diesem und dem Bescheid der Gutachterkommission nicht hinreichend nachgegangen. Außerdem habe es die Anforderungen der Rechtsprechung zur Aufklärungsrüge bei makrosomem Kind verkannt bzw. falsch angewendet. Der entscheidende Fehler der Beklagten liege darin, dass aus der Diskrepanz zwischen dem biparietalen Durchmesser und dem Thoraxquerdurchmesser, wie er sich bei den letzten Untersuchungen am 20.09. und 29.09.1997 dargestellt habe, keine Konsequenz gezogen worden sei. Bereits die Risikokonstellation mit einem Geburtsgewicht von 4.500 g reiche für ein Aufklärungserfordernis aus. Auch die Gewichtszunahme der Mutter von 18 kg sei hochverdächtig auf ein sehr großes Kind gewesen. Den Beklagten sei darüber hinaus vorzuwerfen, dass sie trotz des Verdachts auf eine diabetische Stoffwechsellage der Mutter einen Glukosetoleranztest nicht durchgeführt hätten, der mit mehr als einiger Wahrscheinlichkeit eine diabetische Stoffwechsellage gezeigt hätte. Die - zumal lange zurückliegende - Geburt eines großen Kindes habe nicht die Annahme gerechtfertigt, dass auch ein weiteres Kind, das stark makrosom ist, problemlos geboren werde; faktisch sei aufgrund des vergangenen Zeitraums bei der Mutter des Klägers von einer funktionell Erstgebärenden auszugehen gewesen.

Der Kläger beantragt,

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe mindestens € 30.000 betragen sollte und im übrigen in das Ermessen des Gerichts gestellt werde, nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 30.09.1997 zu zahlen, hilfsweise 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit Rechtshängigkeit;

2. festzustellen, dass die Beklagten ihm als Gesamtschuldner verpflichtet seien, den vergangenen und zukünftigen materiellen Schaden sowie zukünftigen immateriellen Schaden aus dem Schadensereignis vom 30.09.1997 zu ersetzen, soweit solche Ansprüche nicht aufgrund sachlicher und zeitlicher Kongruenz auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen seien oder noch übergehen werden.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung und meinen, allein das geschätzte Geburtsgewicht über 4.000 g begründe ohne Hinzutreten weiterer Risikofaktoren nicht die Indikation für einen Kaiserschnitt und damit eine entsprechende Aufklärung. Gerade weil es immer auf das Missverhältnis zwischen Größe des Kindes und Durchmesser des Geburtskanals ankomme, zeige die vorangegangene Geburt eines großen Kindes, dass ein ausreichend weiter Geburtskanal zur Verfügung gestanden habe.

Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines mündlichen Sachverständigengutachtens des Leiters der Frauenklinik und Hebammenschule des Klinikums A., Prof. Dr. T.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Berichterstattervermerks vom 05.12.2007 (Bl. 431 ff. GA) verwiesen.

II.

Die zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg. Dem Kläger stehen wegen der bei seiner Geburt erlittenen Erb'schen Parese Ersatzansprüche weder gegen die Beklagte zu 1) (§§ 823 Abs. 1, 831 Abs. 1 BGB i.V.m. § 847 BGB [a.F.], Grundsätze der positiven Vertragsverletzung [pVV]) noch gegen die Beklagten zu 2) und 3) (§§ 823 Abs. 1, 847 Abs. 1 BGB [a.F.]) zu.

1.

Eine Haftung der Beklagten zu 2) und 3) scheidet von vorneherein aus, denn schon nach dem eigenen Sachvortrag des Klägers kommt eine Aufklärungspflichtverletzung - um die es hier allein geht - durch sie nicht in Betracht. Dass der Beklagte zu 2) (Chefarzt) überhaupt mit dem Geburtsvorgang befasst war, ist von dem Kläger nicht vorgetragen worden. Der Beklagte zu 3) war mit der Behandlung der Patientin erst befasst, als die Schulterdystokie bereits festgestellt worden war. Fehler des Beklagten zu 3) beim Lösen der Schulterdystokie stehen nicht in Rede.

2.

Die Beklagte zu 1) haftet ebenfalls nicht für die vom Kläger erlittene Schädigung. Die vaginale Geburt war nicht mangels wirksamer Einwilligung rechtswidrig, weil die Möglichkeit einer Schnittentbindung mit der Mutter des Klägers nicht besprochen werden musste.

Die Entscheidung über das ärztliche Vorgehen ist primär Sache des Arztes selbst. Der geburtsleitende Arzt braucht daher in einer normalen Entbindungssituation ohne besondere Veranlassung nicht etwa von sich aus die Möglichkeit einer Schnittentbindung zur Sprache zu bringen (BGH, NJW 1989, 1538, 1539). Nach der Rechtsprechung des BGH muss über die Möglichkeit einer Schnittentbindung nur aufgeklärt werden, wenn sie aus medizinischer Sicht indiziert ist, weil für den Fall, dass die Geburt vaginal erfolgt, ernstzunehmende Gefahren für das Kind drohen und daher im Interesse des Kindes gewichtige Gründe für eine Schnittentbindung sprechen, wobei diese auch unter Berücksichtigung der Konstitution und Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellen muss (BGH, NJW 2004, 1452, 1454). Ein solcher Fall lag bei dem Kläger nach dem Ergebnis der vom Landgericht begonnenen und vom Senat fortgesetzten Beweisaufnahme nicht vor:

a)

Aufgrund der vor der Geburt vorhandenen Datenlage musste nicht ernsthaft mit einer Schädigung des Klägers infolge einer Schulterdystokie gerechnet werden. Der Sachverständige Prof. Dr. T., der als Leiter einer Frauenklinik über umfassende praktische und wissenschaftliche Kenntnisse zur Beurteilung des streitgegenständlichen Sachverhalts verfügt und der dem Senat aus anderen Rechtsstreitigkeiten als besonders kompetenter Gutachter auf dem Gebiet der Geburtshilfe bekannt ist, hat dargelegt, dass in der Literatur zwar viele Angaben über die disponierenden Faktoren einer Schulterdystokie existieren, dass aber nur zwei Faktoren Gegenstand von Untersuchungen mit klinisch-wissenschaftlichem Wert gewesen sind, nämlich ein zu erwartendes Kindsgewicht über 4.500 g und der mütterliche Diabetes mellitus oder die verminderte Glukosetoleranz in der Schwangerschaft. Beide Faktoren ließen beim Kläger aus der maßgeblichen Sicht ex ante - also im Zeitpunkt der Geburt - Probleme bei der Schulterentwicklung nicht erwarten.

aa)

Das tatsächliche Geburtsgewicht des Klägers von über 4.800 g war für die behandelnden Ärzte aufgrund der durchgeführten Untersuchungen nicht vorherzusehen. Prof. Dr. T. hat betont, dass für die Frage, ob eine Aufklärung über die Sectio zur Vermeidung der Plexusparese oder der schulterdystokieassoziierten Asphyxie erforderlich ist, in erster Linie auf ein sorgfältig ermitteltes Schätzgewicht abgehoben werden muss. Dieses lag hier aufgrund der am Aufnahmetag durchgeführten Ultraschalluntersuchung bei 4.000 g, so dass von daher kein Anlass bestand, eine kindliche Makrosomie mit einem Gewicht über 4.500 g zu erwarten. Der Sachverständige hat keine Anhaltspunkte dafür gefunden, dass die der Gewichtsschätzung zugrunde liegenden Messwerte (biparietaler Durchmesser [BIP] und Thoraxquerdurchmesser [THQ]) nicht zutreffend ermittelt worden sind. Der Umstand, dass hinsichtlich des THQ am 29.09. drei verschiedene Messwerte ermittelt worden sind, aus denen ein Mittelwert gebildet wurde, lässt nicht den Schluss zu, dass die Messung fehlerhaft erfolgt ist. Dies beruht nach der Darstellung des Sachverständigen vielmehr darauf, dass der Thoraxquerdurchmesser kein statisches Maß ist, sondern von der Haltung und Position des Kindes abhängt sowie von dem Winkel, in dem der Schall auf den Thorax trifft. Wegen der sich daraus ergebenden Unsicherheiten legt man heute der Gewichtsschätzung eher den abdominalen Umfang als den THQ zugrunde. Das war aber, wie Prof. Dr. T. ausgeführt hat, 1997 nicht zu fordern. Der Sachverständige hat vielmehr darauf hingewiesen, dass im Jahre 1997 der THQ trotz der bekannter Maßen problematischen Zuverlässigkeit im Sinne der Gewichtsalgorithmen durchaus noch ein relevantes und allgemein akzeptiertes Maß zur Ermittlung des Kindsgewichts war. Dementsprechend waren die ermittelten Werte bezogen auf das Jahr 1997 das Beste, was man zur Gewichtsermittlung getan hat und auch regelhaft hat tun müssen. Auch der vom Landgericht hinzugezogene Sachverständige Prof. Dr. W. und der für die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler tätig gewordene Prof. Dr. S. haben die Gewichtsschätzung nicht beanstandet.

Der Hinweis des Klägers darauf, dass das tatsächliche Gewicht von dem Schätzgewicht abweichen kann, führt zu keiner anderen Beurteilung. Wie Prof. Dr. T. erläutert hat, waren und sind die Probleme der Gewichtsschätzung anhand der Ultraschalldaten durchaus bekannt und es gibt unterschiedliche Angaben, wonach die Abweichung vom Schätzgewicht bei besonders großen und bei besonders kleinen Kindern gut 10 - 20 % nach oben oder unten betragen kann. Dementsprechend legt auch die Gutachterkommission ihrem Bescheid die Möglichkeit zugrunde, dass wegen der Messungenauigkeit mit einem über 4.000 g schweren Kind zu rechnen und deshalb das Schulterdystokierisiko auf 10 % gestiegen war. Dem sind aber sowohl Prof. Dr. T. als auch Prof. Dr. W. mit überzeugenden Gründen entgegengetreten. Beide haben darauf hingewiesen, dass es nicht statthaft ist, bei der Gewichtsschätzung die möglichen Abweichungen von vorneherein mit zu berücksichtigen, da die Abweichung ebenso nach unten wie nach oben bestehen kann und dadurch die Zahl der unnötigen Schnittentbindungen mit sämtlichen damit verbundenen Operationsrisiken in einer nicht mehr akzeptablen Weise erhöht würde, weil man in Kauf nehmen würde, Schnittentbindungen auch bei einem Gewicht von 3.600 g oder darunter durchzuführen. Ohne weitere Anhaltspunkte war hier deshalb nicht von einem makrosomen Kind auszugehen.

Auch die Diskrepanz zwischen dem biparietalen Durchmesser und dem Thoraxquerdurchmesser, die unter Zugrundelegung der errechneten Mittelwerte am 29.09.1997 bei 9 mm lag (bei der ersten Messung: 7,8 mm; bei der zweiten Messung: 13,6 mm), gab keinen Anlass, mit der Mutter des Klägers über eine Schnittentbindung zu sprechen. Soweit die Gutachterkommission hierin ein Hinweiszeichen auf eine fetale Makrosomie gesehen hat, trifft dies nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zu. Wie Prof. Dr. T. dargelegt hat, ist der Thoraxquerdurchmesser aufgrund der Unwägbarkeiten bei der Messung kein verlässliches prädiktives Maß für das Eintreten einer Schulterdystokie, weil keine geeigneten Untersuchungen existieren, nach denen bei einer bestimmten Diskrepanz mit dem Eintritt einer Schulterdystokie gerechnet werden muss.

Bestätigt wird diese Aussage durch die von den Beklagten mit der Berufungserwiderung als Anlage 1 vorgelegte Zusammenfassung einer Arbeit von Hitschold, Scharlau und Knob aus dem Jahre 2006 (Bl. 397 GA). Danach besteht zwar retrospektiv (aufgrund einer Untersuchung in einem kleinen Kollektiv von 52 Geburten mit Schulterdystokie) ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen der Biometrie und dem geburtshilflichen Verlauf, d.h. wenn es zu einer Schulterdystokie kommt, ist bei einer BIP-Thorax-Diskrepanz die Kindsentwicklung erschwert und es kommt eher zu Komplikationen; die Autoren weisen jedoch darauf hin, dass sich dieser Zusammenhang im prospektiven Ansatz nicht ohne weiteres nachvollziehen lässt, so dass momentan - und erst recht im Jahre 1997 - die präpartal festgestellte BIP-Thorax-Diskrepanz nicht geeignet ist, mit ausreichender Sicherheit eine spätere geburtsmechanische Komplikation vorauszusagen. Auch der Umstand, auf den der Kläger in seiner Stellungnahme zu dem Berichterstattervermerk hingewiesen hat, dass die Diskrepanz am 20.09.1997 mit 17,1 mm besonders groß gewesen ist, führt zu keiner anderen Beurteilung. Eine besonders große BIP-Thorax-Diskrepanz kann nach Prof. Dr. T. zwar zusammen mit anderen Faktoren den Ausschlag dafür geben, eine Schnittenbindung als Alternative ernsthaft in Betracht zu ziehen. Solche zusätzlichen Faktoren lagen hier jedoch gerade nicht vor. Hinzu kommt, dass die Diskrepanz bei der weiteren Messung am 29.09.1997 keineswegs mehr so eindeutig war, wie bei der vorherigen Messung. Auch Prof. Dr. W. und Prof. Dr. S. haben im Übrigen aufgrund der Diskrepanz zwischen BIP und THQ keinen Anlass gesehen, eine Aufklärung der Mutter über die Möglichkeit der Schnittentbindung zu fordern.

bb)

Rückschauend muss - wie sich aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. T. ergibt - allerdings davon ausgegangen werden, dass bei der Mutter des Klägers ein Gestationsdiabetes vorlag, was nach Aussage des Sachverständigen nicht nur ein disponierender Faktor für die Makrosomie des Kindes, sondern ein unabhängiger Risikofaktor für das Eintreten einer Schulterdystokie ist und deshalb Anlass hätte sein müssen, die Schnittentbindung als Alternative in Betracht zu ziehen. Das Vorliegen eines Gestationsdiabetes war indessen vor der Geburt nicht bekannt, ohne dass dies auf einem vorwerfbaren Versäumnis der Ärzte der Beklagten zu 1) beruht. Zwar hat der für die Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler tätig gewordene Gutachter Prof. Dr. S. erklärt, die Gewichtszunahme der Mutter von 17 kg während der Schwangerschaft und das makrosome Kind von 4.500 g in der Anamnese hätten Anlass für ein Diabetes-Screening sein sollen. Prof. Dr. T. hat jedoch darauf hingewiesen, dass Leitlinien, die ein Diabetes-Screening in der Schwangerschaft empfehlen, im deutschsprachigen Raum erst 2001 erschienen sind und davor mehr oder weniger die Praxis geübt wurde, bei Nachweis von Glukoseausscheidungen im Urin weitere Untersuchungen vorzunehmen. Darüber hinaus sehen die Mutterschaftsvorsorgerichtlinien - worauf auch schon Prof. Dr. W. hingewiesen hat - bis heute kein Diabetes-Screening vor. Vor diesem Hintergrund kann das Unterlassen eines Diabetes-Screenings nicht als Verstoß gegen den ärztlichen Standard im Jahre 1997 angesehen werden.

Es bestand auch bis zur stationären Aufnahme am 29.09.1997 - zu diesem Zeitpunkt kam die Durchführung eines Glukosetoleranztests ohnehin nicht mehr in Betracht - kein konkreter Anlass, bei der Mutter des Klägers eine Untersuchung auf Diabetes vorzunehmen. Die ambulanten Vorstellungen am 12.08. und 20.09.1997 erfolgten nicht unter der Fragestellung von Stoffwechselrisiken, sondern wegen Oberbauchbeschwerden bzw. zunehmender Atembeschwerden bei bekanntem Asthma bronchiale. Entgegen der Darstellung des Klägers lagen auch - abgesehen von dem anamnestisch bekannten, 1982 mit einem Gewicht von 4.500 g geborenen Kind - keine Hinweise auf eine diabetische Stoffwechsellage vor. Was die Gewichtszunahme von 17 kg betrifft, hat schon Prof. Dr. W. in seinem erstinstanzlich erstatteten Ergänzungsgutachten darauf hingewiesen, dass dies noch als normal angesehen werden kann. Auch die BIP-Thorax-Diskrepanz am 20.09.1997 gab nach der sachverständigen Beurteilung von Prof. Dr. T. keinen Anlass, zu diesem Zeitpunkt ein Diabetes-Screening durchzuführen. Wenn aber kein Anlass für ein Diabetes-Screening bestand, ist den behandelnden Ärzten auch nicht vorzuwerfen, der Mutter des Klägers nicht eine entsprechende Untersuchung vorgeschlagen zu haben; nach Prof. Dr. T. gehörten weitergehende Untersuchungen 1997 nur beim Nachweis von Glukoseausscheidungen im Urin zum ärztlichen Standard. Der Sachverständige hat im Übrigen klar zum Ausdruck gebracht, dass er selbst im Jahre 1997 weder einen Glukosetoleranztest hätte durchführen lassen, noch Anlass gesehen hätte, die Alternative der Schnittentbindung mit der Mutter des Klägers zu besprechen.

b)

Danach kann nicht festgestellt werden, dass aus der maßgeblichen Sicht ex ante Umstände vorlagen, bei denen die Schnittentbindung ernsthaft als Alternative zu der angestrebten vaginalen Entbindung in Betracht hätte gezogen werden müssen. Der Senat sieht keinen Anlass, ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen. Die Begutachtung durch den Sachverständigen Prof. Dr. T. ist nachvollziehbar und überzeugend. Sie steht auch in Übereinstimmung mit der Beurteilung der bislang bereits mit dem Fall des Klägers befassten Gutachter Prof. Dr. W. und Prof. Dr. S.. Dass der Sachverständige lediglich ein mündliches Gutachten erstattet hat, verkürzt die Rechte des Klägers nicht. Über die Begutachtung ist ein ausführlicher Berichterstattervermerk angefertigt worden, zu dem die Parteien Gelegenheit hatten, Stellung zu nehmen. Insofern ist die Situation keine andere, als nach einem schriftlichen Gutachten.

Der Sachverständige Prof. Dr. T. ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen. Entscheidend ist nach der Rechtsprechung des BGH, ob dem Kind ernstzunehmende Gefahren drohen und deshalb gewichtige Gründe für eine Schnittentbindung sprechen. Dabei kann nicht unberücksichtigt bleiben, wie wahrscheinlich das Eintreten einer Schädigung des Kindes ist. Denn die Gefahr ist, worauf Prof. Dr. T. in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hingewiesen hat, nicht die Schulterdystokie als solche; diese bezeichnet nur einen gestörten Geburtsverlauf, bei dem die Schultern und damit der Körper des Kindes feststecken. Gefährlich sind vielmehr die möglichen Folgen für das Kind, nämlich eine Asphyxie oder eine bleibende Plexusparese, die aber - wenn die Schulterdystokie korrekt gelöst wird - in weniger als 10 % der Fälle auftreten (die Gutachterkommission geht in ihrem Bescheid davon aus, dass es sogar nur in 2 - 3 % der Fälle zu einer Nervenschädigung kommt). Dementsprechend heißt es auch in den aktuellen Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) zur Schulterdystokie (AWMF-Leitlinie Nr. 015/024) ausdrücklich, bei der Frage der Aufklärung sei "nicht so sehr auf die Schulterdystokie als solche abzustellen, sondern vielmehr auf deren Folgen, insbesondere auf die kindliche Plexusparese, die das eigentliche zu vermeidende Risiko" darstelle. Danach sprachen im Fall des Klägers keine gewichtigen Gründe für eine Schnittentbindung, denn bei einem Geburtsgewicht von 4.000 g liegt die Inzidenz der Schulterdystokie bei 1,7 % (so Prof. Dr. S. in seinem Gutachten für die Gutachterkommission), somit das Risiko einer Schädigung des Kindes unter 0,17 % (nach dem Bescheid der Gutachterkommission 0,03 - 0,05 %); es handelt sich damit um ein sehr seltenes Risiko, das, wie der Sachverständige Prof. Dr. T. bestätigt hat, im Grunde völlig fern lag und keinen Anlass gab, eine Schnittentbindung mit den damit verbundenen Risiken für die Mutter in Betracht zu ziehen. Auch Prof. Dr. W. und Prof. Dr. S. haben dies so gesehen. Der abweichende Bescheid der Gutachterkommission geht nicht nur - wie bereits dargelegt - von unzutreffenden Voraussetzungen aus, sondern berücksichtigt auch nicht, dass nach der Rechtsprechung des BGH der Arzt die Mutter nicht über die Möglichkeit einer Schnittentbindung mit deren Risiken für Mutter und Kind aufklären muss, wenn sie medizinisch nicht indiziert ist (BGH, NJW 1993, 1524 1525). Eine medizinische Indikation für die Schnittentbindung hat die Kommission in ihrem Bescheid aber gerade nicht bejaht.

Eine Aufklärungspflicht lässt sich auch nicht mit dem Argument des Klägers begründen, der Arzt habe stets den sichersten Weg zu gehen und deshalb bis zum Ausschluss eines Risikos von einer Risikolage auszugehen. Entscheidend ist vielmehr, ob gewichtige Gründe für die Schnittentbindung sprechen. Denn auch die Schnittentbindung ist kein risikoloser Eingriff. Prof. Dr. T. hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die mütterlichen Risiken der Schnittentbindung umso bedenkenswerter sind, je niedriger man die Voraussetzungen für eine präventive Schnittentbindung ansetzt. Der Hinweis des Sachverständigen auf die mütterliche Mortalitätsrate ist entgegen der Auffassung des Klägers nicht unberücksichtigt zu lassen. Der Tod der Mutter bei der Sectio ist sicher heutzutage ein sehr seltenes Ereignis, aber das trifft auf die Schädigung des Kindes als Folge der Schulterdystokie ebenfalls zu. Der Sachverständige hat anschaulich geschildert, dass es Berechnungen gibt, wonach auf (lediglich) drei vermiedene Plexusparesen ein mütterlicher Todesfall kommt. Wenn man sich das vor Augen hält, dann leuchtet ein, dass nicht jedes denkbare, fern liegende Risiko einer schulderdystokiebedingten Schädigung des Kindes bereits dazu führen kann, dass die Schnittentbindung eine medizinisch verantwortbare Alternative zur vaginalen Geburt ist, die mit der Mutter besprochen werden muss.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revisionszulassung ist nicht veranlasst.

Die Beschwer des Klägers liegt über € 20.000.

Streitwert: (bis zu) € 35.000.

Ende der Entscheidung

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